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Aggressive Musik = schwerer Landfriedensbruch?

Die Staatsanwaltschaft in Dresden hat gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König Anklage erhoben. Das Amtsgericht Dresden bestätigte den Eingang der Anklage. Das Gericht hat nun darüber zu befinden, ob sie auch zugelassen wird. König wird vorgeworfen am Rande der Nazi-Demos am 19. Februar in Dresden per Lautsprecher linke Gegendemonstranten zu gewaltsamen Übergriffen auf Polizisten aufgewiegelt haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm deshalb schweren Landfriedensbruch vor. Lothar König bestreitet diesen Vorwurf.
Ein Verteidiger von Lothar Königs hat jetzt Strafanzeige gegen Angehörige der Dresdner Strafverfolgungsbehörden erstattet. Er wirft ihnen die "Verfolgung eines Unschuldigen" vor. Außerdem sollen sie sich in den Ermittlungsakten einer rassistischen Sprache bedient haben, heißt es in der Strafanzeige. Einer der Beschuldigten werde konsequent als "afroamerikanisch/europäischer Mischling mit dementsprechender brauner Hautfarbe" beschrieben. Der Begriff Mischling sei aus den nationalsozialistischen Rassegesetzen bekannt, argumentiert der Anwalt.
Lothar König wird weiter vorgeworfen, aggressive Musik gespielt zu haben! „Keine Macht für Niemand!“ Der Kultsong von „Ton, Steine, Scherben“ aus den Siebzigern wird fast auf jeder Demo in Deutschland gespielt. In Sachsen allerdings kann das Abspielen, wie im Fall König, dazu führen, dass der Staatsanwalt aktiv wird.

Wir dokumentieren die Rede von Lothar König beim Rock gegen Rechts in Jena am 2.12.2011 und nochmal zur Erinnerung die Erklärung zur Sächsischen Polizeiaktion in Jena am 10. August 2011

