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GESAMTKUNSTWERK GADDAFI

Darin liegt die Besonderheit des Gaddafi-Spektakels: Inszeniert wird nicht nur (wie in staatssozialistischen Ländern) die Macht des Volkes, sondern die Abschaffung der Inszenierung. Im Grunde beschäftigt sich der „Revolutionsführer“ mit einer Frage, die antikapitalistisch gestimmte Regisseure und Dramaturgen sehr gut kennen: Wie führe ich den Aufstand vor?

Von Guillaume Paoli

(Statt eines Nachrufs: Aus telegraph 122/123)

PROLOG – Im Jahr 1986 besetzten Punks die libysche Botschaft in London. Das prächtige Haus am Hyde Park stand seit zwei Jahren leer, nachdem von dort aus eine englische Polizistin erschossen worden war und die diplomatischen Beziehungen abgebrochen wurden. Die schlauen Besetzer nutzten den Umstand, dass die Immobilie weiterhin einen exterritorialen Status besaß und folglich von der britischen Polizei ohne offizielle Genehmigung Libyens nicht betreten werden durfte. Als die Besetzer dann in Tripolis anriefen, wurden sie herzlich beglückwünscht, man freute sich ja, dem Vereinigten Königreich ein weiteres Ärgernis zu bereiten. So durfte monatelang ein skurriles Happening stattfinden, in einem gemischten Ambiente aus Londoner Subkultur und arabisch-revolutionärem Kitsch. Dort, zwischen zwei heißen Partys, wurde ich auf Gaddafis „Grünes Buch“, das kistenweise herum lag, aufmerksam.

THEATRALITÄT – Fast in jedem Bericht über Gaddafi werden Metaphern aus dem Theater bemüht. Das hängt primär mit seiner äußeren Erscheinungsform zusammen: mit den (möglicherweise selbstironischen) operettenhaften Uniformen und sonstigen Kleidungsstücken, die aus dem Requisitenfundus hergeholt schei nen, auch mit seinen unberechenbaren Auftritten, seiner sexy Leibgarde, die wie ein Frauenchor regelmäßig seine Monologe mit Losungen unterbricht. Offensichtlich hat Gaddafi Spaß an Selbstinszenierung. Laut WikiLeaks beschreibt ihn der ehemalige US-Botschafter als „sprunghafte und exzentrische Figur, die unter schwerwiegenden Zwängen leidet, den Flamenco-Tanz sowie Pferderennen liebt, sich von Marotten leiten lässt und Freunde wie Feinde gleichermaßen aus der Fassung zu bringen pflegt." Doch ist er nicht nur ein launiger Komödiant, sondern auch eine dramatische Gestalt irgendwo zwischen König Ubu und Macbeth (was nicht als verklärendes Lob verstanden werden sollte, schließlich sind die meisten Tragödienhelden keine erbaulichen Figuren). Im übrigen hat auch das Theater spätestens seit „Gaddafi rockt“ von Oliver Czeslik das Potential des Charakters entdeckt. Aber das Verhältnis zwischen Gaddafi und dem Drama geht noch tiefer. Weit davon entfernt, ein rückständiger Exot zu sein, hat der Mann aus Tripolis die Theatralisierung der Politik auf die Spitze getrieben, was wiederum die alte Frage der Politisierung des Theaters in ein neues Licht stellt.

