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Kein "Slawischer Frühling" in Berlin

Von Jenz Steiner

Als „politische Fantasien“ bezeichnete der russische Botschafter Wladimir M. Grinin am Freitag Russlands Zukunftsperspektiven, die die Journalisten Thomas Kunze und Thomas Vogel in ihrem neuen Buch formulierten. „Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit - Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken“ heißt es und ist gerade im Ch. Links Verlag erschienen.

Für diplomatische Verhältnisse harte Worte wählte Grinin bei seiner einführenden Rede zur Buchpräsentation in der Botschaft der Russischen Föderation Unter den Linden. Der Verlag und die Konrad-Adenauer-Stiftung hatten zu der Veranstaltung geladen.

Die Farbe des noch im sozialistisch-klassizistischem Stil erhaltenen Saals im Handels- und Wirtschaftsbüro der Botschaft färbte ab auf die gesamte Veranstaltung. Jeder Platz war besetzt. Die Stühle reichten nicht. Das Interesse an Russland ist groß im Augenblick. Doch kein Lüftchen des „Slawischen Frühlings“ sollte an diesem Abend durch die alten Botschaftsgemäuer wehen.

In stickiger Luft lauerten die etwa 200 Gäste auf eine Andeutung, eine Stellungnahme zu den Ereignissen in Russland nach den Duma-Wahlen. Gesagt wurde dazu nichts, nicht in der Rede des Botschafters, nicht in der des Leiters des Handels- und Wirtschaftsbüros, Andrej Zwerew. Beide verließen nach ihren Ansprachen den Saal. Aus Protest oder wirklich aus Termindruck?
Der Botschafter müsse noch zu einer größeren Veranstaltung in die griechische Botschaft, wurde kurz verlautbart. Hatte man das Buch in Botschaftskreisen zu spät gelesen und darauf vertraut, dass das Label „Adenauer-Stiftung“ auf den Flyern zur Lesung für eine kurskonforme Veranstaltung garantieren würde?

Selbst Verleger Christoph Links, der auf dem Podium als Moderator durch den Abend führte, und die beiden Autoren umschifften das Thema Duma-Wahlen 2011 weiträumig.
Abgesehen von einigen kurzen Beschreibungen des Alltags an den Grenzübergängen der GUS-Staaten, blieb der Abend frei von Russland-kritischen Tönen, frei von Neuem, frei von dem, was das Buch von Kunze und Vogel ausmacht. Eine Enttäuschung für Russland-Kenner und Osteuropa-Interessierte und sicher eine Erleichterung für die Botschaftsbelegschaft.

Doch am Steigen des politischen Drucks auf die Regierung Russlands im In- und Ausland ändert das auch nichts. Zehntausende Menschen gehen an diesem Wochenende in den großen Städten Russlands auf die Straße. Millionen, die die Wirren und Nöte der Jelzin-Zeit noch im Gedächtnis tragen, bleiben zuhause. Beides hat Aussagekraft, deutlich mehr Aussagekraft als die auf allen Seiten still gehaltenen Füße bei dieser Buchpräsentation.

Einen Video-Mitschnitt der Buchpremiere kann man in Kürze auf Zeitzeugen-tv.de sehen.

A.S.H. | 12.12.11 11:54 | Permalink