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Brasiliens Sozialbewegungen wenden sich frustriert von Lula ab

Indianerstämme Amazoniens: Wir fühlen uns verraten
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Die sozialen Bewegungen des Tropenlandes waren die stärkste Stütze des Ex-Gewerkschaftsführers Luis Inacio Lula da Silva im Präsidentschaftswahlkampf von 2002. Doch derzeit geschieht Erstaunliches - nach nur rund zwei Amtsjahren wenden sie sich enttäuscht von ihm ab, weil nahezu sämtliche Wahlversprechen nicht eingehalten werden.

Ende November berät Lulas Basis eine ganze Woche lang in der Hauptstadt Brasilia unweit des Präsidentenpalasts - an die zehntausend Vertreter aller Sozialbewegungen fiebern dem Treffen mit dem einstigen großen Hoffnungsträger entgegen, wollen mit ihm über die Regierungspolitik Tacheles reden. Und dann passiert, was niemand für möglich gehalten hätte – Lula sagt kurzfristig ab, kehrt seinen einstigen Unterstützern, Wahlhelfern den Rücken, will sich der Kritik nicht stellen. Pfiffe, Empörung auf der Konferenz – und danach im Regierungsviertel die bislang größten, machtvollsten Proteste gegen Lulas Politik. Der Unmut wird noch größer, als sich herausstellt, daß die Lula-Regierung die Sozialbewegungen ausspioniert, von der Polizei Informationen über Aktivitäten der Landlosenbewegung MST, der großen Gewerkschaften und Studentenorganisationen einholen ließ. Bischof Tomas Balduino, befreiungstheologisch orientierter Präsident der katholischen Bodenpastoral, bringt es in Brasilia auf den Punkt: Diese Konferenz der Sozialbewegungen symbolisiert einen Bruch – Lulas einstige Basis könnte jetzt zu dessen politischer Opposition werden. Die Lula-Regierung setze völlig falsche Prioritäten.
“Vorrang hat die Rückzahlung der Außenschulden, hat das neoliberale Wirtschaftsmodell, nicht aber der Sozialbereich, die Verteilung brachliegenden Bodens an die Landlosen. Unter Lula haben Gewaltakte der Großgrundbesitzer und ihrer Pistoleiros zugenommen, wurden alleine im ersten Amtsjahr 73 Landlose ermordet. Und bei solchen Verbrechen herrscht im Grunde Straffreiheit. Unvergessen ist das Blutbad von 1996 in Eldorado de Carajas, bei dem mindestens 19 Landlose ermordet wurden – der Prozeß zog sich jahrelang hin. Doch jetzt im November wurden schließlich nur die beiden befehlshabenden Offiziere der Militärpolizei-Sondereinheit vorläufig verurteilt, sämtliche 145 tatbeteiligten Soldaten und Unteroffiziere dagegen freigesprochen. Und erst vor wenigen Tagen gab es wieder ein Massaker an Landlosen, verübt von Pistoleiros der Großgrundbesitzer.“
Staatschef Lula hatte ursprünglich versprochen, an mindestens eine Million Familien Land zu verteilen, diese Zahl dann aber auf 355000 Familien reduziert. 2003 wurden indessen nur etwa dreißigtausend Landlosenfamilien angesiedelt, halb so viel wie geplant. Dieses Jahr die gleiche Situation, weil laut Balduino die entsprechenden Mittel gekürzt worden seien. Für ihn ist das „Zynismus“. Andererseits wird die industrielle Landwirtschaft, das sogenannte Agrobusiness, von der Regierung als wichtiger Devisenbringer nach Kräften gefördert. “Alle Sozialbewegungen wenden sich scharf dagegen, weil das Agrobusiness das Produktionsmodell der Kolonialzeit fortsetzt, durchweg exportorientiert ist. Bedient werden nur die Interessen des Großkapitals, des Auslands – die Interessen des eigenen Volkes zählen nicht. Dabei lebt ein beträchtlicher Teil der Brasilianer in Hunger und Elend. Das Agrobusiness macht arbeitslos, weil es große Maschinen nutzt, und ist gefräßig, will immer mehr Land, zerstört unsere Umwelt. Für Monokulturen wie Soja und Zuckerrohr werden unsere Savannen, der Amazonasurwald, die Atlantikwälder, das Pantanal irreparabel zerstört, der Boden vergiftet und ausgelaugt. Die Gewinne bleiben in der Hand ganz weniger – da wird nichts sozial verteilt. Aus Bodenkonzentration resultiert also Kapitalkonzentration.“