WERKTREUES DEBÜT – Muammar al Gaddafi ist so alt wie Mick Jagger, beide haben ihre Karriere als revolutionäre Ikone angefangen und sie als unausstehliche Altdiva ewig andauern lassen. Auf ihre alten Tage wurde gar eine gewisse physische Ähnlichkeit auffällig, noch dadurch verstärkt, dass sie dieselben Sonnenbrillen tragen. Überdies heißt ein Spätwerk des Libyers „Escape to hell“, möglicherweise eine Reminiszenz aus „Sympathy for the devil“. Doch als Gaddafi sein viel beachtetes Debüt machte, hatte Jaggers Band bereits das Beste von sich gegeben – gerade war Brian Jones im Swimmingpool ertrunken. Übernacht wurde der damals gut aussehende 27-jährige Beduine weltberühmt, als er die Rolle seines Jugendhelds Gamaal Abdel Nasser blendend nachspielte. Ein gelungenes Remake: Wie sein Vorbild setzt er sich an die Spitze eines „Bund der freien Offiziere“, schasst den alten König und erklärt die Ankunft der sozialistischen Revolution. Die Aufnahmen von damals zeigen, wie der massiv umjubelte Putschist seine Restschüchternheit hinter einem ständigen Lachen verbirgt. Ehe er im darauf folgenden Jahr starb, erklärte Nasser, sein junger Nacheiferer würde die Vision verwirklichen, an der er selbst gescheitert war: Die Vereinigung der gesamten arabischen Nation über alle bestehenden Landesgrenzen. Dieses ehrgeizige Ziel nahm sich Gaddafi zu Herzen. Als er später selbst daran scheiterte, versuchte er ebenfalls vergeblich, die „Vereinigten Staaten von Afrika“ auszurufen. Übrigens geben sogar seine erbittertsten Gegner zu, dass die Anfänge seiner Ära für Libyen trotz Unterdrückung der politischen Opposition eine Zeit des Aufschwungs war, es fand eine tatsächliche Umverteilung statt, für die libyschen Verhältnisse war die Stellung der Frauen fortschrittlich. Doch war die Aufgabe, seinem Vorbild treu zu sein, eine Herausforderung. Da Nasser seine Rolle selbst entwickelt hatte, wäre dessen bloße Imitation ein Verrat gewesen. Der Libyer musste seinen eigenen Charakter kreieren, dafür einen Schritt weiter in die Extreme gehen. Diese Triebfeder mag seinen exotischen Auftritt auf der Weltbühne erklären.

DER EINZIGE STAATSMANN DER WELT, DER OFFENSICHTLICH VERRÜCKT IST – So lautet jetzt das einstimmige Urteil der Weltöffentlichkeit über Gaddafi, wobei der Akzent auf „offensichtlich“ gesetzt werden sollte. Über den geistigen Zustand der politischen Eliten weltweit und ungeachtet des Regierungssystems wären einige Fragen berechtigt. Wie viel Größenwahn steckt in der „Durchsetzungsfähigkeit“, die nötig ist, um an die Spitze eines Landes zu gelangen? Wie viel Rücksichtslosigkeit, um die Konkurrenz zu beseitigen? Wie viel Selbstverleugnung, um die „bedauernswerte Kluft zwischen Ideal und Realpolitik“ auszuhalten? Wie viel Verachtung, um täglich tausende Hände mit einem Lächeln zu schütteln? Wie viel Realitätsferne, um die konkreten Sorgen der Menschen systematisch zu ignorieren? Ein Psychogramm des homo politicus würde wenig ruhmreiche Charaktereigenschaften zu Tage bringen. Vielleicht besteht der Vorteil westlicher Demokratien einzig darin, dass sie ihren Regierenden nicht die Zeit lassen, die entwickelten Stadien ihres Wahns zu manifestieren. Was Diktatoren betrifft: Es ist anzumerken, dass weder Ben Ali noch Mubarak für wahnsinnig gehalten werden. Da weiss man wohl, weshalb sie an der Macht festhielten: Take the money and run. Sobald die regelrechte Plünderung des Landes nicht mehr möglich war, traten sie zurück, um ihren Reichtum in Ruhe zu genießen. Diese Motivation ist für westliche Politiker durchaus verständlich, die ihre Amtsperiode als Vorstufe der Bereicherung managen. Wir leben ja in einer Welt, die Gier als Kern der Rationalität erklärt. Wenn Geld das Tatmotiv ist, ist ein Mord noch nicht vergeben, doch immerhin nachvollziehbar. Wahnsinn wird dann diagnostiziert, wenn kein Geldinteresse feststellbar ist. Obwohl er genug Vermögen ergattert hatte, ist Gaddafi nicht diskret abgehauen, sondern scheint bereit, seine Rolle bis zum Tode spielen zu wollen. Das ist doch das Verrückte in den Augen aller Nihilisten, die sich nicht vorstellen können, für etwas anderes als das eigene Bankkonto kämpfen zu können. Gerade interessant an Gaddafi ist, dass er ein überflüssiges Drama entwickelte. Für die normale Usurpation hätte er es nicht nötig gehabt.