Lothar Königs Rede beim Rock gegen Rechts in Jena, am 2. Dezember 2011

Hey, Leute, Lothar König ist mein Name, ich hab eine Bitte, ich brauch mal 5 Minuten, Euch etwas zu sagen, was viele denken, aber wenige sagen, sagen dürfen. 5 Minuten, ist das okay?
Seit 4 Wochen haben wir mit einem Scheiß von Bankräubern, Bombenbastler, Mördern, Nazis usw. zu tun. Jeden Tag gibt es haarsträubende neue Meldungen: Pannen beim Verfassungsschutz, Spitzel bei der NPD, Gelder für Neonazis, Tote, Ermordete – das hört nicht auf. Ein Faß ohne Boden. Das hält keiner aus. Und bald schon ist Weihnachten.
Ich befürchte, bald schon, nächste Woche vielleicht, jedenfalls vor Weihnachten noch, wird man uns eine Antwort präsentieren. Ein Bauernopfer befürchte ich, einen Schuldigen jedenfalls, einen Sündenbock. Schuld sind immer die anderen.
Klar: Es sind die Nazis gewesen, die kleinen Kapkes, Wohllebens, Wieschkes und wie sie alle heißen. Die NPD wird verboten. Sie werden alle verboten. Und es herrscht wieder Ruhe im Land. Wir können endlich Weihnachten feiern.
Ich hab nur eine Bitte: Wenn ihr, die Politiker usw., das nicht lassen könnt, mit dem Verbieten und so: Wenn ihr die NPD verbietet (und dafür gibt´s ja gute Gründe), bitte, verbietet dann den Verfassungsschutz gleich mit (u. die Atommafia und…).
Aber eines will ich auch klar und deutlich sagen:
Viel lieber als solche Verbote ist mir, wir würden ungeschminkt die Wahrheit erfahren. Ihr würdet uns, der Öffentlichkeit, erzählen, was wirklich passiert ist, was da schief gelaufen ist.
Es ist Advent. Laßt uns doch einmal etwas Zeit. Zeit zum Nachsinnen, zum Nachdenken. Laßt uns einmal reflektieren: Was ist da gelaufen?
Ich glaube nicht an die fertigen glatten einfachen Antworten. Kein Journalist, und wir haben in den letzten 4 Wochen jede Menge kennengelernt, kein Fernsehreporter glaubt das, was er morgen in der Zeitung geschrieben oder im Fernsehen gesendet hat.
Nein. Da stimmt etwas Grundsätzliches stimmt nicht mehr – Wo? beim Verfassungsschutz?, bei der Beschattung der Nazis?, irgendwo bei den Behörden? oder gar bei der Regierung?
– Ich weiß es nicht, die Journalisten wissen es auch nicht. Nur, so sagt mir ein Reporter: „So etwas habe ich in den ganzen letzten 20 Jahren nicht erlebt, da wird geblockt, von ganz oben, da werden uns Antworten präsentiert, und jede Antwort ergibt 10 neue Fragen. Aber keiner fragt mehr nach, wo nachgefragt werden müßte. Irgendetwas ist da schief gelaufen, aus dem Ruder gelaufen.“
Die Stadt Jena, so meinen manche, sei eine „braune Stadt“. Im Städteranking sind wir von Platz 10 mit einem Schlag auf Platz 40 abgerutscht. Was für ein Imgae-Verlust. Ist euch klar, was für ein Schaden das ist, wieviel Geld das der Stadt Jena kostet?
Was aber, wenn es gar nicht mehr um Jena sondern um dieses ganze Land geht. In Deutschland ist eine große Panne passiert ist. Zum Beispiel: im Auftrag des Staates oder mit Billigung des Staates sind Menschen umgekommen?
Könnt Ihr euch das vorstellen. Hier in Deutschland, in diesem korrekten, ordentlichen, fleißigen, sauberen deutschen Land? Kann das sein? Können wir solch eine Wahrheit ertragen? Und vor allem: Diese Zustände und deren Ursachen erkennen und ändern? Sind wir dafür reif genug?
Das ist für mich die alles entscheidende Frage: Sind wir reif genug auch für eine erschreckende Wahrheit? Lassen wir uns die Zeit, zu reflektieren, die Ursachen auszuloten, die Zustände zu ändern?
Das ist wahrhaft eine Reifeprüfung für unsere Demokratie und für uns selbst.
• Ob wir die Wahrheit ertragen wollen,
• ob wir sie einfordern und nicht lockerlassen
• oder ob wir uns weiterhin mit einfachen fertigen Antworten abspeisen lassen und uns damit zufrieden geben
– daran entscheidet sich, ob dieses System, diese Demokratie eine wehrhafte, eine lebendige, lebensfrohe und lebenswerte Demokratie ist.
Wo es Spaß macht, zu leben und sich dafür einzustehen und notfalls auch zu kämpfen. Gegen die Nazis, gegen unsere Trägheit, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Antisemitismus – das wünsche ich mir. Heute, an diesem Tag, im Advent 2011, wir hier, und die Politiker, die Menschen in diesem Land, auf dieser Erde.
Was für eine Hoffnung bricht da auf. „…und es wird werden, Frieden auf Erden…“ verkündigen die Engel. Und, so irre das für euch klingen mag, ich glaub an diese guten Kräfte. Im Advent 2011. Danke.


Erklärung zur Sächsischen Polizeiaktion in Jena am 10. August 2011

Am Mittwoch, den 10. August 2011 durchsuchten Sächsische Polizeibeamte auf Weisung des Amtsgericht Dresden auf Antrag der Staatsanwaltschaft Dresden Privat- und Diensträume von Lothar König, Stadtjugendpfarrer der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde von Jena. Sie beschlagnahmten Computer, Unterlagen und einen Lautsprecherwagen.
Im Februar diesen Jahres hatte Lothar König in Dresden an den Demonstrationen gegen die Nazi-Aufmärsche teilgenommen und, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, als Fahrer und Halter eines Lautsprecherwagens mittels selbst oder von Dritten vorgenommenen Durchsagen zu Gewalt gegen Personen und Sachen aufgewiegelt. "Schwerer aufwieglerischer Landfriedensbruch in Tateinheit mit versuchter Strafvereitlung sowie versuchter Nötigung" lautet der Vorwurf gegen ihn nach Paragraph 125, 125a, 240, 258 Strafgesetzbuch. Lothar König bestreitet diese Vorwürfe.

