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Wo bleibt das Positive?

Regierung, Zeitungen, Parteien – und solche, die es werden wollen – sie vermissen an den Montagsdemos alle das gleiche: die Ablehnung von Hartz IV ist nichts Positives, finden sie. Aber auch in der Protestbewegung ist der Drang da, sich nicht nur auf ein „Nein“ zu beschränken, sondern Perspektiven anzubieten. So kam der langatmige Titel der Demo am 2.Oktober zustande, wo vor Alternativen und Gerechtigkeit das eigentliche Ziel kaum noch auszumachen ist. Aber Ja sagen ist nicht immer etwas Positives. Im Gegenteil: Wer Nein sagen kann, muss weniger lügen. Heute ist ein mehrfaches Nein vonnöten.

Sebastian Gerhardt in der telegraph Sonderausgabe #03

Erstens ein Nein zu Hartz IV. Ein Widerstand gegen Beschränkung der eigenen und gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten ist eine sehr konstruktive Sache, viel positiver als Sozialraub und verschärfte Ausbeutung.

Zweitens ein Nein zu den Nazis. Die vielen, die sich heute von „den Politikern“ betrogen fühlen, sind immer noch bereit, ihre Angelegenheit von besseren Politikern verwalten zu lassen. Wer aber die eigene dienende Haltung nicht aufgibt, wird von seinen Herren immer wieder betrogen werden. Hier ist ein Einfallstor der Rechten, die für eine sichere und belohnte Gefolgschaft werben.

Drittens ein Nein zur Instrumentalisierung der Proteste durch die MLPD. Nicht die Trennung von diesem Verein ist der Grund für die Schwäche des Protestes. Auch da, wo es immer nur eine Demo gab, gehen die Teilnehmerzahlen zurück. Sondern die Schwäche des Protestes zeigt sich gerade daran, dass die unvermeidliche Trennung so spät erfolgt. Denn diese „Marxisten-Leninisten“ bilden eine bekennende stalinistische Sekte, die den Zusammenbruch des Sozialismus auf die Abkehr von Väterchen Stalins weiser Politik zurückführt. Kein Wunder, dass sie viel Mühe auf den Aufbau immer neuer Gruppen verwenden, hinter denen sie sich dann verstecken können – wieviele Leute demonstrieren schon gerne unter dem Banner eines Massenmörders. Selbst völlig isoliert kleben die MLPD-Genossen um Dieter Ilius um so mehr an der größeren Demonstration, weil sie allein nichts zustande bringen.

Das vierte Nein fällt am Schwersten. Es ist das zu den eigenen Illusionen, manchen Hoffnungen und Erwartungen. Es ist nicht so, dass alle Menschen „doch einsehen müssten“, dass Hartz IV weg muss. Kein Mensch muss müssen. Wir sollten unsere Freiheit nicht wegreden, sondern vernünftig und solidarisch einsetzen. Und wenn viele enttäuscht sind, so wird leicht vergessen, dass mit dem Wort Enttäuschung immer auch von einer Selbsttäuschung geredet wird, die wir hinter uns lassen können.

Wo bleibt das Positive? Auch der Abschied von Illusionen ist etwas sehr Positives. Vor allem aber haben die Demonstranten in den letzten Wochen eine Betroffenheit und Empörung gezeigt, die sich nicht einfach wieder zusammenfalten und wegpacken läßt. Auch unter dem öffentlichen Druck von Regierung, Presse und Unternehmern, ohne Bündnispartner auf nationaler Ebene – und trotz der Ermüdung und Perspektivlosigkeit haben sich die Demonstrationen über zwei Monate gehalten. Selbst wenn die kontinuierlichen Demos nun abbrechen werden – die Fragen nach einer menschenwürdigen Alternative zum täglichen Niedergang stehen ganz anders, weitaus entschiedener als vor dem Sommer. Es gehört zu den Aufgaben der vielfach geteilten Linken, nach realis­tischen Antworten zu suchen. Und realistisch ist nicht, was „im Rahmen der Verhältnisse“ heute möglich erscheint – wenn wir gemeinsam lernen, uns anders zu verhalten.

Sebastian Gerhardt
Haus der Demokratie und Menschenrechte

A.S.H. | 28.09.04 10:44 | Permalink