DER GRÜNE STOFF – Sehen wir kurz von dem Kontext ab, um nur den Text zu betrachten. Mit minimalen Veränderungen hätte „Das Grüne Buch“ heute noch seinen Platz in jeder linken oder (deutsch)grünen Buchhandlung. Es enthält alle Elemente, um radikale Staatskritiker und Anhänger des „dritten Wegs“ zu begeistern. Der Gedanken-rahmen schwebt zwischen zwei vertrauten Polen: der Rousseau'schen Beschwörung eines „Naturzustands“, als es noch keine Ausbeutung und kein Eigentum gab (hier das nomadische Leben in der Wüste), und zugleich der Vervollkommnung der modernen Zivilisation, welche eine Beseitigung „überholter“ Gesellschaftsstrukturen voraussetzt. Die Vorstellung ist universalistisch, sie gibt keiner Nation, Klasse oder Kultur den Vorrang. Die Gleichberechtigung der Frauen und Minderheiten wird hervorgehoben. Die politische Auffassung erinnert an die der Rätekommunisten von 1918: Abschaffung der Parteien und Parlamente, Einführung der direkten Demokratie auf allen Ebenen. Die ganze Macht wird von den Volkskomitees ausgeübt, das Gewaltmonopol durch die Volksbewaffnung ersetzt. Ökonomisch wird die „Lohnsklaverei“ zugunsten der freien Assoziation freier Produzenten abgeschafft. Hier wird nicht wie bei Lenin oder Mao die (vorübergehende) Notwendigkeit des omnipotenten Staates behauptet, sondern dessen absolute Abwesenheit. Es ist die alte anarcho-kommunistische Utopie, wie sie in allen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts mit Gewalt unterdrückt wurde. Ob diese machbar und gar wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt, immerhin findet sich in ihr keine Rechtfertigung von Terror und Diktatur. Alles Friede, Freude und Basisdemokratie. Das ist schon für ein Staatsprogramm sonderbar, sonderbarer noch die Behauptung, die Utopie sei bereits Realität.

IM JAHR DES PUNK 1977 inszeniert Gaddafi die Ankunft der Jamahiriya (Anarchy in Lybia). „Das Grüne Buch“ wird sofort umgesetzt, die Macht an das Libysche Volk komplett übergeben. Gaddafi selbst verzichtet auf sämtliche politische Funktionen, um nur noch als „Symbol“ bzw. „Revolutionsführer“ zu fungieren (daher sagt er jetzt, er könne nicht zurücktreten, nominell habe er ja keine Macht). Wo ein gewöhnlicher Diktator sich zum Marschall oder Kaiser aufbläst, rühmt sich der Oberst der Selbstauflösung ins Volke. Von nun an setzt ein wahrer schizophrener Zustand im Land ein. Selbstverständlich fand keine Revolution statt, sondern ein (wenn auch weitgehend unblutiger) Militärputsch. Intakt bleibt der Staatsapparat inklusive Gefängnisse, Polizei, Armee sowie die zentrale Verwaltung der Ressourcen. Es ist der „Antistaatsstaat“. Eine solche Dissoziation der Ideologie und der Wirklichkeit kann nur durch eine permanente Inszenierung fortbestehen. Das war im Faschismus nicht anders. Walter Benjamin erklärte den Erfolg Hitlers mit der „Ästhetisierung der Politik“ die ihm erlaubte, die Gewalt über die Massen zu behalten. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied. In Libyen wurden die Massen nicht durch die Zurschaustellung des Staates, sondern durch seine organisierte Unsichtbarkeit glorifiziert.

