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Die Mauer und die junge Welt

Vielleicht habt ihr es ja mitbekommen. In den letzten Tagen gab’s viel Wirbel um die Titelseite der Tageszeitung junge Welt zum 50. Jahrestag des Mauerbaus. Unter dem historischen Foto einer Betriebskampfgruppe vor dem Brandenburger Tor am 13. August 1961 stand zu lesen:

Wir sagen an dieser Stelle einfach mal: Danke
für 28 Jahre Friedenssicherung in Europa
für 28 Jahre ohne Beteiligung deutscher Soldaten an Kriegseinsätzen
für 28 Jahre ohne Hartz IV und Erwerbslosigkeit
für 28 Jahre ohne Obdachlosigkeit, Suppenküchen und »Tafeln«
für 28 Jahre Versorgung mit Krippen- und Kindergartenplätzen
für 28 Jahre ohne Neonaziplakate »GAS geben« in der deutschen Hauptstadt
für 28 Jahre Geschichtswissenschaft statt Guidoknoppgeschichtchen
für 28 Jahre Club Cola und FKK
für 28 Jahre ohne Hedgefonds und Private-Equity-Heuschrecken
für 28 Jahre ohne Praxisgebühr und Zwei-Klassen-Medizin
für 28 Jahre Hohenschönhausen ohne Hubertus Knabe
für 28 Jahre munteren Sex ohne »Feuchtgebiete« und Bild-Fachwissen
für 28 Jahre Bildung für alle

Vermutlich können viele Menschen in Ostdeutschland heute den meisten der hier aufgelisteten Dinge etwas abgewinnen, bedanken, bei den Verantwortlichen des Mauerbaues, wird sich, außer der Redaktion der jungen Welt, dafür aber ganz sicher niemand.

Besonders dem Autor des zynischen stalinistischen Blödsinns „Danke: für 28 Jahre Hohenschönhausen ohne Hubertus Knabe“ möchte man mal so richtig U-Haft in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen von vor 1989 wünschen. Nur ein paar Stunden lang.

Natürlich rief diese Provokation der jungen Welt die üblichen Verdächtigen, meist von rechts, auf den Plan. Der unsägliche Hubertus Knabe sagte in der WELT, die ,Junge Welt' ist ,Der Stürmer' von links. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe schrieb an jW-Chef Arnold Schölzel, die Redaktion habe „einen Tiefpunkt in der Verbreitung Ihres verkorksten Weltbildes erreicht“.

Henryk M. Broder bezeichnet die junge Welt als „Drecksblatt, das Stasi-Leuten eine zweite Chance gibt und zu Mauermördern “einfach mal Danke!” sagt. Solch ein „Drecksblatt“ hätte es schon einmal gegeben, „nämlich von April 1939 bis vermutlich Ende 1944, es war das Kampfblatt der Hitler-Jugend."

Insofern sei es kein Zufall, „dass das Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend in der DDR ebenfalls “junge Welt” hiess, ging es doch darum, die Tradition der HJ fortzusetzen. Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass die jW sich heute bei Mauermördern bedankt, die einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau des Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz (also mit Autobahnen, Kraft durch Freude aber ohne Auschwitz) geleistet haben."

Welche „Traditionen“ Henryk M. Broder fortzusetzen meint, wenn er, gleich nach diesem Blogeintrag, gemeinsam mit ausgerechnet Siegmar Faust (und weiteren Personen) einen offenen Brief an die Parteiführung der LINKEN unterzeichnet, bleibt ein Rätsel. Zur Erinnerung: Siegmar Faust, gern gesehener Gast der rechtsradikalen Postille Junge Freiheit, setzte sich vor Jahren erst mehr, dann weniger erfolgreich für Entschädigungszahlung an eine KZ-Aufseherin ein. Zum Dank erhielt er von der ehmaligen SS-Frau 7000 Mark geschenkt.

(siehe: DIE ZEIT: Unsauberes Geld, Berliner Zeitung: Ehemalige KZ-Aufseherin muß Entschädigung zurückzahlen)

Massive Kritik an der jungen Welt kommt aber auch aus dem linken Lager.

