« Grußwort von Beate Klarsfeld an die Kundgebungsteilnehmer in Rostock am 25.08.2012 | Hauptseite | Video: 20 Jahre nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen »

Redebeitrag der LOBBI (Beratung für Betroffene rechter Gewalt in MV)

auf der Großdemonstration zum 20. Jahrestag der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen, am 25. August 2012

demo01.jpg

Vor 20 Jah­ren brann­te im Ros­to­cker Stadt­teil Lich­ten­ha­gen das „Son­nen­blu­men­haus“. Diese Bil­der gin­gen um die Welt und mar­kier­ten den bru­ta­len Hö­he­punkt des größ­ten ras­sis­ti­schen Po­groms der bun­des­deut­schen Ge­schich­te.
Noch immer stel­len sich viele Fra­gen um diese Tage im Au­gust 1992 und wie so oft gibt es ge­ra­de an „Jah­res­ta­gen“ das Be­dürf­nis, dar­auf Ant­wor­ten zu fin­den.

Wie konn­te es im Som­mer 92 zu einem Po­grom kom­men, an dem meh­re­re hun­dert Men­schen aktiv be­tei­ligt waren und der von ei­ni­gen tau­send Men­schen vor Ort be­ju­belt und un­ter­stützt wurde?

Von frus­trier­ten und des­il­lu­sio­nier­ten Men­schen ist dann oft die Rede, die in Folge von Wende und Wie­der­ver­ei­ni­gung Jobs und Per­spek­ti­ven ver­lo­ren hät­ten. Und die nun auch noch mit einem hoff­nungs­los über­füll­ten Flücht­lings­wohn­heim in ihrem Wohn­ge­biet kon­fron­tiert wur­den.
Si­cher: Frust und Un­si­cher­heit saßen bei vie­len Men­schen tief in die­ser Zeit. Aber warum ent­lud sich dies in bru­tals­tem Ras­sis­mus ?
Auch der Fokus auf die kon­kre­te Si­tua­ti­on in Lich­ten­ha­gen ver­schlei­ert mehr, als er zur Er­klä­rung bei­trägt.

Dazu ein klei­ner Rück­blick auf das Jahr 92 in Meck­len­burg-​ Vor­pom­mern:

14. März
In Saal bei Ros­tock über­fal­len 25 Per­so­nen ein Flücht­lings­heim und prü­geln den 25jäh­ri­gen Dra­go­mir Chris­ti­nel aus Ru­mä­ni­en zu Tode.
24. Mai
Rund 100 Per­so­nen über­fal­len ein Flücht­lings­heim in Güs­trow. Zwei Be­woh­ne­rIn­nen wer­den ver­letzt. Eine Frau wird mit einem Schock ins Kran­ken­haus ge­bracht.
28.​August, 29. Au­gust und 1. Sep­tem­ber
Neo­na­zis ver­su­chen ein Flücht­lings­heim in Greifs­wald an­zu­grei­fen.
5. Sep­tem­ber
In Tras­sen­hei­de, Kreis Wol­gast grei­fen etwa 40 Per­so­nen ein Flücht­lings­heim an.
8. Sep­tem­ber
Brand­an­schlä­ge auf Flücht­lings­hei­me in Wol­gast und An­klam
9., 10. und 12. Sep­tem­ber
An­grif­fe auf ein Flücht­lings­heim in Bock­horst im Kreis Güs­trow
15. bis 19. Sep­tem­ber
Fünf Tage lang grei­fen Neo­na­zis ein Flücht­lings­heim in Wis­mar an. Unter dem Bei­fall von An­woh­ne­rIn­nen set­zen sie auch Stei­ne und Mo­lo­tow­cock­tails ein. Am 19. Sep­tem­ber wer­den au­ßer­dem Heime in Güs­trow, in Krö­pe­lin, im Kreis Mal­chin, in Schwe­rin und im Kreis Ucker­mün­de an­ge­grif­fen.

demo02.jpg

Diese Auf­zäh­lung ließe sich noch end­los fort­set­zen, doch schon die­ser klei­ne Aus­schnitt macht vor allem eines deut­lich: Ras­sis­ti­sche An­grif­fe waren da­mals keine Aus­nah­me und hat­ten schon gar nichts mit be­son­de­ren, lo­ka­len Ge­ge­ben­hei­ten zu tun. Viel­mehr sam­mel­ten sich über­all im Land ras­sis­ti­sche Mobs und ver­setz­ten jene in Angst und Schre­cken, die vor Krieg, Ver­fol­gung und so­zia­ler Not in die BRD ge­flo­hen waren.