STAATSSITUATIONISMUS
– „Das Grüne Buch“ zeichnet sich von antiquierten Machtergreifungsfibeln dadurch aus, dass es sich nicht nur auf Politik und Wirtschaft konzentriert. Im dritten Teil wird eine fundamentale Kulturkritik erläutert, die durchaus auf der Höhe ihrer Zeit ist, eine Kritik der Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern wie sie archetypisch in Theatern herrscht: „Menschen, die kein heroisches Leben führen können, Menschen, die von der Geschichte nichts wissen und der Zukunft nicht entgegensehen, Menschen, die die eigene Existenz nicht ernst genug nehmen, solche Menschen sitzen in Theater- und Kinosälen, um Ereignisse zu beschauen in der Hoffnung, daraus etwas lernen zu können. Sie sind wie noch unwissende Schulkinder im Klassenzimmer. Wer ein wirklich selbstbestimmtes Leben führt, der hat kein Bedürfnis, zuzuschauen, wie Schauspieler auf Bühnen oder Leinwänden das Leben vorführen. So wenig hat der Reiter, der den Zügel des eigenen Pferdes hält, das Bedürfnis, auf Pferderennbahntribünen zu sitzen. Hätte jeder Mensch ein Pferd, würde keiner zuschauen und klatschen. Sitzende Zuschauer sind einfach zu hilflos, um selbst aktiv werden zu können. Man geht auch nicht in ein Restaurant, einfach um Essende zu beschauen. Beduinen haben kein Interesse an Theater oder Shows, dafür sind sie zu ernst und arbeitsam. Weil sie das Leben ernst nehmen, verpönen sie die Schauspielerei. Sie sind keine Zuschauer, sie spielen selbst und nehmen an fröhlichen Festen teil, weil sie die natürliche Notwendigkeit solcher spontanen Aktivitäten anerkennen.“ Das erinnert stark an ein Kultbuch der 68er Generation, Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“, in dem behauptet wird: „Alles, was unmittelbar erlebt wurde, hat sich in einer Repräsentation entfernt“ – da spielt Debord auf die Polysemie des Wortes „Repräsentation“, das auf französisch sowohl (politische) Vertretung, als auch (Theater) Vorstellung und (künstlerische) Abbildung bedeutet. Parlamentarische Demokratie, Konsumgesellschaft, entfremdete Arbeit, das sind bloß Phänomene. Grundlegend ist das allgemeine passive Verhältnis, das die Zuschauer von der Macht über das eigene Leben trennt. Diese Kritik der Entfremdung stammt aus den künstlerischen Avantgarden. Demnach geht es nicht nur darum, die Politik demokratischer und die Arbeit gerechter zu gestalten. Das Leben soll zum Kunstwerk und alle Menschen sollen zu Künstlern werden. Es gibt nur ein revolutionäres Ziel: die Selbstabschaffung des Zuschauers. Wie im Theater die „vierte Wand“ müssen alle Trennungen zwischen spezialisierten Bereichen, alle institutionellen Vermittlungen abgerissen werden, um an das unmittelbare Leben kommen zu können.

SELBSTDARSTELLUNG – Darin liegt die Besonderheit des Gaddafi-Spektakels: Inszeniert wird nicht nur (wie in staatssozialistischen Ländern) die Macht des Volkes, sondern die Abschaffung der Inszenierung. Im Grunde beschäftigt sich der „Revolutionsführer“ mit einer Frage, die antikapitalistisch gestimmte Regisseure und Dramaturgen sehr gut kennen: Wie führe ich den Aufstand vor? Oder anders gesagt: Wie schaffe ich das Theater ab mit den Mitteln des Theaters? Für die gute Sache sind kleine Tricks unvermeidlich. Unauffällig werden die tatsächlichen Rahmen (Bühne, Kulissen, Zuschauerraum bzw. Gefängnisse, Kasernen, Fabriken) ausgeblendet. Der Regisseur lässt seine Schauspieler improvisieren, wobei diese Improvisationen unter sorgfältigen Anweisungen geprobt worden sind. Der Chor (die Revolutionskomitees) ist die Stimme der Zuschauer (des Volkes), die nun Zuschauer der eigenen Nichtexistenz sind. Wie in einer berühmten Szene aus Monty Pythons „Life of Brian“ ruft der Revolutionsführer: „Ihr seid alle selbständige Individuen!“ Das Volk: „Wir sind alle selbständige Individuen!“ Ein Einzelner: „Ich nicht“ (er wird von den Anderen zusammengehauen). Eine konsequente Umsetzung des Stoffes würde heißen, der Regisseur schafft sich selber ab bzw. verschwindet in die Wüste, doch ist die Inszenierung allein in seinem Kopf geboren, ohne ihn würde sie sich sofort in dem formlosen, reaktionären Alltag auflösen. Und darin liegt die Tragik dieser Position: Ganz gleich, wie genuin sein Wille ist, die bestehenden Verhältnisse umzuwälzen, der Revolutions(vor)führer handelt primär aus dem Impetus, selbst ein „heroisches“ Leben zu führen. Er kämpft um Anerkennung, doch kann diese Anerkennung nicht von dem imaginierten „Volk“ gewonnen werden, sondern von der real existierenden Zuschauermasse, die er wiederum zutiefst verachtet. Theoretisch sollte die Vorführung die Zuschauer dazu bringen, selbst Spieler zu werden. Faktisch können sie höchstens Statisten in einem Spiel sein, das sie nicht selbst definiert haben. Dieser extreme Widerspruch lässt sich nur durch einen Fluchtweg aushalten: Die Selbstdarstellung. Gaddafi wird die Rolle personifizieren, die er seinen Untertanen zuschreibt und zugleich verbietet – die Rolle des heroischen Spielers. Er verweist auf die Möglichkeit, souverän zu handeln, und macht dabei diese Möglichkeit zunichte. Insofern sind die bizarren, gekünstelten Erscheinungen Gaddafis kein Produkt seiner launigen Willkür, sie folgen einer zwingenden Logik.

