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Coming Out in der Agrargenossenschaft

Stadt Land Fluss” von Benjamin Cantu

Wie ein Dokumentarfilm wird der Spielfilm zunächst inszeniert. Eine bewegliche Kamera begleitet die Protagonisten in typischen ungeschnittenen Dokumentareinstellungen. Sie nähert und entfernt sich, zieht Schärfe nach, sucht sich scheinbar die Objekte erst. Mit ihr entdeckt das Publikum allmählich die soziale Welt dieses Films: Ein landwirtschaftlicher Lehrbetrieb irgendwo im Norden Deutschlands. Der Eindruck wird verstärkt von den Dialogen, die das Leben selbst schrieb: Anweisungen für die jungen Azubis von einer offensichtlich echten Betreuerin, holprige Fragen und Antworten, Alltagswitze in der Frühstückspause - “ lieber Arm dran als Arm ab”, so in der Art.

Schnell ist einer der Azubis, Marko, als Hauptfigur auszumachen. Spröde, verschlossen, mit zusammengebissenen Zähnen versucht er seine Außenseiterrolle gar nicht erst zu leugnen. Trotzdem akzeptieren ihn die anderen, irgendwie. Alles ändert sich für Marko, als Jakob als Praktikant anfängt. Subtil und langsam erzählt der Film die Annäherung der beiden.

Das Besondere ist, dass der Film nicht wie ein Kunstfilm daherkommt, sondern die soziale Alltäglichkeit, in der seine homoerotische Geschichte entsteht, sogar stilistisch betont. Lange weiß man nicht, wohin die Reise geht, und das macht einen Teil der Spannung aus.

Originalgeräusche der Szenen spielen eine große Rolle, machen eine besondere Musik: der LKW, der allgegenwärtige rauschende Wind, vor allem der metaphorische Wassersprenger, die Landwirtschaftsmaschinen. Wenig Dialog und kaum Untermalung.
Erst nach 40 Minuten semidokumentarischer Erzählweise erfolgt ein visueller Wechsel, eine Abhebung ins Traumhafte. Jakob löst sich aus dem Alltagstrott und lässt sich vom rhythmisch pumpenden Wassersprenger erfrischen und vollregnen, an diesem heißen Sommertag. Beiläufig fast taucht Marko als Vision auf, als Tagtraum. Aus der Betriebsamkeit treten seitdem die Figuren und machen ihre eigene Geschichte. Was sich in der Psyche von Marco und Jakob abspielt, bricht auf und wird sichtbar. Da verlieben sich zwei ineinander und wollen es erst nicht wahrhaben und gehen doch stetig aufeinander zu, verlangend und vorsichtig zugleich.

Glaubhaft spielen Lukas Steltner als Marko und Kai-Michael Müller als Jakob ihre Figuren. Die Gegensätzlichkeit der Charaktere und ihrer Sozialisation – der verschlossene, spröde bildungsferne Marko und der offene, charmante, ausgeglichene Ex-Bankazubi Jakob - bilden ein schönes Spannungsfeld.

Ein anderer Reiz des Films ist das Zusammenspiel von Laien, echten Azubis einer wirklichen Agrargenossenschaft, und den beiden jungen Schauspielprofis. Im für das Sujet geradezu exotischen Ambiente eines Landwirtschaftsbetriebes gestaltet der Film ein Stück erfrischenden Realismus, denn die Arbeitswelt als Bühne leidenschaftlicher Gefühle ist ein zwar alltägliches, aber im Kino wenig reflektiertes Phänomen.
In einer Szene zum Beispiel könnten Jakobs Blicke Marko, während dieser scheinbar gleichmütig Getreide in die Säcke schaufelt, geradezu versengen oder ein einziger 180 - Grad - Kameraschwenk zeigt die Spannung zwischen beiden inmitten der anderen.
Die langen Einstellungen und Schwenks sind keine Spielerei, sondern loten sorgfältig den Raum zwischen den beiden aus, zeigen das soziale Umfeld.

“Stadt Land Fluss” ist kein Problemfilm. Bei der Berlinale als Publikumsliebling in der Jugendsektion ausgezeichnet, erzählt der Film das Coming Out seiner Protagonisten ohne die quälenden Fragen des Woher und Wohin.
Eine schöne Momentaufnahme.

Angelika Nguyen

A.S.H. | 20.05.11 17:16 | Permalink