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Jede Besetzerbewegung ist ja auch eine soziale und kulturelle Bewegung.

Gesprächsrunde über die Ostberliner Hausbesetzerbewegung in den 1990er Jahren (4. Teil)

1990, im letzten Jahr der DDR, entwickelte sich eine der größten Hausbesetzerbewegungen in Deutschland. Bis zum Sommer 1990 wurden in Ostberlin hunderte Häuser besetzt. Hauptsächlich in den Stadtbezirken Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain und Lichtenberg. Anfänglich nur von Ostberlinern, schnell aber auch von vielen Menschen aus Westberlin und der BRD.

Im Sommer 2011 traf sich eine Gruppe ehemaliger Berliner Hausbesetzer in einer Mietwohnküche im Prenzlauer Berg. Sie schauten zurück und sprachen über das Leben als Hausbesetzer. Den Ebenen des Alltags, Idealen, Solidarität, Kampf, Räumung. über politische Ansprüche und gesellschaftliche Realitäten sowie über Sinn und Unsinn von Hausbesetzungen – damals wie heute.


Das gesamte Interview wurde auf www.ostblog.de in vier Teilen veröffentlicht und leicht gekürzt in der Ausgabe 124 des telegraph.

sind bereits auf dem ostblog veröffentlicht, unter:
http://www.ostblog.de/2012/01/da_haben_wir_die_ganze_huette.php
http://www.ostblog.de/2012/03/mein_interesse_auf_nachbarn_zu.php
http://www.ostblog.de/2012/04/die_strukturen_in_den_haeusern_1.php

Das bestze Haus Kastanienallee 86 - links: 1. Juni 1990 und rechts: 17. Mai 2012 - Die Häuser Kastanienallee 85/86 wurden im Januar 1990 besetzt und gehörten mit zu den ersten besetzten Häuser in Ostberlin nach der Wende. Im Keller der Nr. 86 gab es außerdem eine der ersten Ostberliner Besetzerkneipen, den Rat-Pub. Nach der Räumung der Mainzer Straße zogen die Bewohner des Tuntenhaus in das Hinterhaus der Kastanienallee 86.
Quelle: Wikipedia
Foto links:Renate Hildebrandt
Foto rechts:webtrabanten.de
Dietmar: Nun gibt es Häuser wie die Lottumstraße 10a, Schreinerstraße, Brunnenstraße 7 oder Kastanienallee. Das sind Häuser, die noch Funktionsträger von der linken Szene sind, weil sie Räumlichkeiten haben, die die linke Szene nutzen kann, wo sie sich treffen können, also Druckerei, Buchladen, Kneipe, Vokü. Doch. alle anderen Häuser sind doch mittlerweile marginalisiert, wenn überhaupt noch existent. Und deine Behauptung, dass der Mietvertrag Freiraum gesichert hat, wurde doch aktuell bei Liebigstraße 14 und Brunnenstraße 183 kontakariert? Da passiert ja genau das Gegenteil. Die Mietverträge und Verhandlungen haben befristet geschützt, aber aktuell ist es doch so, dass der Mietendruck und die Spekulanten gerade dabei sind, sich die Freiräume wieder zurückzuholen.

Andrej: Ich würde das so ähnlich sehen, aber die Perspektive ein wenig ändern. Wenn wir uns den Prenzlauer Berg ansehen, was sich da die letzten Jahre an Veränderungen durchgesetzt hat. Wie die Mietpreise gestiegen sind, und was der Staat ja auch in den letzten 20 Jahren versucht hat mit Sanierungssatzungen, Fördermitteln und Mietobergrenzen dagegen zusteuern. Dann kann man in einer 20-Jahre-Gesamtschau sagen, da wo die Häuser besetzt waren, und selbst wenn die dann Selbsthilfeprogramme gemacht haben oder in Genossenschaften umgewandelt wurden, das sind heute die Häuser mit den niedrigsten Mieten. Da würde ich sagen, langfristig hat sich die Strategie der Hausbesetzung wohnungspolitisch als wesentlich effektiver erwiesen als Fördermittel. Die sind ausgelaufen, da steigen die Mieten. Die Häuser werden verkauft und umgewandelt. Die sind effektiver gewesen als die Mietobergrenzen, für die wir uns eine ganze Zeit auch eingesetzt haben, die dann von irgendeinem Gericht vom Tisch gefegt wurden. Und aus der Perspektive finde ich eigentlich, sollte man sagen, dass, egal ob diese Bewegungsstimmung oder Infrastruktur oder Basis für linke Szene erhalten geblieben ist oder nicht, war das eine extrem effektive Strategie, um langfristig preiswerte Mieten für einen großen Teil von Leuten und Häusern zu sichern.



