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Offene Geheimnisse

Wikileaks, die US Air Force und Steven Aftergoods Hoffnung auf die US-Verfassung

Von Sebastian Gerhardt

Seit den ersten Veröffentlichungen von klassifizierten Unterlagen suchen die zuständigen Stellen der US-Regierung nach Wegen, der Publikation ihrer schönen Geheimnisse wieder Herr zu werden. So verboten schon im Sommer letzten Jahres US-Militärbehörden ihren Untergebenen die Lektüre von Wikileaks und anderen Medien, die von den dort bereitgestellten Geheimnissen Gebrauch machten. Der Zugang von Dienstrechnern zu solchen Internetseiten wurde gesperrt. Doch richtig ins Laufen kam die Kampagne erst mit der Veröffentlichung von Unmengen diplomatischer Depeschen Ende November 2010. Nun entzogen auch viele zivile Einrichtungen ihren Beschäftigten den Zugang zu den skandalösen Inhalten. Selbst die gemeinhin eher liberale Libary of Congres verhinderte den Zugriff auf Wikileaks. Selbst der wissenschaftliche Dienst des US-Parlamentes war damit von zentralen Informationen der öffentlichen Debatte abgeschnitten. Verschiedentlich beklagten sich daher treue Diener ihres Staates, zwar dürfe sich ihre Großmutter informieren, aber sie nicht. Ein wenig erinnerte das an den Kummer braver Offiziere der bewaffneten Organe in der DDR, daß die Partei ihnen nicht vertraue: Alle durften in den achtziger Jahren Westfernsehen gucken, sie nicht.

Solcher Inkonsequenz wollen nun einige Juristen der US Air Force ein Ende bereiten. Steven Aftergood wies heute (07.02.2011) in seinem vorzüglichen Blog (http://www.fas.org/blog/secrecy/) auf eine Veröffentlichung hin, die sich – gar nicht geheim – auf der Homepage der Verwaltung Rückwärtigen Dienste der US Air Force findet. (US Air Force Materiel Command, http://www.afmc.af.mil/news/story.asp?id=123241034) In dieser Richtlinie fordern die „legal and communication experts“ nicht nur, daß auch veröffentlichte Geheimnisse weiter als „Geheimnisse“ behandelt, und nicht etwa gelesen oder überdacht werden. Sie behaupten darüber hinaus, daß ein Klick zu Wikileaks auf dem heimischen Computer einen Verstoß nicht allein gegen alberne Dienstrichtlinien, sondern einen Gesetzesverstoß darstellt: Spionage. (U.S. Code Title 18, Section 793) Dies gelte nicht nur für die Militärangehörigen, sondern auch für ihre Familienmitglieder.

Aftergoods Kommentar ist kurz und bündig: „Diese atemberaubende Behauptung geht weit über alles bisherige Verständnis von Spionage hinaus.“ Und er führt weiter aus: „Wenn wir für einen Moment die Richtlinie ernst nehmen, dann wirft sie eine Menge weiterer Frage auf: Was ist, wenn ein Familienmitglied Wikileaks von einem fremden Computer aufruft? Was ist, wenn ein Nicht-Familienmitglied Wikileaks vom heimischen Rechner eines Militärangehörigen aufruft? Was ist, wenn man erfährt, daß der Nachbar zuhause Wikileaks liest? Muß der Air Force Angehörige dann einschreiten oder die Vorgesetzten informieren? Und wie kann irgendeine der aufgeführten Handlungen mit der Verfassung im Einklang stehen?“

Sicher hat Steven Aftergood recht, daß wohl kaum eine US-Großmutter aufgrund einer neuen Richtlinie von Air Force Juristen vor Gericht erscheinen muß. Davor schützt nicht so sehr der Text Verfassung, sondern vor allem die eine oder andere juristische Möglichkeit von Bürgerrechtsorganisationen. Ob aber auch US-Militärangehörige die ihnen aufgedrängten Scheuklappen ablehnen werden, ist eine ganz andere Frage. Zwar steckt – anders als der Hau-Drauf-Antimilitarismus glauben will – unter manchem Stahlhelm ein ziemlich kluger Kopf. Aber wofür verwenden die Leute ihren klugenKopf? Das ist das Problem.

A.S.H. | 08.02.11 13:03 | Permalink