« Drang nach osten - Axel Springer expandiert | Hauptseite | Immer aufwärts, immer voran »

Brasilien: Tourismusboom und Krieg in den Slums

"Ausländer merken nichts von den Gefechten"
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
In Brasilien ist derzeit Hochsommer, Hauptferienzeit - und das Land freut sich über einen regelrechten Tourismusboom - nie zuvor so viele Charterflüge aus dem Ausland, so viele Kreuzfahrtschiffe - und so viele Deutsche, Skandinavier an der Copacabana. Die Hotels sind erstmals schon seit Oktober, November vollbelegt. Wegen der Naturkatastrophe in Südostasien rechnet die Branche damit, 2005 weit höhere Wachstumsraten zu erreichen, als ursprünglich angepeilt. Hoteliers, Restaurantbesitzer, Reiseleiter, Taxifahrer, Andenkenverkäufer Rio de Janeiros frohlocken - und freuen sich im Stillen, daß den allermeisten Touristen schlichtweg entgeht, gar nicht auffällt, in einer der gewaltgeprägtesten Städte der Welt Urlaub zu machen. In einem Land mit mehr Gewalttoten als im Irakkrieg, neofeudaler Banditendiktatur in den Slums.

Die Leuchtspurmunition nächtlicher Feuergefechte zwischen rivalisierenden Banditenmilizen Rio de Janeiros wird allen Ernstes für Freudenfeuerwerk angesichts des herannahenden Karnevals gehalten.
Ein Januarnachmittag mit idealem Badewetter an der Copacabana – Hunderttausende bevölkern den breiten Strand, werfen sich in die Fluten, plaudern, flirten, erholen sich vom Alltagsstreß. Doch plötzlich Schüsse vom nahen Hangslum Chapeu Mangueira, immer wieder Salven aus Maschinenpistolen, ein Feuergefecht bricht los, Tote, Verwundete. Sofort Panik, Tumult am Strand, alles flüchtet aus der Gefahrenzone. In Gruppen agierende Kriminelle nutzen das Durcheinander, um zahllose Badegäste zu berauben.
„Eine rivalisierende Banditenmiliz wollte den Slum erobern, hat den Boß der lokalen Gangstermiliz erschossen und den Drogenumschlagplatz angegriffen“, erläutert ein Anwohner. „Deshalb kam es zu dem Gefecht und der ganzen Panik am Strand. Viele Badegäste dachten zuerst, am Strand selber würde geschossen. Der Slum wird vom Comando Vermelho, dem stärksten Verbrechersyndikat Brasiliens, beherrscht – wegen der angrenzenden Stadtteile Copacabana und Leme ist der Rauschgiftumsatz exzellent – deshalb hat das zweitstärkste Syndikat, das Terceiro Comando angegriffen, es aber bei der ersten Attacke nicht geschafft, die Macht zu übernehmen. Und deshalb wird es jetzt immer neue Angriffe, neue Gefechte geben.“
Am Morgen danach scheint die Situation in Copacabana und Leme auf den ersten Blick völlig normal, pulsierendes Leben wie immer, flanierende Touristen – an die zweihunderttausend sind es derzeit in Rio. Die Militärpolizei hat den Hangslum vorläufig eingekreist, Scharfschützen postiert. „Die Lage ist ganz mies da oben, sehr gespannt“, sagen zwei Beamte, die an einer Straßenbar einen Kaffee trinken. „Aber wer nicht weiß, was hier tatsächlich abläuft, sieht nichts, bemerkt nichts, spürt nichts davon.“
Direkt vorm Hangslum dreht ein brasilianisch-japanisches Kamerateam Filmszenen – die Schauspieler, Techniker, Produzenten aus Japan wissen tatsächlich nichts von den Schießereien, spüren auch nicht die Spannung, die in der Luft liegt, die ganze surreale Situation. Die brasilianische Produzentin Maria Lucia Matos dagegen sehr wohl.
“Wie soll man jemandem von draußen diese eigenartige Koexistenz erklären – der Krieg in den Slums – und das ganz normale Leben der anderen Brasilianer, der ausländischen Touristen, Seite an Seite. Ein soziologisches Phänomen – in ein paar Jahren wirds darüber sicher Bücher geben. Soll man das hier vielleicht verrückter Tropicalismus nennen? Chaos, Banditengefechte – doch die Ausländer kriegen es gar nicht mit, der Tourismus wird nicht mal geschädigt, dem gehts derzeit direkt blendend, trotz dieser ganzen Gewalt. Ich glaube, das ist ein brasilianisches Phänomen, gehört zu unseren nationalen Verrücktheiten.“

„Terror am Strand, Panik, Schüsse und Tumult in Copacabana und Leme“ – lauten die Schlagzeilen der brasilianischen Zeitungen, wovon sprachunkundige Touristen gewöhnlich keinerlei Notiz nehmen. Und die brasilianischen Reiseleiter geben offen zu, ihre Kundschaft nicht zu informieren, auf die bohrenden Fragen nur weniger Touristen mit Ausflüchten zu reagieren, abzuwiegeln. Man will ja, daß die Leute wiederkommen – und gemäß neuen Umfragen wollen die allermeisten das tatsächlich, sind von der Zehn-Millionen-Stadt begeistert, nehmen wirklich nur die Schokoladenseite wahr, gehen mit dem Gewaltproblem kurioserweise ganz entspannt um - im Gegensatz zu den Einheimischen.
“Rio ist sehr schön, vor allem das Leben an der Copacabana, das Strandleben – da kenne ich nichts vergleichbares auf der Welt“, sagt eine Norddeutsche.
Direkt vor dem umkämpften Hangslum steht ein großes Hotel, doch von den heftigen Schießereien da oben, den stundenlangen Tumulten haben die Gäste aus den USA, Großbritannien, Südafrika und Italien nichts bemerkt.
“Eine Menge Leute sind hier vorbeigerannt, weil die Polizei eine Drogenrazzia gemacht hat“, erläutert einer. „Da sind halt alle abgehauen. Aber das ganze hat nur fünf Minuten gedauert, das ging alles sehr schnell.“

Klaus | 18.01.05 02:01 | Permalink