Die Köpi 137 - Das Bild oben ist aus dem Jahr 2006. Bild unten: Bild unten ist vom 19.52012. An der östlichen, auf dem oberen Foto freien Seite, steht seit 2009 ein Rohbau, der langsam aber sicher vergammelt. Die Köpi ist seit 1990 besetzt und 1991 legalisiert. Die Köpi ist ein autonomes Wohnprojekt und sehr angesagtes Kulturzentrum. Der Garten wird als Wagenplatz verwendet.
Quelle:Wikipedia
Foto oben: Nicor
Foto unten:webtrabanten.de


Wolfram: Ich würde das allerdings anders formulieren. Ich würde sagen, die Leute, die Einzelmietverträge haben und damals abgeschlossen haben – lassen wir mal völlig außen vor, ob das immer noch dieselben sind, deren Unterschrift da drunter steht unter den Papieren – sie haben gegenüber vielen anderen den Status ganz normaler Mieter. Und wenn jemand aus Profitmaximierungsinteresse oder sonst irgendeinem Kapitalinteresse sich die Hütte aneignet, und die dann leer haben will, weil der da was ganz schickes draus machen will, dann geht es auch den Hausbesetzern, oder ehemaligen Hausbesetzern wie jedem anderen verschissenen Mieter in dieser Stadt. Das ist das Erste. Es gibt nur einen einzigen und ganz kleinen Unterschied wenn sie Ostmietverträge haben. Diese Verträge haben nach dem Mietrecht einen höheren Stellenwert als diese ganz normalen, die heutzutage abgeschlossen werden. Um eine Staffelmiete durch zu setzen, was eine ganz normale Angelegenheit ist, müsste ein neuer Mietvertrag abgeschlossen werden, und den musst du aber nicht abschließen, weil dein alter, so lange es keine Verfehlung gibt, dieser graue Zettel, ist letztlich nicht kündbar. Also nur unter riesigem Tamtam und für teuer Geld, oder so. Wenn ich mir jetzt die Mehrheit der Prenzlauer Berger Mieter angucke, dann ist das noch ein wesentlicher Unterschied. Aber das ist ein ganz kleiner verschwindender. Ansonsten sind die Menschen, die tatsächlich immer noch in ehemalig besetzten Häusern wohnen, genauso gleichgestellt und den Marktmechanismen ausgesetzt wie jeder x-beliebige andere Mieter in dieser Stadt. Und ich kann auch nicht erkennen, woraus sich eine Besserstellung ableiten sollte. Im Gegenteil. Was Andrej gesagt hat, ist ja völlig richtig. Erstens wird an diesen Stellen der Mietspiegel der Stadt gedrückt, also sowohl bei ehemals besetzten Häusern, als auch genossenschaftlichen Häusern. Das ist eine Angelegenheit, die vielleicht marginal oder verschwindend klein ist aber sie ist natürlich messbar... Du redest immer von 120 Häusern. Im Prenzlauer Berg allein gab es 134. Ich hab ja die Protokolle von den Runden Tischen damals alle da.

Sascha: Da waren wirklich viele Häuser dabei, die haben sich einfach auf die Liste geschrieben und sind aber nie aufgetaucht. Die wollten eben Wohnraum, ist ja auch völlig ok.

Wolfram: Von der „Schöner Wohnen Fraktion“ weiß ich die Zahl nicht genau, aber es waren entsprechend mehr, wenn man nur an den Friedrichshain denkt...
Das ist keine unerhebliche Menge. Und ja, es gibt keine Bewegung mehr in dem Sinne, und ja, wir rennen jetzt nicht mit hängender Zunge hier irgendwo rum, aber ich lauer auch nicht mehr Faschos auf.

