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Kabul mon amour

“Stein der Geduld”, Regie: Atiq Rahimi, Afghanistan/Frankreich/Deutschland

Von Angelika Nguyen

Die Frau hat es schwer getroffen. In ihrer Wohnung mitten im kriegsgeschüttelten Kabul liegt ihr Mann schwer verletzt im Wachkoma. Sie wäscht ihn, spricht mit ihm, wechselt seine Infusionslösung. Die kleinen Töchter klopfen manchmal an die Tür, wollen Essen und Trinken. Die Frau muss das Hause verlassen, um zur Apotheke zu gehen, sie muss für den Unterhalt der Familie sorgen, durch die lebensgefährlichen Straßen gehen. Ist sie zurück in dem Zimmer, in dem ihr Mann liegt, redet sie mit ihm.

Zunächst geht es dabei um tägliche Sorgen. Das Geld ist alle, Schwager und Schwiegermutter, die sie an seiner Stelle versorgen müssten, sind fort. “Weil du nicht tot bist” beklagt sich die Frau. Der Zwischenzustand des Mannes schafft zwar gewisse Unklarheit familiärer Zuständigkeiten, aber auch unvermuteten Freiraum. Das Patriarchat gerät mit der Ohnmacht des Patriarchen ins Wanken. Das ist die Idee des Films von Atiq Rahimi, dessen gleichnamiger Roman bereits international Furore machte.

Die Frau, doppelt frei ohne Unterhalt und Vormund, wächst an der neuen Verantwortung und Freiheit. Als Krankenschwester und trauernde Ehefrau lernen wir sie kennen, dann verwandelt sie sich vor unseren Augen. Der bewusstlose Mann wird ihr “Syngue Sabour”, ein Stein in der persischen Mythologie, der alle Geständnisse, Schmerzen, Sehnsüchte anhören kann, bis er am Jüngsten Tag zerspringt. So intensiv werden ihre Konfessionen, dass die Schrecken des Krieges eher zum Nebenschauplatz werden. Die nahen Schüsse um die Ecke, die sie jedes Mal neu zusammenschrecken lassen, die Bombenangriffe, der dunkle Luftschutzkeller, selbst die grausam ermordeten Nachbarn im Hof sind nur äußere Umstandsbeschreibungen. Gegenstand des Films ist die geheime Selbstbefreiung einer Frau.

Das Koma des Mannes wird ihr Glück. Klinische Ohnmacht löst seine Machtlosigkeit aus. Nach und nach öffnet sich die junge Frau in ihrem Monolog, erzählt dem Bewusstlosen ein Geheimnis nach dem anderen. Verschlossene Gefühle, einen großen Betrug und einen kleineren, ihren Widerwillen gegen diese Ehe, ihre Unlust im Bett, ihre Empfindung seiner kompletten Ignoranz, seiner Abwesenheiten. “Du bist ein Held der Abwesenheit”, sagt sie. Und während der Ehemann nunmehr in eine Nische der Wohnzimmerwand verfrachtet liegt, entdeckt sie mit einem blutjungen Soldaten sogar die Liebe, gestaltet sie eine Beziehung erstmals selbst. Doch der Mann ist kein Stein, ein Mensch kann aus dem Koma erwachen. So bringt die eneute dramatische Wendung das Finale.

Der Entwurf der Frau ist ein männliches Bild. Die Dreieinigkeit Hure – Heilige – Mutter ist hier unverkennbar modelliert und was die Frau sagt, hat ein Mann geschrieben.
“Stein der Geduld” ist das Werk des Exil-Afghanen Atiq Rahimi, der seinen eigenen Roman verfilmt hat. Seit Jahrzehnten lebt er in Frankreich,wuchs in Kabul zudem französisch geprägt auf. Seine Liebe zum Kino kam mit Alain Resnais’ und Marguerite Duras’ sehr besonderem Klassiker “Hiroshima mon amour”, und das merkt man diesem Film an. Das gesprochene Wort ist hier wie dort das Werkzeug der Befreiung, eingebettet in eine sorgfältige Bildersprache, die trotz betonter, teilweise schwer zu ertragender Körperlichkeit märchenhaft bleibt. Die schöne iranische Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani trägt den Film in einer schauspielerischen Tour de Force, entschlossen und sanft zugleich, eine Scheherezade der Neuzeit.

Wenn sie das Haus verlässt, versteckt sie sich hinter der Burka wie immer, aber im Hause erfindet sie sich neu. Zwischendurch erschrickt sie über ihre Freiheit, bedeckt das einzige Buch des Hauses, den Koran, mit Küssen.

Aber so weit entfernt, zeigt uns der Film auch, ist die islamische Welt gar nicht. Fremd auf den ersten Blick, ja, aber Geheimnisse, Hemmungen, Lebenslügen, Unterdrückung, übrigens nicht nur von Frauen, gibt es auch im Westen. Vielleicht ist Rahimis Roman deshalb so beliebt bei uns, da kommt der Orient mit dem Westen zusammen.
Kabul mon amour.

A.S.H. | 21.10.13 16:37 | Permalink