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Die Strafe für den Vereinigungsmythos

von Andreas Fanizadeh, Berlin

Nazis in den Parlamenten • Opferhaltung, Antikommunismus und Tabuisierung der DDR-Geschichte - das hat die Rechtsradikalen in Ostdeutschland stark gemacht. Dabei geht es weniger um «Protest» als um Anpassung.

Nach den Wahlen von Brandenburg und Sachsen waren die Psychologen gefragt. Erreichen die grossen Volksparteien CDU und SPD in den zwei ostdeutschen Ländern doch gerade noch um die fünfzig Prozent der Wählerstimmen. So viel pflegte bislang eine der beiden Grossparteien für sich alleine zu beanspruchen. In Sachsen liegen nun die Jung- und Alt-Nazis von der NPD mit 9,2 Prozent auf Augenhöhe mit den 9,8 Prozent der Kanzlerpartei SPD. In Brandenburg zog die rechtsradikale DVU erneut ins Parlament ein (Grüne und Freidemokraten schafften den Einzug hingegen nicht).

Es ist davon auszugehen, dass die Leute sehr genau wussten, wem sie da am Sonntag ihre Stimme gaben. Holger Apfel zum Beispiel, NPD-Spitzenkandidat in Sachsen, ist ein redseliger Mann. Er wurde auch im (juristisch diesen Sommer fehlgeschlagenen) Verbotsantrag gegen die Nazipartei häufig zitiert. «Nationaldemokraten von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt - dies ist unser aller heiliger Auftrag.» Oder: «Wir sind die Partei des Deutschtums, die Leute wollen hier keine Entwicklung wie im Westen, keine Überfremdung.» Da in ostdeutschen Bundesländern mittlerweile ein Drittel der jugendlichen ErstwählerInnen zu Nazis tendiert, glauben nur grosse OptimistInnen an ein kurzzeitiges Phänomen.

Viele der sich jetzt zu Wort meldenden «ExpertInnen» sprechen leichtfertig von einer «Kränkungswut im Osten». Man fühle sich dort, wo die westdeutschen Subventionsmilliarden hin verschwanden, nicht wirklich ernst genommen. Hinzu kämen Furcht vor Arbeitsmarktreformen und Hartz IV, und so wähle man nun «Protest». «Wir sind vom Westen verführt worden», rief einer dieser Experten am Wahlabend in die Fernsehrunde und meinte damit die Situation von 1989. Unter östlichen Biederleuten ist dies eine beliebte Masche. Man gibt sich volksnah, ein wenig antiwestlich-oppositionell und mimt ansonsten die heilige Unschuld, als habe man nicht im grossen Kollektiv die Auflösung der DDR und den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland betrieben.

Der ostdeutsche Patient geriert sich weit über die Rechte hinaus so als Opfer westlicher - polemisch zugespitzt: ausländischer - Machenschaften. Von den Betroffenheit heuchelnden Massenmedien und der Politik wird er oft, wie bei der zumeist populistischen Diskussion um die Arbeitsmarktreform, darin bestärkt. Das Problem mit den Neonazis wurde hingegen heruntergespielt, auch wenn eine an den Terror des Ku-Klux-Klan erinnernde Volksstimmung in den Oststaaten sich mit der «Wende» und den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen bis Hoyerswerda schnell abzeichnete.

Zum ostdeutschen Opfermythos gehört es, über die eigene Verantwortung für die historischen Prozesse wenig zu reden. Auf der Linken gelang es der postkommunistischen PDS, viele mit einer mitunter triefend populistischen Ostalgie aufzufangen. In Sachsen und Brandenburg ist sie deutlich die zweitstärkste Kraft. Sie bietet vielen OstlerInnen eine neue Heimat und eine Integrationsperspektive in das System der Bundesrepublik Deutschland. Die PDS konnte dabei zulegen, obwohl sie in Berlin mit der SPD regiert und dort einen rigorosen Sparkurs vertritt.

Von der Westpolitik wird die PDS, eine waschechte sozialdemokratische Partei, immer noch diffamiert und ausgegrenzt. Prominente SPD-PolitikerInnen werden nicht müde, den Kommunismus des Ostens in die Nähe des historischen Faschismus zu rücken. Dabei war die DDR sicherlich ein autoritäres, ein staatskapitalistisches Regime; mit dem Vernichtungswillen der Naziherrschaft hat dies allerdings nichts gemein. Mit der pauschalisierenden Propaganda gegen frühere DDR und jetzige PDS verharmlosen die etablierten (West-)Parteien aber vor allem den deutschen Nationalsozialismus und spielen damit Kräften wie NPD und DVU in die Hände.

Die Tabuisierung der DDR-Geschichte führt massgeblich zu Ergebnissen wie im Bezirk Sächsische Schweiz (NPD: 15,1 Prozent, Rot-Grün zusammen 9,4 Prozent). Und sie führt links zu Romantik und trotziger Opferstilisierung bei der PDS. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wahl in Brandenburg. Ein glaubwürdiger SPD-Kandidat wie Matthias Platzeck, der selber aus der DDR-Opposition kommt, konnte dort die SPD als stärkste Kraft verteidigen - ein kleiner Hoffnungsschimmer für Bundeskanzler Gerhard Schröder. Platzeck hatte sich hinter die rot-grüne Bundespolitik gestellt, während die KritikerInnen von der CDU (wie übrigens auch in Sachsen) kräftig Stimmen einbüssten. Allerdings würde der ostdeutsche Platzeck auch nie so arrogant auftreten wie ein Innenminister Otto Schily (SPD). Der hat am Wahlabend der 26-jährigen stellvertretenden PDS-Vorsitzenden Katja Kipping aus Dresden in einer Fernsehtalkshow schlicht den Mund verboten.

Der deutsche Vereinigungsmythos von 1989 («Wir sind ein Volk») ist für die Nazis zu einer dauerhaften Angelegenheit geworden. Wirtschaftliche Prosperität mag eine Waffe dagegen sein, sie alleine reicht nicht aus. Ein Durchschnittsarbeitsloser in Deutschland «verdient» immer noch mehr als ein Durchschnittsarbeiter in Polen. Viele Nazikader versehen bürgerliche Berufe und kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Und diese war auch in der DDR soldatisch-männlich geprägt. Die Auseinandersetzung mit den Traditionen des Nationalsozialismus hat auch in Westdeutschland bis zur Explosion der späten sechziger Jahre gesellschaftlich kaum stattgefunden. In Ostdeutschland, der früheren DDR mit ihrem «verordneten Antifaschismus», steht sie noch aus. •
Erschien auch in der Zeitung „WOZ“ aus Zürich am 23.09.2004.

natter | 27.09.04 17:16 | Permalink