Andrej: Eine Rückfrage an Wolfram; hast du eben gesagt, dass unsere Hausbesetzerbewegung es geschafft hat, ein Stückchen DDR in Form des grauen Mietvertrages mit in den Westen zu retten?

Wolfram: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass die alten DDR-Mietverträge rechtlich privilegiert sind in der Bundesrepublik, mehr nicht.



Die Kreutzigerstraße 18/19 - Bild oben ist aus den 1990er Jahren, Bild Mitte und Unten vom 19.5.2012. Die Kreutziger Straße in Berlin Friedrichshain, eine Parallelstraße zur Mainzerstraße, Neben der Nr. 18/19 gab und gibt es noch eine Reihe andere Hausprojekte. Die Häuserlücke im oberen Bild wurde mittlerweile mit einem grauenvollen Machwerk bebaut (Bild Mitte).
Foto oben: squat.net
Foto mitte & unten: webtrabanten.de


Molti: Ich möchte lieber von libertären und emanzipativen Strukturen sprechen. Links ist kein adäquater Begriff dafür. Da habe ich zu viele schlechte Erfahrungen mit dogmatischen und stalinistischen Leuten gemacht, die sich links nennen. Und dann: Wir haben keine alten DDR-Mietverträge sondern 1997er Westverträge. Was uns aber immer wieder Vorteil verschafft hat war, dass unsere Infrastruktur innerhalb der Hauses ganz gut läuft, und dass wir uns zusammen gegen die Hausverwaltung bisher immer gut durchsetzen konnten. Und das ist der große Unterschied. Als Einzelmieter kannst du da mal kleingekocht werden, also relativ schnell. Je nach dem wie gut du diskutierst oder nicht. Und so wird eben der, der am besten reden kann und die größte Klappe hat, hingeschickt. Und der sagt dann, nee, machen wir nicht und eh alles ganz anders, oder so. Und als Gruppe hat man da einfach eine bessere Position. Bei uns denken von den aktiven Leuten 20 mit und haben 20mal bessere Ideen als der Verwalter. Da ist man automatisch in einer besseren Position, und das ist schon eine ganze Menge.

Dietmar: Wir haben jetzt festgestellt, dass diese Strukturen mit den Runden Tischen und so weiter nicht mehr existieren. Habt ihr denn das Gefühl, dass es zwischen den Häusern noch Verbindungen, Kontakte oder Zusammenarbeit gibt?

Rüdiger: Ich habe jetzt mitbekommen, als die Liebig geräumt wurde, dass schon noch Häuser vernetzt sind. Dass es da zum Beispiel Kontakte zwischen Linienstraße und Brunnenstraße gibt... aber ansonsten weiß ich nicht wie die vernetzt sind. Ich hab ja kein Kontakt mehr zu denen.

Dietmar: Aber das ist gerade interessant. Ich kenne das ja selbst und finde das sehr merkwürdig, dass ich zum Beispiel 4 Jahre in der Lottumstraße 10a gewohnt habe und jetzt nach 20 Jahren nur noch drei Leute kenne, die da wohnen. Und mit denen habe ich über andere Wege zu tun. Der Kontakt ist weg.

Rüdiger: Das ist doch eine ganz normale Entwicklung. Das ist Stein und Glas. Und ich meine die Leute, die eingezogen sind, als wir auch noch drinnen waren. Zu denen hatte man schon Kontakt, wenn man dann ausgezogen ist, weil man die ja kannte. Aber es gab eine Fluktuation, und heute kenne ich niemanden mehr dort. Und nur weil es „mein“ ehemaliges besetztes Haus ist, geh ich da nicht heute noch hin, klingel und sage, ich will mal gucken, wer da in meinem alten Haus wohnt. Ich hab damit heute nicht mehr zu tun. Ich bin froh, dass es die Struktur noch gibt, und ich freue mich für die Leute, dass die da heute noch wohnen können ,aber na ja...



