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Vielfalt um jeden Preis

Berlinale 2011: Filme im Forum

Von Angelika Nguyen

Über Literatur können nur Literaturwissenschaftler schreiben, über Filme schreiben alle, klagte einst Francois Truffaut über seine Kollegen Kritiker, die ohne Ahnung vom Medium Meinungsäußerung betreiben. So etwas Ähnliches könnte man nach dem Blick auf die Forum-Auswahl sagen. Literatur schreiben nur Schriftsteller, Filme machen alle.

Das Fragmentarische, Losgelöste von gesellschaftlichem und sozialem Hintergrund ist kennzeichnend für die Forum-Filme. Vieles gilt dann schnell als experimentell oder eben spielerisch.

Unter rund 40 Filmen in dieser vielleicht überraschendsten Sektion des Festivals ist diesmal eine verstörende Anzahl von Werken, bei denen getrost gefragt werden darf, warum es diese überhaupt in die Auswahl geschafft haben. Hier wird offensichtlich, dass zuweilen nicht Qualität oder nur ein Mindeststandard an Kinohandwerk entscheiden, sondern Vielfalt um jeden Preis. Das Motto, das Sektionsleiter Christoph Terhechte mit “filmische Einsichten in menschliche Befindlichkeiten” herausgab, erweist sich als breites Tor für jede Art filmischer Äußerung, notfalls auch ohne Idee.

So ist die Aufnahme des koreanischen Film “Jagadangchak” (“Widerspruch”) offenbar solch eine Vielfalt - Entscheidung, denn die Kunst-Qualität kann es nicht gewesen sein. Es gibt keine. 73 Minuten lang wird das Publikum von einer schlecht gefilmten animierten Plastik-Polizeifigur gelangweilt und genervt, die die Einrichtung eines Zimmers zertrümmert, auf Filmmaterial im Used-Look. Selbst der Pressevorführung entliefen die Leute in Scharen.

Ganz anderer Art, aber ähnlich beleidigend für die Intelligenz der Zuschauer ist die lang gezogene zweiteilige Nabelschau “Silver Bullets/Art History”des Engländers Joe Swanberg, der in endlosen Echtzeiteinstellungen zeigt, wie er angestrengte Liebesszenen inszeniert.

Aufdringlich und ebenfalls unerotisch wirken die reihenweise gefilmten nackten Genitalien masturbierender junger thailändischer Männer in dem Semi-Dokumentarfilm “The Terrorists”. Vielleicht sogar ungewollt lassen die Szenen an mitteleuopäischen Sextourismus denken.

Glücklicherweise gibt es mittendrin auch ein paar Filme, die einfach wie Geschichten wirken.

So erzählt der kongolesische Großstadtfilm “Viva Riva!” die eng verknüpften Bande aus Verbrechen, Korruption, Sex am Beispiel der Odyssee eines jungen Drogenhändlers, der sich in die Geliebte seines Feindes verliebt, eine spannende actiongeladene Geschichte ohne jeden politischen Bezug und mit fulminantem Finale. Mit ähnlich explosiver Mischung erfreut der chinesische verzweigte Hongkong-Psychothriller “The Stool Pigeon”. Der ambivalente chilenische Dokumentarfilm “El Mocito”, der einen Kollaborateur der faschistischen Militärjunta porträtiert, lebt von der Authentizität der Begegnung mit der Familie eines Mordopfers. Radikale Lebensentwürfe und Tragik zeigt der Gender-Bender-Dokumentarfilm über das selbst erfundene pandrogyne Paar “Genesis und Lady Jaye”.

Dazu gehören auch der deutsche Film “Auf der Suche nach Simon”, in dem Ex-Freund und Mutter einen vermissten jungen Mann in Marseille suchen und widerwillig eine Beziehung aufbauen, der angenehm kühl-sachliche Dokumentarfilm über Atomkraftwerke in Deutschland und Österreich “Unter Kontrolle” und der spannend strukturierte Schneefilm “En Terrains Connus” (“Auf vertrautem Grund”) aus Kanada über ein erwachsenes Geschwisterpaar, das sich durch drei Unfälle wieder versöhnt.
Aus Tschechien kommen der Debütfilm “Eighty Letters” über die bleierne Zeit 1987 in der Tschechoslowakei, Psychodruck und Bürokratie bis zur Ausreise von Mutter und Sohn nach Großbritannien und der Dokumentarfilm “Nesvatbov” (“Matchmaking Mayor”) über die bizarre Idee des Bürgermeisters eines slowakischen Dorfes, alle Singles administrativ miteinander zu verkuppeln.

Das Forum ist selten etwas zum Zurücklehnen, es fordert das Publikum, von Anregung, Interesse bis zu Ärgernis und Langeweile. Normal ist da nichts.

A.S.H. | 12.02.11 18:43 | Permalink