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Ein Buch als Gedankenstütze

Rezension des Begleitbuchs zum Multimedia-Projekt "Lebt wohl, Genossen!"
Von Jenz Steiner

„Die Wände hier haben doch Ohren“, witzelte Radikalreformer Boris Jelzin im August 1991 mit Michail Gorbatschow und dem kasachischen KP-Chef Nursultan Narsabajew.
Es war ihr letztes offizielles Treffen in ihren alten Funktionen.
Die Sowjetunion stand kurz vor dem Aus, doch der KGB arbeitete noch mit alter Akribie. Den genauen Wortlaut ihrer Witzeleien konnten sie ein Vierteljahr später selbst nachlesen. Nach dem Ende der UdSSR fand man den Abhörbericht im Tresor des Putschisten Walerij Boldin. Er zählte zu den Redelsführern des Staatsstreichs und war zu Sowjetzeiten noch Leiter des Apparats des Präsidenten.

Das Buch „Lebt wohl, Genossen – Der Untergang des sowjetischen Imperiums“ lebt von solchen Anekdoten. Der in Berlin lebende ungarische Schriftsteller György Dalos (Djördj Dalosch), schrieb es als Begleitpuch zum gleichnamigen, groß angelegten Multimediaprojekt, initiert von Christian Beets und Oliver Mille. Ein sechsteiliger Dokumentarfilm läuft gerade auf dem Kulturkanal Arte. Die Website lebtwohlgenossen.com ist ein virtueller Ausstellungsraum zum Niedergang des Ostblockreichs. Auf dem Facebook-Kanal des Projekts kann man sich regelmäßig Interviews und Zeitdokumente zum Ende der SU als Videoschnippsel ansehen.

Doch braucht man zwei Jahrzehnte später noch so ein komplexes Werk zu diesem Themengebiet?

Es gibt inzwischen Massen an Filmen und Literatur zu Glasnost, Perestroika und dem Ende des kalten Krieges.
„Lebt wohl, Genossen“ hebt sich deutlich von anderen Werken ab.
György Dalos hat ein allgemeinverständliches Lesebuch vorgelegt und damit etwas geschafft, was alteingesessenen Historikern bislang noch nicht gelungen ist. Er hat ein Geschichtsbuch geschrieben, kein wissenschaftliches, aber doch ein sehr komplexes und kompaktes Werk.

Keine Thesen, keine Forschungsdebatten, keine Fußnoten:
Das Buch hat andere Stärken und Schwerpunkte.
Dalos schreibt lebendig, anschaulich und spannend.
Seine Erzählsweise folgt eher den narrativen Techniken des Films. Dalos interpretiert nicht.
Er zeigt die Dinge wie eine Kamera.
Er zoomt ran, zoomt raus, schwenkt, findet neue Zielobjekte und webt verschiedene Handlungsstränge zu einem zusammen.

Den Zusammenbruch des Ostens betrachtet Dalos als Dominospiel. Ein Stein nach dem anderen kippt um: Polen, Ungarn, die DDR, Bulgarien, die CSSR und Rumänien. Die Abspaltung Litauens vom Sowjetreich inszeniert er als Drama in zwei Akten.
Dalosch zeichnet die Geschichte sprichwörtlich nach - anhand von Ereignissen mit Symbolkraft.

Dazu tragen auch die 65 Abbildungen im Buch bei. Sie nehmen den Leser mit auf eine sehr emotionale Zeitreise durch den europäischen Osten der Achtziger. Auf den ersten Seiten steigt das Moskauer Olympia-Maskottchen Mischka an bunten Luftballons in den Himmel und verabschiedet sich von den Sportlern und Stadiongästen und gleichzeitig auch von der ergrauten Sowjetunion. Das letzte Foto zeigt die klobige Optima-Schreibmaschine, auf der die Auflösungserklärung der UdSSR getippt wurde.

Das Buch eignet sich gleichermaßen als Einstieg in die Thematik für interessierte junge Leute, die die Zeit nur aus alten James-Bond-Filmen und Dokudramen kennen und gleichermaßen für Menschen, die die Ära Revue passieren lassen und aus mehreren Perspektiven beleuchtet sehen wollen.
„Lebt wohl, Genossen“ taugt gut als Gedächtnisstütze, als Hilfsmittel zur Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit.
Der „Ach, genau, da war doch was“ „Stimmt ja“, ach so habe ich das noch nie gesehen“ Effekt stellt sich schnell ein.
Manchmal wirkt das Buch eher wie eine Gedankenstütze des Autoren. Eine klarere Struktur hätte dem Werk sicher gut getan. Die häufigen Brückenschläge, Themen- und Ortswechsel innerhalb eines Kapitels sorgen öfter Verwirrung beim Leser. Die ausführliche Zeittafel des Untergangs des Sowjetimperiums am Ende des Buches hätte ruhig auch noch durch ein Personenregister ergänzt werden können. Doch vielleicht hätte das den Rahmen eines erschwinglichen und kurzweiligen Taschenbuchs gesprengt. Auf dem Rückumschlag des Buches werden dem Käufer fünf Postkarten versprochen.
In meinem Exemplar haben diese leider gefehlt.

György Dalos: Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums. C.H. Beck, 173 S., br., 14,95 Euro.

A.S.H. | 13.02.12 15:26 | Permalink