Die Samarieterstraße 32 im Stadtbezirk Freidrichshein - Das Bild links ist irgendwann Mitte der 1990er Jahre erstanden, auf jeden Fall von 1998.
Foto links: Archiv HausbesetzerInnenZeitung
Foto rechts: webtrabanten.de


Molti: Man muss vielleicht auch loslassen können. Ich wohne ja noch in dem Haus und mit mir noch vier Leute aus dem ersten Jahr. Bei uns war das so, dass wir keine starke Fluktuation hatten. Es gibt Leute bei uns, die haben ihre persönlichen Beziehungen zur Köpi, die sind regelmäßig dort. Ich bin da nur alle paar Monate. Mitunter mache ich auch was mit Leuten aus der Kreutziger Straße. Das gibt es natürlich. Doch es ist nicht mehr so, dass man von Plenum zu Plenum springt. Es gibt einzelne Leute, die da dann mal hingehen, aber man hat auch viel anderes zu tun. Und ich finde es auch völlig okay zu sagen: „Das was eine tolle Zeit, und ich muss das nicht mehr machen. Aber schön, dass es so etwas noch gibt. Und wenn andere das weitertragen – na, was will man denn mehr?“

Andrej: Ich würde auch sagen, dass das völlig normal ist, dass auch in besetzten Häusern umgezogen wird. In Berlin ist die Quote alle vier Jahre. Und so eine Quote gibt es in den ehemals besetzten Häusern sicherlich auch. Ich glaube aber trotzdem, dass es eine ganze Reihe an Aktivitäten aus diesen ehemals besetzten Häusern gibt. Ich habe ja vorhin schon diese „Wir Bleiben Alle“- Initiative erwähnt, die das ganz gut auf den Punkt bringt. Die hat sich rund um räumungsbedrohte Hausprojekte und Wagenburgen gegründet und hat monatliche Vollversammlungen, bei denen rund 100 Menschen auch erscheinen. Die haben also für sich eine eigene Welt, in der sie aktiv sind. Und die hat aber, und das ist vielleicht das wirklich interessante, mit unseren Aktivitäten von vor 20 Jahren so gut wie gar nichts mehr zu tun. Die hatten mich über andere Wege zu Veranstaltungen bei sich eingeladen und waren total stolz, dass sie diese „Wir bleiben alle“ - Parole für sich entdeckt haben und waren total schockiert, als ich ihnen gesagt habe, dass wir mit genau dieser Parole schon Mieterproteste vor 15 Jahren im Prenzlauer Berg überschrieben haben. Das wussten die nicht. Und ich dachte mir, das ist ja eine nette Kontinuität und witzig, dass die die Parolen von vor 15 Jahren wieder aufgreifen. Dabei waren die aus ihren eigenen Sachen darauf gekommen. Ein bisschen eine widersprüchliche Einschätzung, weil einerseits finde ich das total angenehm zu wissen sozusagen, dass da von selbst Strukturen wachsen, und die eigene Modelle entwickeln und eigene Aktivitäten entfalten können.
Andrej: Na ja, und der andere Punkt ist diese erschreckende Geschichtslosigkeit, die die Szene zum Ausdruck bringt. Obwohl das ein bisschen ähnlich ist zu damals. Das wurde zwar vorhin so gesagt, dass wir uns daran orientiert haben, aber wir hatten nicht wirklich Anfang der 90er Kontakt zu den Westberlinern, und wenn, dann nur wenige Häuser, obwohl das ja letztendlich nur ein paar Jahre her war.



Liebigstr. 14 - Bild oben: Februar 2011 (kurz vor der Räumung), Bild unten: am 17.5.2012 - Das Haus wurde am den 2. Februar 2011 geräumt (alle 25 Bewohner hatten gültige Mietvertge). Der Räumungsvorwand: Eine angeblich illegal engebaute Tür). Ein Ersatzobjekt wurde nicht gestellt. Allein die Polizeikosten der Räumung und die darauf folgenden Protestwelle solen den Preis eines geforderten Ersatzobjektes bei weitem überstiegen haben. Die Miete im Haus soll ist nach einer oberfläschigen Sanierung um das vier- bis fünffache gestiegen sein. Bei der Neuvermietung wurden Berliner Interessent_innen bewußt ignoriert. Die Hausnummer Liebigstrasse 14 wurde von den Eigentümern Suitbert Beulker und Edwin Thöne ausgelöscht und der ehemalige Zugang verschlossen. Die neuen Bewohner_innen können das Gebäude nur über einen Nebenzugang in der Rigaerstraße 96 betreten.
Quelle: liebig14.blogsport.de
Foto oben: liebig14.blogsport.de
Foto unten: webtrabanten.de


Wolfram: Für mich erschien das wie eine späte und andere und unter anderen Zusammenhängen aber wie eine Fortsetzung der Angelegenheit von damals.