So schreibt die Gruppe Emanzipatorische Linke, ein innerparteilicher Zusammenschluss in und bei der Partei DIE LINKE:

„Wir fordern den Parteivorstand sowie alle verantwortlichen Funktions- und Mandatsträger der Partei DIE LINKE auf, jegliche Zusammenarbeit mit der Tageszeitung "junge Welt" zu beenden.

Der Verherrlichung von Diktatur, von polizeilicher, geheimdienstlicher und militärischer Gewalt im Namen des Sozialismus darf keinerlei finanzielle und werbende Unterstützung zukommen. Der Fehler bestand von Anfang an, es wird Zeit ihn einzusehen und Konsequenzen zu ziehen. Konkret heißt das für uns, dass die "junge Welt" auf Veranstaltungen und Festen der LINKEN nichts zu suchen und zu finden hat, nicht durch das Schalten von Anzeigen und das parteioffizielle Zeichnen von Genossenschaftsanteilen unterstützt wird. Die "junge Welt" schreibt seit Jahren gegen alle demokratischen und libertären Prinzipien eines emanzipatorischen Sozialismusbegriffs an und agitiert ebenso offen feindlich gegen die LINKE, wenn es ihr ideologisch ins besagte Konzept passt.“

Der Jazz-Musiker Andrej Hermlin droht der Parteiführung der LINKEN in der BZ sogar mit Austritt, wenn die Stalinisten sich weiter durchsetzen.

Sehr lesenswert ist die ausführliche Kritik von Anne Seeck auf „scharf links“ an der jungen Welt: 50 Jahre Mauerbau: "DANKE" JUNGE WELT

und der Offene Brief des „Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West“, den wir an dieser Stelle dokumentieren wollen:

Die Linke hat einen reaktionären Rand und sein Maß ist voll !

… dieser reaktionäre Rand sammelt sich um die Tageszeitung „junge welt“.
Vornehmlich hier erhalten die ehemaligen Unterdrücker in der DDR das Wort.
Die "junge Welt" ist die propagandistische Tribüne der Politbürokratie, der
Generäle und Offiziere der DDR- Staatssicherheit, der NVA, der Grenztruppen,
der sogenannten Volkspolizei, der stalinistischen Ideologen und ihrer
unbelehrbaren Nachfolger. Hier werden der gegen die Bevölkerungsmehrheit
gerichtete SED- Unterdrückungsapparat gefeiert, seine Schüsse auf DDRFlüchtlinge,
seine Gefängnisse für die politischen Gefangenen und der
verbrecherische Charakter der Diktatur über das Proletariat geleugnet oder
relativiert. Kein Wunder: An der Spitze der "jungen welt" steht schließlich ein
Chefredakteur, dessen vornehmste Aufgabe in der DDR es war, als Stasi-
Spitzel linksoppositionelle Marxist/innen zu jagen.

Für alle emanzipatorischen Linken muss das Maß nun voll sein. Am 13. August
2011 dankte die "junge welt" auf dem Titelblatt breit aufgemacht den
Mauerbauern für 28 Jahre Einsperren der DDR-Bevölkerung und feierte offen
die stalinistische Unterdrückung, garniert mit den üblichen Propagandalügen
der SED-Diktatur und Mythen über ihre "Errungenschaften". In Nichts stehen
diese Propagandalügen den Propagandalügen der heute Herrschenden nach.
Diese reaktionäre Linke besitzt eine Rattenfängerpfeife, hinter der junge
Menschen herlaufen sollen, die die DDR nicht mehr kennen und die den
gegenwärtigen Verhältnissen eine radikale Kritik entgegensetzen wollen: Das
ist ihr scharfer, allerdings antiwestlich und autoritär gedrechselter
Antikapitalismus. Deshalb unterstützt die "junge welt" noch den letzten
Despoten, so er in Konfrontation mit dem westlichen Kapitalismus gerät: Putin,
Saddam Hussein, Milosevic, Ahmadinedschad, Gaddafi. Einen solchen
antiemanzipatorischen Antikapitalismus hat "die junge welt" schon zu Zeiten
des Kalten Krieges praktiziert, als sich die zwei imperialen Mächte – der Ostund
der Westblock – gegenüberstanden und zu vernichten drohten. Die
Propagandamaschinen liefen auf Hochtouren, Antikommunismus auf der
einen, Antikapitalismus auf der anderen Seite waren die staatstragenden
Ideologien, mit denen die Verbrechen und Schwächen des jeweils eigenen
Systems geschönt, bemäntelt oder rechtfertigt, die Stärken des jeweils anderen
Systems jedoch weggeredet wurden.