Wir, Mitglieder von DDR-Oppositionsgruppen, Aktivisten des Herbstes ’89 und Weggefährten von Lothar König, protestieren aufs schärfste gegen diese Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Wir fordern die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen Lothar König, die Rückgabe aller beschlagnahmten Gegenstände und eine Entschuldigung der Vorfälle durch den Sächsischen Ministerpräsidenten Tillich.

Lothar König war seit Ende der 1970er Jahre in Thüringen aktiv in der Offenen Arbeit und der unabhängigen Friedensbewegung. Im Herbst 1989 gehörte er zu den Aktivisten der Friedlichen Revolution in Merseburg. Seit 1990 leitet er die JG Stadtmitte, die seit Ende der 1970er Jahre der wichtigste Ort der Opposition in Jena war und auch heute, trotz wiederholter Überfälle und Anschlägen von Nazis, einer der wichtigsten Orte für Direkte Demokratie in Jena darstellt.
Es ist ein Skandal, dass nach der Erhebung von fast einer Millionen Mobilfunkdaten per Funkzellenabfrage am 19. Februar diesen Jahres in Dresden insgesamt fast 700 Verfahren im Zusammenhang mit den Demonstrationen und Aktionen gegen den Europaweiten Aufmarsch von Nazis am 19. Februar 2011 von der Sächsischen Staatsanwaltschaft eingeleitet wurden. Offenbar gibt es in Sachsen starke politische Kräfte im Staatsapparat, die den Rechtsstaat als Polizei- und Obrigkeitsstaat interpretieren. Sie versuchen deshalb schon heute, politischen Kritiker/innen ihrer Methoden wie Lothar König mit Polizeistaatsmethoden einen Maulkorb zu verpassen. Wehret den Anfängen!
Wir fordern die sofortige Einstellung aller Verfahren und eine lückenlose Aufklärung der Erhebung von Mobilfunkdaten.


Erstunterzeichner:

Gerd Bedszent (Initiative Vereinigte Linke, Berlin)
Irene Fechner (Rentnerin, Berlin)
Wolfgang Geffe (Diakon, Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum, Jena)
Sebastian Gerhardt (Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin)
Bernd Gehrke (Publizist und Erwachsenenbildner, Berlin)
Gullymoy S. Geißler (AG Offene Kirche/ AGOK Sachsen, Chemnitz)
Kerstin Gierke (Berlin)
Annett Gröschner (Schriftstellerin, Berlin)
Thomas (Kaktus) Grund (Vorstand Thüringer Archiv für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk", Jena)
Anne Hahn (Autorin, Subkulturforscherin, Berlin)
Dr. Renate Hürtgen (Historikerin, Berlin)
Werner Jahn (Coloradio, Dresden)
Wolfram Kempe (Schriftsteller, Berlin)
Thomas Klein (Zeithistoriker, Initiative Vereinigte Linke, Berlin)
Uwe Kulisch (Kurator, Freiheit e.V., Erfurt)
Wolfgang Musigmann (Diakon, Erfurt)
Offene Arbeit Erfurt
Judith Porath (Opferperspektive, Berlin)
Peter Rösch ( Restaurator, JG-Stadtmitte Jena)
Wolfgang Rüddenklau (selbstständig, Berlin)
Andreas Schreier (Dipl. Ing., Redaktion telegraph, Berlin)
Anne Seek (Teilhabe e.V., Berlin)
Marion Seelig (MdA, Berlin)
Dirk Suchy (Musiker, Schauspieler)
Dirk Teschner (Kurator, Redaktion telegraph, Berlin)
Erhard Weinholz (Autor, Initiative Vereinigte Linke, Berlin)
Dietmar Wolf (Redaktion telegraph)

natter | 14.12.11 13:45 | Permalink