Und all das pas­sier­te nicht nur in Meck­len­burg-​Vor­pom­mern, son­dern bun­des­weit. So hat­ten schon im Mai 1992 hun­der­te Ras­sis­tIn­nen über meh­re­re Tage ein Flücht­lings­heim in Mann­heim an­ge­grif­fen.

Wenn also nach den Ur­sa­chen für die ex­plo­die­ren­de, ras­sis­ti­sche Ge­walt in den frü­hen 90er Jah­ren ge­fragt wird, so fällt uns dar­auf fol­gen­des ein: jene Zeit war ge­prägt von einer Re­nais­sance des Na­tio­na­lis­mus, der 1990 einen enor­men Auf­schwung in Ost und West nahm und sich zu­neh­mend ag­gres­siv äu­ßer­te. Gleich­zei­tig be­feu­er­ten ras­sis­ti­sche De­bat­ten um das Recht auf Asyl in Po­li­tik und Me­di­en eine immer of­fe­ne­re Ab­leh­nung von Flücht­lin­gen und an­de­ren Mi­gran­tIn­nen in wei­ten Tei­len der Be­völ­ke­rung.
Wer also ernst­haft be­grei­fen möch­te, wie es dazu kom­men konn­te, dass da­mals Hun­der­te be­reit waren, ein Haus an­zu­zün­den, in dem sich fast 150 Men­schen be­fan­den, wäh­rend Tau­sen­de ap­plau­die­rend da­ne­ben stan­den, der muss vor allem den of­fe­nen, bru­ta­len Ras­sis­mus die­ser Zeit und des­sen Ur­sa­chen in den Blick neh­men. Er ist nicht aus „Vor­ur­tei­len“ oder in den „Wir­ren“ der Nach­wen­de­zeit ent­stan­den, son­dern fruch­te­te auf dem Boden einer ras­sis­ti­schen Po­li­tik der Aus­gren­zung.

DemoPanorama.jpg

Wel­che Leh­ren und Kon­se­quen­zen sind heute aus den da­ma­li­gen Er­eig­nis­sen zu zie­hen?

Das Po­grom in Lich­ten­ha­gen steht bis heute auch für eine un­glaub­li­che Igno­ranz po­li­ti­scher Ver­ant­wor­tungs­trä­ge­rIn­nen ge­gen­über den Be­trof­fe­nen. Wäh­rend der Mob in der Stadt tobte, wet­ter­te der da­ma­li­ge Bun­des­in­nen­mi­nis­ter vor Ort er­neut gegen den „Miss­brauch des Asyl­rechts“ und den „un­kon­trol­lier­ten Zu­strom in unser Land“. Neben den da­ma­li­gen Kam­pa­gnen gegen die „Asy­lan­ten­schwem­me“ im Bun­des­tag und in den Leit­me­di­en wir­ken heu­ti­ge neo­na­zis­ti­sche Mo­bi­li­sie­run­gen gegen einen ver­meint­li­chen „Volks­tod“ ge­ra­de­zu hilf­los.

demo03.jpg

Nicht nur dass die Be­trof­fe­nen des bru­ta­len Ras­sis­mus kei­ner­lei Un­ter­stüt­zung und An­teil­nah­me er­fuh­ren. Sie wur­den viel­mehr zu den ei­gent­li­chen Ver­ur­sa­che­rIn­nen der An­grif­fe er­klärt.

Und heute? Sind sol­che of­fen­sicht­li­chen For­men einer Täter/Op­fer­ver­schie­bung immer noch an der Ta­ges­ord­nung?
Be­trach­ten wir ein­mal den staat­li­chen Um­gang mit den Mor­den des NSU.