Die Kritik der jeweils Herrschenden an dem jeweils anderen System war und ist
nicht unsere Kritik. Unsere Kritik hat sich einst wie jetzt gegen beide Systeme
gleichermaßen gerichtet, ohne Unterschied in der Radikalität und in der
Zielstellung: Überwindung beider Ausbeutungssysteme durch eine
Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, durch eine freie und
selbstverwaltete Assoziation der Produzent/innen. Der Antikommunismus des
Westens wie der Antikapitalismus des Ostens dienten nur der Denunziation
des Gegners und der Stabilisierung der eigenen Herrschaft. Wir können uns
weder hinter die einen, noch hinter die anderen "Anklagen" stellen,
unabhängig davon, dass an beiden "was dran ist". Darum kann es auch heute
nicht unser Kampf sein, den die besiegten ehemaligen Herrschenden der DDR
in der „jungen welt“ gegen die Sieger führen.

Das Drama der Geschichte der Linken in der DDR ist ihre „Staatswerdung“ im
Gewand des Stalinismus. Die Utopie, für die gekämpft und gelitten worden war,
kam in Gestalt einer Ausbeutungsgesellschaft mit einem
Unterdrückungsapparat ans Licht, der in seiner Perfektion seinesgleichen
sucht. Heute, nach dem Untergang des Ostblocks und im Angesicht der
offensichtlichen Krisen des Gegenwartskapitalismus kann und muss die Linke
ihre ganze Kraft darauf richten, darüber nachzudenken, wie eine alternative
Gesellschaft zur kapitalistischen Verwertungslogik aussehen und wie sie
erreicht werden kann. Das ist jedoch nur möglich wenn die historischen
Sackgassen stalinistischer Parteidiktaturen und der von ihnen geschaffenen
Ausbeutungssysteme kritisch aufgearbeitet werden, die der Linken bis heute
als historische Erblast auf die Füße fallen.

Wer sich jedoch in den Dunstkreis der "jungen welt" begibt, wo sich die
Restaurateure der SED-Diktatur verschanzt haben, die Agitatoren und
Propagandisten der 1989 abgeschüttelten DDR-Unterdrücker, die
stalinistischen Menschenverachter, die ihrer verlustig gegangenen Macht
nachtrauern, hat keinen Blick frei für eine solche Zukunftsvision.

Die Linke hat einen reaktionären Rand, der sich auszudehnen scheint und in
der linken Szene auf Bauernfang geht. Er klebt an ihr wie Scheiße am Schuh, er
gehört dazu, ob sie will oder nicht. Jeder sieht es. So hat die Linke dasselbe
Problem wie das Bürgertum, an dessen rechtem Rand sich die alten und neuen
Nazis tummeln. Was empfehlen wir den Demokraten im bürgerlichen Lager?
Distanziert Euch, tretet rigoros gegen den Faschismus auf, protestiert? In
jedem Fall sind wir zu Recht empört, wenn sie diese Kräfte verharmlosen, nicht
wahrhaben wollen oder ihnen gar eine Daseinsberechtigung zusprechen. Doch
was machen wir mit den Reaktionären im eigenen Lager? Eine Linke die auf
diesem Auge blind ist, wird niemals glaubwürdig und wahrhaftig sein, wenn sie
dem Bürgertum vorwirft, sich vor ihrem rechten Rand zu beugen. Vor allem
wird sie niemals in der Lage sein eine emanzipatorische Gesellschaft jenseits
des Kapitalismus zu schaffen, wenn sie es selbst nicht einmal schafft sich von
ihren eigenen historischen Irrwegen und stalinistischen Verbrechen zu
emanzipieren.

Wir schlagen allen Anhängerinnen und Anhängern einer emanzipatorischen
Linken vor, die "jungen welt" zu boykottieren und eigene Wege der
Kommunikation über eine radikale, weil emanzipatorische Politik der Linken zu
schaffen.

AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West
Renate Hürtgen
Bernd Gehrke
Willi Hajek

Berlin, den 16. August 2011

A.S.H. | 18.08.11 14:20 | Permalink