Doch auch in Deutschland meinen einige Naivlinge, eine Marktöffnung für brasilianische Agrarprodukte komme der Bevölkerung Brasiliens zugute, diene letztlich gar der Armutsbekämpfung.
Und auch Brasiliens Indianer werfen der Lula-Regierung ungehemmte Naturzerstörung zugunsten des Agrobusiness vor. In einem Protestmanifest vom November heißt es: „Nach fast zwei Amtsjahren Lulas fühlen wir uns verraten, weil Indianergebiete nicht demarkiert werden, wie in der Wahlkampagne versprochen.“ Unter der jetzigen Regierung habe die Gewalt gegen Indioführer, Siedlungen und Stämme erschreckend zugenommen. Großgrundbesitzer, Goldgräber, Bodenspekulanten und Holzfirmen spürten das Desinteresse Brasilias an einer Lösung der Indianerprobleme und drängen daher invasionsartig in die Stammesgebiete ein, um sie auszuplündern. „Man vernichtet unsere Wälder, die Artenvielfalt, vergiftet unsere Flüsse und Seen, zerstört unsere Kultur, tötet unsere Leute.“ Beklagenswert sei zudem, daß die Lula-Regierung bisher den Beziehungen zu den Oligarchien der Teilstaaten, den konservativen Politikern, Land-und Stadteliten sowie dem Finanzsektor Priorität gegeben habe.
Bischof Balduino von der Bodenpastoral kritisiert zudem, daß Brasilien heute der weltgrößte Fleischexporteur ist, obwohl es im Lande noch Hunger gibt. “Das ist ein großer Widerspruch – doch Brasilien wird eben seit über fünfhundert Jahren von der Elite regiert. Und diese Elite interessiert sich nicht für das Volk, für die sozial Ausgeschlossenen. Der geht es nur um die Geschäfte mit der Ersten Welt.“
Auffällig, wie in jüngster Zeit in Lateinamerikas größter bürgerlicher Demokratie die Diskussion über die Rolle der nationalen Elite wiederauflebt, der man geradezu grenzenlose Indifferenz, völlige Verantwortungslosigkeit angesichts der gravierenden Sozialprobleme vorwirft. Staatschef Lula, so heißt es, lasse sich von dieser Elite einwickeln, täuschen. Und der bekannte deutschstämmige Kardinal Evaristo Arns in Sao Paulo – bekannt wegen seines Kampfes gegen die Militärdiktatur, für die Menschenrechte - hält Lula vor, für das Präsidentenamt garnicht vorbereitet, präpariert gewesen zu sein. Also habe er alle Angelegenheiten an jene übergeben, die ihm geeignet erschienen. Doch diese hätten sich viele Male geirrt. Unter Lula bekomme der brasilianische Arbeiter einen Hungerlohn. Und jenes von Lula weltweit so vielgepriesene Anti-Hunger-Programm werde garnicht wie geplant verwirklicht. „Im Grunde“, so der Kardinal, „ist Brasilien heute ohne Regierung – Lula macht einen Fehler nach dem anderen.“
Gewaltakte gegen Indianer, Massaker an Landlosen, politische Gefangene der Landlosenbewegung, Sklavenarbeit, Folter als allgemeine Polizei-und Gefängnispraxis, neofeudale Diktatur des organisierten Verbrechens über Millionen von Slumbewohnern, – entsprechende Proteste der Menschenrechtsorganisationen. Doch interessanterweise ließ der grüne deutsche Außenminister Joseph Fischer auch bei seinem jüngsten Brasilienbesuch dazu kein Wort verlauten. Gemäß Länderbericht des Auswärtigen Amtes sind die deutsch-brasilianischen Beziehungen ausgezeichnet, gilt strategische Partnerschaft. Die dreizehnte Wirtschaftsnation Brasilien liegt auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung nur auf dem 72. Platz, in der Gruppe jener Länder mit mittlerem Entwicklungsniveau. Das vielkritisierte Kuba rangiert indessen auf Platz 52 - mit Deutschland, den USA, Argentinien und Chile in der Gruppe der Länder mit hohem Entwicklungsniveau.

Klaus | 30.11.04 01:32 | Permalink