TOTALE KUNST – Der bildende Künstler Gaddafi hat die monochrome Flagge kreiert. Der Designer Gaddafi entwarf ein ziemlich schickes Automodell, „The Rocket“, mit libyschen Teppichen ausgekleidet. Im Musikbereich wurde er erst nach diesjährigem Aufstand berühmt, mit dem Videoclip „Zenga Zenga“ (das auch noch von einem Israeli montiert wurde!). Der Dichter Gaddafi hat u.a. einen Essayband mit dem Titel verfasst: „Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten“. Von der literarischen Qualität des Werkes waren die Kritiker nicht ganz begeistert, immerhin kann man als prophetisch eine Stelle nennen, wo sich der Autor über die Tyrannei der Massen beklagt, die dazu neigen, ihre Führer in die Wüste zu schicken. Doch zweifelsohne ist Gaddafi vorerst Aktionskünstler gewesen. Jahrelang kursierten unter schmunzelnden Arabern die jüngsten Einfälle des Politprovokateurs. Einmal kommt die algerische Fußballmannschaft nach Tripolis für ein Freundschaftsspiel. Vor dem Anpfiff steht Gaddafi auf und erklärt „aus Freundschaft zu unseren algerischen Brüdern“ diese kurzerhand zum Sieger. Die von dem Spiel frustrierten Fans randalieren im Stadion (stand doch in seinem „Grünen Buch“: „nur Idioten sitzen im Stadion um Sportlern zu applaudieren anstatt selber Sport zu praktizieren“). Ein anderes Mal bestellt er Journalisten vor das Tor eines Gefängnisses, wo politische Opponenten (natürlich ohne Urteil) sitzen. Dann erscheint der Revolutionsführer höchst persönlich am Steuer eines Baggers, rammt die Mauer ein und lässt großzügig die Insassen durch die zerstörte Umwallung fliehen – ein klarer Fall der stellvertretenden Befriedigung unser aller Zerstörungsphantasien, wie es auch jene Rockbands der 60er taten, die genüsslich ihre Gitarren und Hotelzimmer kaputt machten. Manche Einfälle lehnen sich eher an die Kyniker an. Bei einem afrikanischen Gipfeltreffen geht Gaddafi demonstrativ zur Toilette, wartet, bis man ihn dort aufsucht und behauptet, er sei davon ausgegangen, dies wäre der eigentliche Verhandlungsraum gewesen. Noch vor kurzem bei einem Italienbesuch bestellt er unweit vom Vatikan 200 hübsche Callgirls, hält ihnen eine Predigt über die Vorteile des Islams, woraufhin sich zwei von ihnen auf der Stelle bekehren lassen. Gaddafi, ein schlechter Künstler? Schlingensief hat es nicht besser gemacht. Der Unterschied ist nur: In der Regel wird man Künstler, um das tun zu dürfen, was sonst nur Diktatoren können. Umgekehrt wurde Gaddafi Diktator, um Dinge zu tun, die sich sonst nur Künstler gönnen.

