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Immer aufwärts, immer voran

Ossietzky Nr.1 2005 ist erschienen

Von Eckart Spoo

Es geht aufwärts. Die Zahl der Passagiere im Luftverkehr (Abflüge von deutschen Flughäfen) ist in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 50 Prozent gestiegen. Dem jüngsten Waldschadensbericht zufolge – mit dem Bundesumweltminister Jürgen Trittin nicht vor die Kameras getreten ist – sind jetzt 31 Prozent der Bäume in Deutschland stark geschädigt, um acht Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Nur 28 Prozent sind noch ohne sichtbare Schäden. Mit den Abgasmengen erhöht sich die Lufttemperatur; die dadurch verursachten Klimakatastrophen treffen vor allem die armen Länder im Süden, die immer ärmer werden – auch wenn bei ihnen noch so viel Öl gefunden und gefördert wird, denn darauf erheben Konzerne aus dem Norden energisch Anspruch. Die Auslandsschulden der zweiten, dritten, vierten Welt haben sich innerhalb von 25 Jahren vervierfacht. Fast jedes zweite Kind weltweit lebt jetzt in Armut. In Deutschland ist innerhalb von zehn Jahren der Anteil der armen Kinder von vier auf neun Prozent gestiegen. Es geht aufwärts.

Thyssen-Krupp hat im Geschäftsjahr 2004 gegenüber dem Vorjahr den Umsatz von 35.3 auf 39,3 Milliarden Euro erhöht – ohne dafür mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Der Gewinn stieg von 774 Millionen auf 1,58 Milliarden Euro. Darauf kann, wer mag, stolz sein. Oder auch auf den Anstieg der Rüstungsexporte, zu denen Thyssen-Krupp beiträgt – mit Hilfe des Kanzlers soll dafür auch der chinesische Markt erschlossen werden. Oder auf die systematische politische und wirtschaftliche Eroberung solcher Länder wie Kroatien: Die dortige Telekom gehört jetzt der deutschen Telekom, die dortige Presse gehört mit wenigen Ausnahmen dem Essener WAZ-Konzern des Kanzler-Freundes Bodo Hombach, der auch die Medien in Makedonien, Bulgarien, Rumänien beherrscht und die einflußreichste serbische Zeitung in deutschen Besitz gebracht hat.

Die Bäume werden kränker, aber wir Deutschen werden immer gesünder. 1980 betrug der Krankenstand (die durchschnittliche krankheitsbedingte Abwesenheit von Beschäftigten in den Betrieben) 5,7 Prozent. 1990 waren es 5,2 Prozent, 2000 nur noch 4,2 Prozent, und 2004 fiel diese Quote gar auf 3,4 Prozent. Immer weniger Menschen fahren in Kur. Die sie beschäftigenden Un-ternehmen – anders als die Kurorte, die Kliniken dort, die Cafés, die Läden, die dort Beschäftigten – betrachten das als einen erfreulichen Trend. Man kann alles von zwei Seiten sehen. Die Schulden der einen sind die Besitztitel der anderen (der Banken). Die Enteignung der Allgemeinheit wird von den Profiteuren der Privatisierung als gesellschaftlicher Fortschritt verstanden. Größere Klassen in den Schulen erfordern weniger Lehrer, so saniert man öffentliche Haushalte. Die DDR hatte ein Netz von fast 17 000 öffentlichen Bibliotheken. Jetzt bestehen laut Bundesverband Information Bibliothek (BIB) im gesamten Bundesgebiet noch etwa 10 000, und weiterhin wird durchschnittlich an jedem Tag eine Bibliothek geschlossen. Insofern werden auch die öffentlichen Haushalte immer gesünder.

Mit solchen langfristigen Trends befassen sich die Autoren dieses Heftes. Ei-nige denken die offenkundigen Trends einfach einige Jahre weiter – bis 2010 etwa oder bis 2020. Das Prognostizieren fällt nicht schwer, wenn hinter den Trends mächtige Interessen stehen und Gegenkräfte nicht zu erkennen sind. Also wird der Kulturabbau weitergehen wie der Sozialabbau und der Demokratieab-bau und der Grundrechtsabbau und die Militarisierung der Politik (von „Enttabuisierung des Militärischen“ spricht stolz der Kanzler). Das Kapital wird sich weiter zentralisieren, der Mensch wird an Wert verlieren, der Reichtum, der in ihm steckt, wird mangels (Allgemein- und Berufs-)Bildung verkümmern, die Monopolmedien werden ihn immer noch blöder machen. Nachdem der Reallohn weltweit seit 1980 um zehn Prozent gesunken ist, wird sich dieser Trend vermutlich noch beschleunigen (weniger Beschäftigung, mehr unbezahlte Arbeit), die Kaufkraft wird sinken, und der wirtschaftliche Aufschwung wird weiter auf sich warten lassen.

Neben den in diesem Heft beschriebenen Trends wären gewiß viele andere zu erwähnen, die uns beunruhigen müssen: die systematische Abwicklung des Antifaschismus, die Vergrößerung Europas weit nach Asien, das Knapper-werden des Wassers, die Zersiedlung der Landschaft und die immer mehr e-mails, die ich bekomme und gar nicht mehr alle lesen kann. Der Trend aber, der mich am meisten beunruhigt, ist die Gewöhnung an den Irrsinn.

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A.S.H. | 19.01.05 08:36 | Permalink