Andrej: Du kannst mal auf die Webseite gehen wir-bleiben-alle.blogspot.com oder irgendwas gehen. Die hat sozusagen ein Punk-Layout von dem W.B.A. - Logo und sieht auch ein bisschen anders aus.
Das ist die Variante. Wir versuchen Nachbarn und Nachbarinnen zu mobilisieren, aber laden in den Keller der Köpi ein. Also wenn du das liest, denkst du, wow ganz vernünftig - Stadtpolitik muss von allen gemacht werden, wir wollen mit allen da zusammen arbeiten. Aber das Ganze dann in so einem schwarzen Punk-Hass-Layout, sodass es mit Sicherheit kulturelle Schwierigkeiten gibt für andere engagierte Stadtbürger da mitzumachen.

David: Es ist eher Konsens, dass alle denken, na ja, 20 Jahre her und sollen doch andere Leute jetzt ihr´s machen. Wir machen ja seitdem auch alle unseres. Für mich persönlich ist das auch immer eher erschreckend, wenn ich Leute sehe, die immer auf dem selben Pferd reiten.

Sascha: Was du hier ansprichst, ist ja im Prinzip die Merkwürdigkeit, dass sich das Individuum weiterentwickelt und die linke Szene immer bleibt, was sie ist. Dass da nichts passiert, das so konstant ist.
Vor einem Jahr war die 20 Jahre Party in der Lottumstraße. Da sind wir da mal hoch in die Küche getapert, und das war die reine Zeitkapsel. Bis hin zu den Spinnenweben hat sich da nichts verändert, das ist noch genau wie vor 20 Jahren. Und dann saß dort ein Haufen schwarz gekleideter junger Leute in der Ecke und guckte uns böse an. Und das war es dann auch schon.
Geh in die Lottumstraße. Das ist die totale Zeitreise. Da hat sich nichts geändert.

Molti: Also ich glaube, die Schreinerstraße ist nicht die gleiche wie 1990 oder 1991. Im November oder Dezember haben wir eine Veranstaltung durchgeführt: „20 Jahre Mainzer Straße“. Das schien zuerst wie ein Klassentreffen zu sein. Es kam ein Haufen alter Gesichter, die ich 100 Jahre nicht gesehen habe. Dann lief ein Film. Wir haben ein bisschen diskutiert, und es brauchte 5 Minuten da hat man sich wieder über die alten Sachen gestritten. Das war völlig phänomenal! Da kamen teilweise dieselben Vorwürfe, mit denen ich früer schon nichts anfangen konnte und eine unglaubliche Aggressivität. Die riefen: „Was ihr da macht, ist Scheiße!“ und wir: „Immerhin machen wir etwas. Ihr habt euren eigenen Geburtstag verschlafen!“ und dann hieß es: „Wer ist denn jetzt eigentlich wirklich Mainzer Straße? Wer darf denn überhaupt hier reden?“ und so weiter. Das war wirklich erstaunlich. Da hatte ich ein bisschen das Gefühl, dass was stehengeblieben ist. Stellt sich die Frage, wann da alles stehen geblieben ist. 1970?, 1980?



Blick in die Mainzer Strasse - Bild oben: 1. Juni 1990, Bild unten: 19. Mai 2012 - Nach Plänen der DDR-Regierung sollten die Mietskasernen in der Mainzer Straße ursprünglich abgerissen und wie bereits die Häuser in der nahe gelegenen Colbestraße durch Plattenbauten ersetzt werden. Am 29. November 1989 wurde das Vorhaben jedoch von der Regierung unter Hans Modrow gestoppt. Seit dem standen große Teile der Straße leer. Am 29. April 1990 wurden 13 der 28 Häuser in der Mainzer Straße besetzt. Schon im Sommer übten Westberliner Polizeieinheiten die Räumung der Mainzer Straße. Bereit einen Monat nach der so genannten "Deutschen Einheit", am 12. November 1990 griff die Polizei die Mainzer Straße an. In der ersten Nacht standen sich 1500 Polizisten und 1000 VerteidigerInnen gegenüber. Die BesetzerInnen und hunderte UnterstützerInnen verteidigten die Straße bis zum Morgen des 14.11.2012. dann musten sie sich einer erdrückenden Übermacht VON 4000 Polizisten, SEK-Einheiten, Räumpanzern und Wasserwerfern ergeben.
Foto oben:: Renate Hildebrandt
Foto unten: webtrabanten.de


