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Hof der Angesteckten

Jean-Claude Schlim, “House Of Boys”
Für ostblog.de von Angelika Nguyen

Luxemburg 1984. Der jugendliche schwule Frank verlässt kurz nach dem Coming Out sein Elternhaus Richtung Amsterdam, wo er als gut aussehender Frischling gern ins House Of Boys aufgenommen wird. Das Haus ist eine Mischung aus Pension, Nachtclub-Varieté und Puff. Geleitet wird es von Madame, einem alternden Schwulen aus Deutschland.

Der Film erzählt das Eintauchen Franks in sein neues Leben. Frank hat One-Night-Stands, nimmt Drogen, hat Erfolg in der Show und als Stricher, verliebt sich. Die Figuren des House Of Boys lässt der Film in einer Art schwuler Typenparade aufmarschieren: da ist der hypermännliche Punk Dean, zu dem Frank schnell mal unter die Dusche geht, der kleine feminine Angelo, der für seine Geschlechtsumwandlung spart, der reiche Freier Rick aus den USA und der schöne bisexuelle Jake, die Hauptattraktion auf der Bühne und sehr begehrt bei den Kunden.

Trotz seiner naiven Ausführlichkeit bleibt der Film geradlinig und erzählt auch keine abschreckenden Beispielgeschichten von brutalen Freiern und schwulen Opfern. Vielmehr zeigt er Franks Emanzipation, seine neu gewonnene Freiheit: “Das Leben ist leichter”, sagt er, “wenn man der sein kann, der man ist.” Auch wird der soziale Hintergrund von Figuren angedeutet, wovon die Missbrauchsgeschichte Jakes die ausführlichste ist. So plätschert der Film eine Zeitlang erzählerisch vor sich hin, bis Jake eines Nachts zusammenbricht. Das ist die Zäsur. Jake hat eine neue rätselhafte Krankheit, heute genannt Aids.
Der physische Verfall Jakes wird klinisch genau gezeigt, wie ein Präzedenzfall. Erschöpfung, die Vermehrung der braunen Flecken des Kaposi Sarkoms, Atemnot. Diese Präzision bildet ein Gegengewicht zu einiger Sentimentalität. Indessen zeigt der Film nicht etwa die Ausbreitung, Jake bleibt der einzige Aids-Kranke. Mit kaum einer Andeutung wird thematisiert, dass auch Frank und alle Boys vermutlich angesteckt sind. Es geht um die Ambivalenz der neuen Freiheit: eine neue Krankheit.

Bei aller Langsamkeit, die vielleicht die 80iger meint, der umständlichen, manchmal fast betulichen Erzählweise hat der Film dennoch Charme. Das liegt vor allem an seinen Schauspielern. Allen voran die beiden jungen Engländer Layke Anderson und Benn Northover als Liebespaar Frank und Jake. Anderson spielt den verwöhnten, naiven Frank mit derselben Glaubwürdigkeit wie Jake die Zerrissenheit des traumatisierten Strichjungen. Special Guest Udo Kier leistet in der Rolle der Puffmutter ganze Arbeit. Seine traurige alternde Madame gehört zu dem besten.

Auch fehlt dem Film jede Attitüde einer Gib-Aids-keine-Chance-Kampagne. Aus der Binnenperspektive der Angesteckten kreiert er eher ein Grundgefühl von Trauer und Solidarität. Ein ganzer Lebensstil ist bedroht. Programmatisch stellt der Film ein Zitat aus James Baldwins “Giovannis Zimmer”, einem der ersten großen schwulen Romane des 20.Jahrhunderts, voran: “One day I’ll weep for this. One of these days I’ll start to cry.” (“Eines Tages werde ich weinen, irgendwann werde ich anfangen zu weinen.”)

Die Warnung wird außerhalb der Handlung in den nackten Zahlen des Abspanns platziert. Das Besondere des Films ist seine Brisanz, um die wir wissen, ohne dass der Film sie erwähnt. Der Bruch im Leben jener Jungs markiert eine historische Zäsur, die Anfang der 80iger die ganze Welt erschütterte, bis zum heutigen Tag. Wird Aids im Film nur als Schwulenseuche bezeichnet, ist inzwischen bekannt, wer sich noch anstecken kann: alle .

(Diese Text ist auch im Freitag nachzulesen)

A.S.H. | 01.12.10 12:17 | Permalink