« Europäische Rechtsradikale trafen sich in Israel | Hauptseite | »Liebes Tagebuch...« »

Mama don’t go

“Nowhere Boy”, Regie: Sam Taylor Wood
Von Angelika Nguyen

In dem Film gibt es eine Szene, in der aller Schmerz und alle Dummheit und alle Verzweiflung der Figuren erlöst werden durch eine einzige Geste. Ein Kind läuft seiner Mutter hinterher, nachdem es zuvor gesagt hat, es wolle beim Vater bleiben. Das Kind ist fünf. Es versucht, mit den verrückt gewordenen Eltern klar zu kommen. Da wird es am Kragen gepackt. Ein Griff von außen, ein kluger Instinkt holt es da raus. Die rettende Hand gehört seiner Tante, Tante Mimi. Die Szene spielt in Liverpool. Das Kind heißt John Lennon.

Die Geschichte um das Drama der Pubertät von John Lennon erzählt der Film “Nowhere Boy”. Dafür entfaltet er ein farbiges lebendiges 50iger Jahre - Panorama, ein Universum von Eindrücken auf den jungen Lennon.

Von allen Beatles war John Lennon der poetischste - und der dramatischste. Seine Ermordung am 8. Dezember 1980 hat ihn vor der Zeit verewigt. Kein Wunder, ihn als Filmgeschichte zu entdecken. Obwohl der Film geradeaus und sehr vital dem Lebenstrauma Lennons - dem Verlust seiner Mutter, erst durch Entfernung, dann ihren Unfalltod - nachspürt, trägt er nicht wirklich zur Ernüchterung um das Phänomen John Lennon bei. Im Gegenteil, man verliebt sich neu. Hauptakteure des Zentralkonflikts sind die zwei Schwestern Julia und Mimi, die wie in einem antiken Drama perfekte Antipoden bilden.

Was Julia an Ruhelosigkeit hat, hat Mimi an Beständigkeit, was Julia an Inspiration für den Jungen bedeutet, ist Mimi an Fürsorge, Julias Zweideutigkeiten für Mimis Strenge. Chaos und Ordnung, Künstlertum und Kleinbürgertum in kreativer Mischung. In seiner unbeirrten Suche nach Aufklärung der Lennon-Kindheit steuert der Film beinahe auf ein Happy End, die Versöhnung der Schwestern zu, da läuft Julia vor ein Auto und stirbt. Das ist eine Dramaturgie, die nur wahre Ereignisse besitzen. Denn der Tod von Mutter Julia macht hier überhaupt keinen Sinn. Er geschieht einfach.

Schwer traumatisiert wird John Lennon trotz des Welterfolgs der Beatlles Jahre später, 1970, seinen Schmerz in dem Lied “Mother” mehr schreien als singen: “Mama, don’t go, Daddy come home!”. Der Schmerz gerät, wie viele Schmerzen, zur Anklage: “I needed you, but you didn’t need me!”.

John Lennon in der Filmversion hatte jedoch auch das Glück, dass seine familiäre Umgebung die Probleme nicht verdrängte, sondern sie stets kurz unter der Oberfläche pulsieren ließ. Die Erwachsenen in dem Film wirken aufrecht und überhaupt nicht konfliktscheu.

Der junge klaräugige Schauspieler Aaron Johnson als John Lennon ist ein Erlebnis, auch wird er ihm im Laufe des Films immer ähnlicher. Kristin Scott Thomas als Tante Mimi darf ganz englisch und streng sein und Anne-Marie Duff beeindruckt mit ihrer Darstellung von John Lennons Mutter, zierlich, kraftvoll und begabt, in ambivalenter Koketterie gegenüber dem eignen Sohn, zerstörerisch.

Harmonisch gehen in dem Film Kindheitstrauma, Pubertät und Musikgeschichte ineinander auf, das Vorbild des Rock’n Roll in den 50iger Jahren und der Mythos Elvis Presleys in Wirkung auf die Jungen werden in aufregendem Rhythmus erzählt.

Am Schluss hebt die Kamera auf dem Kran den Blick der Zuschauer über die heimatliche Siedlung hinaus, sieht dem Jungen nach, wie er nach Hamburg auf Tour geht. Jede Woche bis zu seinem Tod rief er Tante Mimi an. John Lennon eigentlich hatte doch viel mehr Heimat als der Titel impliziert.

Ein schöner Film.

A.S.H. | 09.12.10 14:41 | Permalink