Dietmar: Seht ihr einen Sinn darin, in Berlin in Zukunft noch zu versuchen Häuser zu besetzten? Hat das eurer Meinung nach Chancen?

Rüdiger: Ich finde, es macht heute noch mehr Sinn als damals. Für mich ist das gar keine Frage. Ob ich persönlich noch mal ein Haus besetzen würde, steht auf einem anderen Blatt. Aber grundsätzlich sage ich mal: natürlich! Ich finde, die Wohnungspolitik und Wohnungssituation in der Stadt ist einfach nicht besser geworden. Die wird eher schlechter. Da sieht man, wie die Menschen verdrängt werden in Kreuzberg und Neukölln. Was da passiert ist in den letzten Jahren und auch in Zukunft passieren wird... da sind wir eben selbst auch von betroffen, und da sage ich, dass ich nicht weiß, wie lange ich die Miete noch bezahlen kann und dann vielleicht auch nach...

David: Hm, wo sollen die denn Häuser besetzten? Das wäre doch mal eine spannende Frage. Was hier passiert, wo die Leute überhaupt hingehen können.

Dietmar: Marzahn?

Rüdiger: Heinersdorf! Wo ist denn der Leerstand?

Sascha: Ja, das war damals schon meine Vorstellung, dass wir das nächste Mal Marzahn besetzen.

David: In Marzahn findet aber auch ein Verdrängungswettbewerb statt, wo die jeweils betroffenen Leute aus den Wohnungen weg müssen, und ich glaube, das ist noch mal eine ganz andere Bewegung, die da am entstehen ist.

Andrej: Ich glaube auch, dass es nicht nur in Marzahn, Spandau oder auf dem Falkenhagener Feld viel Leerstand gibt. Wir haben da, glaub ich, diese Millionen von Quadratmetern Büroleerstand mitten in der Innenstadt, die im Fokus von den Hausbesetzern nicht dabei sind, aber die für kollektive Wohnformen sicher nicht die schlechteste Idee sind. Ich würde das auch wie Rüdiger einschätzen, dass das sozusagen wohnungspolitische Notwendigkeit hat und es bei den steigenden Mieten auch Motivation dafür gibt. Das ist doch auch in vielen anderen Ländern so. Wenn ich nur an Paris denke zum Beispiel, wo die Mieten so stark steigen, dass die Wohn- und Versorgungssituation nicht mehr sicher gestellt ist, dann entwickeln die Menschen irgendwelche Formen von Selbsthilfe.

Sascha: Aber ich bin sicher, dass sie die kulturelle Blaupause überdauern und das genauso wieder losgeht. Das ist auch ein Phänomen, das ich auf der ganzen Welt beobachte; dass es so Archetypen gibt, und du ans Ende der Welt gehen kannst und dann triffst du auf irgendeinen linken Jugendclub, und es sieht genauso aus wie in Berlin oder Amsterdam oder in Mailand, und du fragst dich immer: Wer transportiert das eigentlich? Sobald das System wieder in seine nächste Schwächephase eintritt, geht das wieder los.

Rüdiger: Ich würde ganz gern noch mal eine Rückschau machen in die 80er- und 90er Jahre. Da gab es nämlich einen Unterschied. Du hast in den 70er und 80er Jahren auch Migranten gehabt und Leute, die nicht aus der linken Szene kamen, die einfach gesagt haben, ich brauche Wohnraum und sich den genommen haben. Und ich glaube und hoffe, dass es auch in diese Richtung geht. Dass es Leute gibt, die sagen, ich verlasse meine Wohnung nicht, und ich bin nicht bereit da irgendwelches Geld zu bezahlen. Das ist hier mein Zuhause und hier bleib ich. Dass die Leute sich untereinander verbünden. Es gibt ja in Kreuzberg und Neukölln Mietervereinigungen. Und ich beobachte das schon und hoffe, dass die Leute sich nicht so verdrängen lassen, sondern sagen, wir bleiben, und das dann auch konkret angehen. Und dass solche Räumungen und Entmietungen einfach nicht stattfinden.
Davon ist man, glaub ich, noch weit entfernt, aber das sehe ich eher als Perspektive als dass es irgendwann wieder eine autonome Szene gibt.