Auf der einen Seite fällt uns die Ge­denk­ver­an­stal­tung im Fe­bru­ar die­sen Jah­res in Ber­lin ein. Die höchs­ten Re­prä­sen­ta­tIn­nen die­ses Lan­des ver­nei­gen sich vor den Op­fern und ent­schul­di­gen sich bei deren An­ge­hö­ri­gen, die eben­falls zu Wort kom­men.

demo04.jpg

An­de­rer­seits wis­sen wir alle, dass die Er­mitt­lungs­be­hör­den die Schuld für die Morde jah­re­lang bei den Op­fern ge­sucht haben. In stun­den­lan­gen Ver­hö­ren wur­den An­ge­hö­ri­ge und Be­kann­te mit der Un­ter­stel­lung kon­fron­tiert, die Er­mor­de­ten seien in kri­mi­nel­le Ma­chen­schaf­ten ver­strickt und des­halb er­mor­det wor­den. Die Sicht­wei­se vie­ler Mi­gran­tIn­nen, die schon vor Jah­ren von ras­sis­ti­schen Tat­mo­ti­ven aus­gin­gen, wurde schlicht­weg igno­riert. Er­mitt­lun­gen in diese Rich­tung fan­den – wenn über­haupt – nur halb­her­zig statt und wur­den schnell wie­der ein­ge­stellt.

Heute – neun Mo­na­te nach Be­kannt­wer­den der ras­sis­ti­schen Mord­se­rie – fehlt es noch immer an einer öf­fent­li­chen De­bat­te und kon­se­quen­ter Auf­klä­rung in Meck­len­burg-​Vor­pom­mern, dem Bun­des­land in dem das neo­na­zis­ti­sche Ter­ror­netz­werk of­fen­bar gute Be­kannt­schaf­ten hatte und in dem es nicht nur mor­de­te, son­dern auch Geld für das Leben im Un­ter­grund raub­te. Ein Un­ter­su­chungs­aus­schuss, wie in an­de­ren Bun­des­län­dern, fehlt ge­nau­so wie kon­ti­nu­ier­li­che und in­ten­si­ve jour­na­lis­ti­sche Re­cher­che.
Noch immer ist un­klar, ob, wann und wie dem NSU-​Op­fer Meh­met Tur­gut in Ros­tock ge­dacht wird. Die In­itia­ti­ve zur Um­be­nen­nung jener Stra­ße, in der er im Fe­bru­ar 2004 er­schos­sen wurde, ist zu­min­dest vor­läu­fig ge­schei­tert. An Lo­kal­po­li­ti­ke­rIn­nen, die „kei­nen Wall­fahrts­ort“ in ihrem Stadt­teil haben wol­len. Oder von „Op­fern zwei­ter Klas­se“ schwa­dro­nie­ren, denn schließ­lich wür­den nach Op­fern an­de­rer Morde ja auch keine Stra­ßen be­nannt. Und man wisse ja gar nichts über den Er­mor­de­ten, der sich mög­li­cher­wei­se sogar ohne of­fi­zi­el­le Ge­neh­mi­gung in die­sem Land auf­ge­hal­ten hat.

demo05.jpg

Ob diese ver­ba­len Quer­schlä­ger „nur“ Aus­druck der Un­fä­hig­keit sind, die Trag­wei­te der ras­sis­ti­schen Morde zu er­ken­nen und Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men oder ob mehr da­hin­ter steckt, sei erst mal dahin ge­stellt. In jedem Fall sind auch sie Aus­druck von Igno­ranz ge­gen­über Op­fern ras­sis­ti­scher Ge­walt, wie sie auch 20 Jahre nach dem Po­grom von Lich­ten­ha­gen noch weit ver­brei­tet ist.

Wir kön­nen und müs­sen auf diese Män­gel hin­wei­sen, wir müs­sen Ras­sis­mus iden­ti­fi­zie­ren und be­kämp­fen – in der Po­li­tik und im All­tag.
Doch un­se­re wich­tigs­te Kon­se­quenz aus den Er­eig­nis­sen vor 20 Jah­ren heißt: un­ein­ge­schränk­te So­li­da­ri­tät mit Be­trof­fe­nen ras­sis­ti­scher Ge­walt – Immer, über­all und auf allen ge­sell­schaft­li­chen Ebe­nen!

sonnenblumenhaus.jpg

Alle Fotos sind von der Großdemonstration in Rostock.

Bolk | 27.08.12 13:23 | Permalink