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Rock den Himmel Walter!

Die alten Herren da oben können sich schon mal warm anziehen, denn Walter ist im Anflug. Der Vater der Offenen Arbeit verstarb am 29. Januar 2013 im Kreise seiner Familie, kurz vor seinem 83. Geburtstag, im Thüringischen Saalfeld, in der Nähe von Braunsdorf, wo er seit Ende der fünfziger Jahre als Pfarrer lebte und wirkte.

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Walter Schilling studierte von 1950 bis 1955 Theologie als Werksstudent, das hieß: abwechselnd ein Semester studieren. ein Semester malochen in der Landwirtschaft und im Bergbau. So wurde er ein Arbeiterpfarrer. Sein Auftreten war hart und kantig, direkt und einfühlsam. Ich lernte ihn Anfang der 80er Jahre kennen. Als junger Spund begann ich in Karl-Marx-Stadt bei der Offenen Arbeit, die bei uns so nicht hieß, aktiv zu werden. Wir fuhren mit einer Delegation nach Hirschluch bei Berlin. Dort fand einmal im Jahr ein großes Treffen aller Vertreter der kirchlichen Jugendarbeit statt, in der es zwei Flügel gab, die Offene Arbeit und die Sozialdiakonische Jugendarbeit. Als wir den Saal betraten, saßen auf einer Seite wilde Männer mit langen Haaren und Bärten in Unterhemden und Bier in der Hand. Das waren die Vertreter der Offenen Arbeit aus Jena, Erfurt, Halle, Berlin. Unter ihnen Walter Schilling, ohne Bart. Die Sozialdiakonische Jugendarbeit wollte missionieren, die Offene Arbeit ein Miteinander, (Frei)Räume schaffen und Experimente ermöglichen. Walter verstand es, die Diskussion zu lenken, ohne andere vor den Kopf zu stoßen, und das Wesentliche auf den Punkt zu bringen.
Anfang der 70er Jahren entstand in der DDR die Kundenszene. Kunden waren Jugendliche, die durch die Republik trampten, Hippiemusik hörten, feierten und einen Schiss gaben auf die übliche Karriere des DDR-Bürgers. Deshalb gab es Ärger mit den Bürgern und mit der Polizei. Beim Trampen, beim Feiern und bei der Arbeitsverweigerung. Und es fehlten eigene Räume. 
Walter Schilling hatte durch seine Pfarrstelle in Braunsdorf auch Zugriff auf ein altes Stallgebäude, welches ab 1968 als Rüstzeitheim für Jugendliche genutzt wurde. Zuerst kamen Jugendliche aus Saalfeld und Rudolstadt, die bei reichlich Watzdorfer Bier und Karo-Zigaretten mit Walter am Kamin über ihre Probleme und Träume sprachen und einen Proberaum für ihre eigenen Bands fanden. Es folgten gemeinsam gestaltete Jugendgottesdienste mit hunderten Teilnehmern. Das sprach sich herum. In den folgenden Jahren fanden die legendären Großveranstaltungen June 78 und June 79 in Rudolstadt bei Braunsdorf statt. Ein Mini-Woodstock mit 2.000 Leuten aus der ganzen Republik.
Für andere war Walter aus konkreten persönlichen Gründen eine der wichtigsten Personen ihres Lebens. Er versteckte einen Deserteur der NVA, besuchte Menschen im Knast, war bei ihnen in dunklen Zeiten und half ihnen, wenn sie von der Stasi als IMs angeworben wurden. Bei konspirativen Treffen mit dem Führungsoffizier tauchte er „plötzlich“ am Treffpunkt auf. Durch diese Dekonspiration wurde der Wunsch-IM unbrauchbar.
1987 fand ein Kirchentag von Unten in Berlin statt, es wurde ein Kirchengelände in Friedrichshain besetzt. Eine Mischung von linken Oppositionsgruppen, Punks, Künstlern, fortschrittlichen Theologen und Mitglieder der Offenen Arbeit organisierten gemeinsam ein Spektakel und mittendrin Walter Schilling. Es war die Art von Kirche und Gesellschaft, die er sich wünschte – libertär, herrschaftslos, aber mit Regeln, die Miteinander entwickelt wurden. Folgerichtig bekleidete er aktiv die neue Initiative und übernahm nach dem Erkämpfem eigener K.v.U.-Räume in der Elisabethkirche in Berlin-Mitte die geforderte Stelle eines Pfarrers des Vertrauens.
Im Herbst 89 engagierte er sich im Infobüro in der Gethsemanekirche, war Mitorganisator der allabendlichen Veranstaltungen in der Kirche, wurde selbst verhaftet und brachte sich im Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Polizeiübergriffe vom 7./ 8. Oktober 1989 ein. Trotz seiner vielseitigen Aktivitäten in Berlin blieb er seiner Heimbasis in Braunsdorf verbunden. Seit 1990 widmete er sich der Stasiverstrickung einzelner Pfarrer und anderer kirchlicher Mitarbeiter in Thüringen. Der Landeskirchenrat bestellte ihn zum Sachverständigen in verschiedenen Anhörungsverfahren gegen betroffene kirchliche Mitarbeiter. Ab 1990 wurde er wieder Leiter des Rüstzeitheimes in Braunsdorf. Allerdings bekam die Einrichtung nie wieder die Bedeutung der 70er Jahre. 1995 erhielt er den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar. Ende 2001 trat er als Unterzeichner einer Stellungnahme ehemaliger DDR-Oppositioneller mit dem Titel „Wir haben es satt“ noch einmal medial in Erscheinung. Diese Erklärung versammelte zum letzten Mal Vertreter linker Oppositionsgruppe aus DDR-Zeiten, um gegen die bestehenden Verhältnisse Wort zu ergreifen. Dort hieß es: "Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört."
Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder. … Wir haben es satt, daß unter dem Banner von Freiheit und Demokratie gegen unsere Interessen regiert wird.“
Zu seinem 80. Geburtstag versammelten sich noch einmal über 100 Weggefährten, um mit Walter in Braunsdorf zu feiern. Walter Schilling blieb seinem basisdemokratischen, autoritätsfernen Selbstverständnis bis zum Schluss treu und vergaß nie: jeder Mensch ist Einzigartig.

natter | 06.02.13 19:23 | Permalink