Molti: Ich würde das so sagen: Jede Besetzerbewegung ist ja auch eine soziale und kulturelle Bewegung. Wenn Leute ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sagen: „Ich bin jetzt selbstständig, ich entscheide etwas und mache was.“, ist es immer besser, als alles andere.
Deswegen ist das unbedingt zu begrüßen, auch wenn jetzt in der Innenstadt keine freien Wohnhäuser zum Besetzen rumstehen.



Blick in die Mainzer Strasse von der Boxagener Straße - Bild oben: 13. November 1990, Bild unten: etwa an der gleichen Stelle am 19. Mai 2012
Foto oben: Archiv der BesetzerInnenZeitung
Foto unten: webtrabanten.de


Andrej: Mindestens in der Berliner Geschichte wenn man sich da anguckt, was Hausbesetzungs- und Kampfbewegungen ermöglicht, dann war das im Prinzip immer eine Situation, in der die Politik sozusagen keine Regierungsmacht mehr hatte. Anfang der 80er war die Regierung in Westberlin nicht in der Lage die Stadterneuerung zu realisieren. Die hatten die Bestände in Kreuzberg zwar schon aufgekauft, aber die konnten sich das wohnungswirtschaftlich und finanziell gar nicht leisten, was sie da vorher versprochen haben. Und in Ostberlin hatten wir sozusagen einen Zusammenbruch eines ganzen Staates als machtpolitisches Vakuum, und im Moment steuern wir da wieder ganz massiv drauf hin. Die Räumung der Liebigstraße ist da ein ganz gutes Beispiel für die Situation. Dass die drei größten Parteien in Berlin, der Bürgermeister und die Parteien auf Berliner Ebene, mehr oder weniger gesagt haben, wir wollen alternative Hausprojekte erhalten, wir wollen keine Räumung. Und trotzdem waren sie trotz des politischen Willen und der Machtposition nicht in der Lage es umzusetzen.

Dietmar: Sind sie nicht in der Lage, oder haben sie kein Interesse daran?

Andrej: Wie auch immer, in der Wahrnehmung wird aber deutlich, dass sie das eine behaupten und das aber nicht erfüllen können. Und das wird sich ja noch verstärken. Es erzählen ja im Wahlkampf alle, dass sie die Partei der Mieter sind und irgendetwas versprechen, um dieses für alle offensichtliche Problem in den Griff zu kriegen. Und das werden sie aber nicht in den Griff kriegen können. Ja, und dann ist das klar, dass die nicht mehr ernst genommen werden können. Und immer dann, wenn politische Parteien oder Politik insgesamt nicht mehr ernst genommen werden können, dann öffnet sich die Legitimität und der Spielraum für alle möglichen Protestbewegungen, und das finde ich einen ganz hoffnungsvollen Ausblick auf das, was wir sonst oft als stadtpolitische Krise behandeln.

Dietmar: Die Letzte Frage geht schon in die gleiche Richtung. Machen Hausbesetzungen überhaupt einen Sinn? Sind sie eigentlich nichts weiter als eine kosmetische Aktion innerhalb eines falschen Systems. Kann es ein richtiges Leben im Falschen geben? Warum sollte man ein Haus besetzten? Sollte man nicht lieber das System abschaffen?

Sascha: Sollten wir keine Häuser besetzten, weil es das Falsche im Falschen ist?

Rüdiger: Ach das kann man doch bei ganz vielen Fragen sagen; ich bin Kommunist und ehe dieses Schweinesystem nicht abgeschafft ist, wird sich nichts verändern, und sitze hier Kaffee trinkend herum und leckt mich am Arsch. Kann man so machen.