OUT OF TIME – Irgendwann in den neunziger Jahren soll es dem „Revolutionsführer“ klar geworden sein, dass er in all seinen Zielen völlig gescheitert ist: militärisch im Tschad, politisch in seinen Beziehung zu anderen Staaten der Region, historisch mit dem weltweiten Sieg des liberalen Kapitalismus über selbsternannte Befreiungsbewegungen. Vor allem ist er zu Hause gescheitert, als sich seine Familie und sein Klan wie die üblichen Despotensippen nur noch für die schnellstmögliche Bereicherung und die Plünderung der Ressourcen interessierten. Schlimmer noch: sein Sohn war Fußballfreak geworden und erkaufte sich eine Mannschaft. Aus der ursprünglichen Ambition des „grünen Buches“ blieb nur noch ein Scherbenhaufen. Der tragische Kern, der Konflikt zwischen revolutionärem Anspruch und diktatorischer Wirklichkeit, war längst zu einer schlechten Farce geworden. Selbstverständlich betraf auch dieser Verfall Gaddafi selbst, der zu lange Zeit die Gelegenheit hatte, aus seiner Position außerordentliche Privilegien zu ziehen. Die Macht korrumpiert, die absolute Macht korrumpiert absolut, die als nicht-existent erklärte Macht ermöglicht, die Korruption unsichtbar zu machen. In seinem Buch hat Gaddafi seinen Hass auf die Großstadt und seine Liebe zur Wüste besungen, die er auch demonstrativ vorführte, als er sich mit Kamelen und Beduinenzelt in den Hauptstädten Europas aufhielt. Aber in der Heimat haust er in luxuriösen Palästen – die natürlich „Geschenke des Volkes“ sind. Das Zelt war nur ein Traum der Kindheit. Der Palast hat gesiegt, die Korruption des Alters.