Dietmar: Na ja, es gibt schon auch andere Ansatzpunkte dafür. Die Westdeutsche/Westberliner Antifa ist ein gutes Beispiel dafür. Und die hatte ja, besonders in den 1980er Jahren, ausgerechnet bei den anderen Linken, einen sehr schweren Stand. Denn die meisten bundesdeutschen Autonomen und Anti-Imps haben gesagt, dass es keinen Sinn macht Nazis zu bekämpfen, weil sie nur ein Symptom der Gesellschaft sind. Man muss die Gesellschaft bekämpfen, dann bekämpft man die Nazis automatisch.
Sascha: Den Punkt hatten wir ja schon mal, dass die Hausbesetzer nicht primär politisch waren, sondern für die meisten Leute auch einfach fun und eben Häuser besetzen. Genauso wie Antifa ja auch nicht nur ein politisches Ding ist, sondern auch einfach Sport – Nazis auf´s Maul hauen. Und genau deswegen hat das doch funktioniert! Weil es nicht nur politisch gewesen ist, sondern weil es die Leute selbst ganz konkret betroffen hat. Deswegen war das doch eine der wenigen linken Erfolgsgeschichten. Weil es uns betroffen hat als Leute und unsere eigenen Interessen. Und politisch oder nicht – who cares?

Andrej: Ja, das hatten wir vorhin, glaub ich, auch schon mal, dass wir halt nicht gesagt haben, wir besetzten jetzt Häuser, um das ganze System zu kippen. Sondern wir wollten uns eine Gegenwelt schaffen. Und die haben wir auf Hausebene und auf Besetzerräten miteinander ausgehandelt, wie das funktionieren soll. Aber wir hatten nicht diesen missionarischen Eifer, dass wir dachten, die ganze Gesellschaft soll so leben wie wir.

Wolfram: Du kannst zu fast jeder politischen oder sozialen Bewegung immer die Frage stellen: Warum stürzen sie denn gottverdammt nicht das System?! Die Frage ist auch legitim. Aber die legitime Antwort darauf ist doch auch: Leck mich mit deinen Fragen am Arsch. Weil ich wollte es vielleicht nicht. Oder es geht dich einen Scheißdreck an. Oder ich hab es nicht gekonnt. Oder es hat nicht geklappt. Und dass das kapitalistische System quasi pfiffig genug ist, jede dieser Bewegungen so zu integrieren, dass sie auch den Charakter von Aufstandsbekämpfung annehmen können. Das haben sie doch gemacht, das haben sie doch hingekriegt. Das hat doch funktioniert.

Rüdiger: Trotzdem ist es aber gut und richtig weiter Häuser zu besetzen! Die Systemfrage ist ja auch immer wieder spannend. Ich finde sie hat auch ihre Berechtigung.
Ich würde gern noch einmal eine Alternative erleben. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie die aussehen soll.

Das Gespräch wurde am 9. April 2011 in einer privatisierten Ostberliner Miet-Wohnküche aufgezeichnet.

Ein ganz besonderer Dank für das unermüdliche Abtippen geht an Clara und Johanna.



Rostenthaler Strasse 86 - Der Eimer 1990 und am 17.5.2012

Der Eimer in der Rosenthaler Straße - Bild linke aus den 1990er Jahren, Bild rechts: 17. Mai 2012 - Der Eimer wurde am 17. Januar 1990 besetzt. Der Eimer wurde schnell zum beliebten Ort für Rockkonzerte und angesagten Underground-Club. Zu den Besetzern und Betreibern des Eimer gehörten die Ostberliner Rock-Bands Freygang, Ichfunktion und Die Firma. 1999 wurde in einem Gerichtsverfahren die Räumung des Gebäudes verfügt, die aber erst 2003 durchgesetzt wurde. In den Jahren seines Bestehens galt der Eimer als eine Brutstätte für eine experimentierfreudige Szene der Berliner Off-Kultur und vieler Künstler, Bands, DJs und Partymacher, darunter Mitglieder des Spiral Tribe-Kollektivs. Seinen Namen bekam das Haus aufgrund der vielen Eimer voll Bauschutt, die vor der Nutzung von den Besetzern hinausgetragen werden mussten.
Quelle: Wikipedia
Foto links: squat.net
Foto rechts: webtrabanten.de

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Bolk | 26.05.12 18:38 | Permalink

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