FALLENDE HANDLUNG – Von nun an verbündet sich Gaddafi mit dem Feind, den er nicht zu besiegen vermochte. Und er wird herzlich aufgenommen. Ruckzuck wird das Embargo aufgehoben, der Staatsterrorist zum salonfähigem Ansprechpartner und der „Schurkenstaat“ zum vollberechtigten Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Bemerkenswert ist: Gerade zu diesem Zeitpunkt, wohlwissend, dass die westliche Öffentlichkeit wegschauen wird, entwickelt sich das absurde Theater in ein absolutes Theater der Grausamkeit. Der neue Akt fängt im Gefängnis von Abu Selim an, als die 1200 Gefangenen bis zum letzten abgeschlachtet werden. Der Fall löst keine internationale Empörung aus. Der Grund dafür ist bekannt. Von nun an weiss der Mann aus Tripolis, mit den zwei größten Ängsten zu spielen, die Europa aus dem satten Schlaf bringen: Die Einwanderung von Millionen ausgehungerten Afrikanern und die Ölknappheit an den Tankstellen. Um beide Drohungen zu vermeiden, ist den Europäern kein Verbrechen zu grausam, vorausgesetzt, es wird von anderen begangen. Es sind Italien, Frankreich und Deutschland, die Gaddafi mit Waffen reichlich beliefert haben (zu welchem Zweck denn?), es ist die EU, die ihm jährlich 50 Millionen Euro überwies, um Flüchtlings-KZs in der Wüste zu errichten, es ist die deutsche Polizei, die seine Sicherheitskräfte ausbildete, es sind deutsche Ingenieure, die seine Giftgasfabrik bauten. Heute wettern all diese feinen Seelen gegen den bösen, bösen Diktator. Wenn man so will, ist es ein Verdienst Gaddafis, nachgewiesen zu haben, wie korrupt, heuchlerisch und zynisch die ach so demokratischen Regierungen Europas sind. Auch das tat er gekonnt mit großem Gespür für das Theatralische. In einem letzten Hauch von Antiimperialismus ließ er genüsslich die Vertreter des Westens, allen voran Bongabonga-Burlesconi, sich im Schlamm suhlen und ihm zu Füßen kriechen. Eine gelungene Erniedrigungsshow. KRISIS – Und dann kommt die unerwartete Wendung. Auf einmal hören die Araber auf, Zuschauer von Palastrevolutionen zu sein und übernehmen die Regie. Die Rebellion fängt bei den Westnachbarn an, geht bei den Ostnachbarn weiter, schließlich steckt sie die Massen in Bengazi und Tripolis perkolativ an. Diese fangen an, das zu werden, was von ihnen immer behauptet wurde. Es werden tatsächliche Volkskomitees gegründet, Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen, Waffen zu Selbstverteidigungszwecken ergattert. Jetzt wird Gaddafis Vision real umgesetzt, aber gegen Gaddafi selbst. Somit wird die Als-Ob-Inszenierung abrupt abgebrochen. Die Fiktion platzt wie eine Thermoskanne. In der Logik des „Revolutionsführers“ kann dieser Einbruch der Wirklichkeit nur einer kollektiven Halluzination zugeschrieben werden, wahrscheinlich unter Drogeneinfluss der Teilnehmer. Die Störer der fortdauernden Komödie werden als „Komödianten“ beschimpft, sie seien Statisten einer Inszenierung unter der gemeinsamen Regie von Al Qaida und Al Jazeera. Plötzlich gibt es keine Zuschauermasse mehr, sondern ein Volk. Im Alltag existiert das Volk nicht, nirgends. Das Volk gibt es nur dann, wenn (und solange) es sich auf der Straße sichtbar macht und sich als solches behauptet. Sobald es „Wir sind das Volk“ sagt, ist es eine reale Kraft. Und dieser Moment ist gewöhnlich kurz. Hingegen ist das Volk des „Grünen Buchs“ eine Chimäre, nicht mehr und nicht weniger als das Volk der Bundesverfassung. Im Berliner Hauptbahnhof steht auf einem Riesenplakat: „400 Meter von hier regiert das Volk“ – unausgesprochen: doch hier pendelt ein Humankapital, das gar nicht so aussieht, als ob es irgend eine Macht über das eigene Leben hätte. In dem Moment, als die libysche Menge das „Grüne Buch“ öffentlich verbrennt, realisiert sie das Programm des „Grünen Buches“. Doch wahrscheinlich ist es ihr nicht bewusst. Die Parolen sind längst vergiftet, die Begriffe entleert, die Utopie disqualifiziert. Überdies hat sie keine Gelegenheit, sich Gedanken über die Verwirklichung eines real-selbständigen Weges zu machen. Jetzt sprechen nur noch die Waffen. Gaddafi wird lieber die Szenerie mit Blut (leider kein Theaterblut) übergießen und heldenhaft sterben, als seine Fiktion aufgeben. Derzeit wird er häufig mit Nero verglichen, wieder eine Figur, die Kunst mit Politik vermischte. Mit der militärischen Intervention der westlichen Koalition hat sich die Tragikomödie noch gesteigert. Plötzlich ist Gaddafis Wahnvorstellung wahr geworden: In den Kampf gegen ihn haben sich tatsächlich Al Qaida, die CIA, stockkonservative Stämme, Ölkonzerne und Wendehälse der letzten Stunde eingemischt! Ohnehin ist Libyen als Staatsgebilde eine Fata morgana, vor Gaddafis Zeit wurde es das „Königreich der Leere“ genannt. Was diese Leere jetzt füllen mag, ist nicht unbedingt aussichtsreich. Es kann ein fortdauernder Stammeskrieg sein, oder ein neokoloniales Protektorat. Wann und wie auch immer der Vorhang fallen mag, es ist anzunehmen, dass die Bevölkerung den Vorzug eher einer unspektakulären, postheroischen Form der Repräsentation geben würde. Die „Facebook-Aufstände“ haben gezeigt, dass die Romantik der Unmittelbarkeit definitiv vorüber ist. Nicht mehr Kunst und Theatralik prägen das Geschehen, sondern der Austausch und die Bewertung von Informationen. Vielleicht ist das keine schlechte Sache.

Guillaume Paoli ist Schriftsteller und Hausphilosoph am Centraltheater Leipzig.

Quelle: telegraph 122/123

telegraph 122/123, 120 Seiten, EUR 6,00
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A.S.H. | 21.10.11 12:00 | Permalink