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Gegen jede etablierte Macht auf Seiten des Schwächeren

– Zum 100. Geburtstag von Jean Genet (19. 12. 1910 – 15. 4.1986)

Von Jürgen Schneider

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Jean Genet, 1983 in Wien, Foto: Wikimedia.

Ihrer Erklärung »Das Ende unserer Politik« vom Januar 1992 stellten die Revolutionären Zellen das folgende Zitat voran: »Wir sollten akzeptieren, dass diejenigen, die ihr Terroristen nennt, von sich aus und ohne dass man sie darüber aufklärt, erkennen, dass ihr physisches Dasein und ihre Ideen nur kurze Blitze sein werden in einer Welt undurchdringlicher Prachtentfaltung. Fulminant – Saint-Just wusste um seine Fulminanz, die Black Panther wussten um ihre Brillanz und um Ihr Verlöschen, Baader und seine Gefährten sagten den Tod des Schahs von Persien voraus; auch die Fedajin sind Leuchtspurgeschosse, die wissen, dass ihre Flugbahn augenblicklich erlöschen wird.« Das Zitat war dem letzen Werk von Jean Genet entnommen: Ein verliebter Gefangener. Palästinensische Erinnerungen.

Genets Lebensweg ist abenteuerlich: Sein Vater war unbekannt. Erst jüngst wurde bekannt, dass er Blanc hieß. Genets Name wäre demnach mit Hänschen Weiß zu übersetzen. Die Mutter gibt den 7-Jährigen Jean in die öffentliche Fürsorge. Der Junge wächst zunächst als Pflegekind bei Bauern auf und wird mit zehn Jahren das erste Mal beim Klauen ertappt. Als Sechzehnjähriger wird er der Landstreicherei beschuldigt und in die Landwirtschaftliche Strafkolonie Mettray überstellt. Neunzehnjährig verpflichtet er sich für zwei Jahre zum Militärdienst. Genet, der schon früh erkannte, das er schwul ist, hat das »süße Gefühl, unter Männer aufgenommen zu werden.« Ein Jahr später wird er nach Beirut eingeschifft und für elf Monate in Damaskus stationiert. Der arabischen Welt sollte er sein Leben lang verbunden bleiben.

Aus der Armee entlassen, lebt er ein Weile in Spanien als Bettler, »von einem Slum zum anderen ... ich war eine Laus.« Er verpflichtet sich noch zweimal für den Armeedienst, desertiert und vagabundiert im Sommer 1937 durch Frankreich und Europa. Während er in Deutschland ist, kommt er zu der Einsicht: »Ich hätte gerne gestohlen. Eine unbekannte Macht hielt mich zurück. Deutschland flößte ganz Europa Entsetzen ein, es war, vor allem in meinen Augen, zum Symbol der Grausamkeit geworden. Es war bereits ausgestoßen. Selbst Unter den Linden hatte ich das Gefühl, in einem von Banditen organisierten Lager spazieren zu gehen.« Die SPD-Politikerin Lily Pringsheim schrieb später über Genet: »Es ist ein ewiger Jammer, dass Genet nicht dazu ausersehen war, Hitler zu ermorden. Als unbekannter Vagabund und Bettler, der politisch unverdächtig und Ausländer ist, hätte es ihm gelingen können.«

In Antwerpen steigt Genet in das Geschäft des Zuhälters Stilitano ein, den er aus Spanien kannte. Als er sich für kurze Zeit in Paris aufhält, wird er als Deserteur verhaftet. Wieder auf freiem Fuß, lebt er als Dieb und Bettler. Mal klaut er zwei Bände einer auf Japanpapier gedruckten Proust-Ausgabe, mal kostbare Verlaine-Werke und erklärt später: »Wäre ich kein Dieb geworden, wäre ich heute noch dumm.« Er plädiert für das Studium der Gesetze, denn: »Wer die Gesetze nicht kennt, bringt sich um das Vergnügen, gegen sie zu verstoßen.« Im Gefängnis fängt er an zu schreiben.

Vor Gericht bezeichnet Jean Cocteau, der sich auch um die Veröffentlichung von Genets Roman Notre-Dame-des-Fleurs kümmert, in dem dieser das Verworfene ästhetisiert, den poète maudit 1943 als »den größten Schriftsteller der heutigen Zeit« und bewahrt den vielfach Vorbestraften damit vor einem lebenslangen Freiheitsentzug. Gegenüber Hubert Fichte führte Genet später aus, er habe seine Mordimpulse zugunsten dichterischer Impulse abgeleitet.

Genet wurde international als Schriftsteller bekannt. Er nutzte seinen Ruhm und setzte sich für Immigranten ein, diskutierte im Mai 1968 mit den revoltierenden Pariser Studenten und veröffentlichte im Nouvel Observateur ein Loblied auf Daniel Cohn-Bendit: »... dank ihm kennt jeder Reisende, der durch Paris fährt, die Anmut und Eleganz einer Stadt, die revoltiert.«

In Chicago demonstrierte Genet 1968 mit seinen Schriftstellerkollegen Allen Ginsberg und William Burroughs sowie Tausenden von Hippies gegen den Vietnamkrieg. Er nannte die Hippies »Engel« und fügte hinzu: »Sie sind zu sanft, zu freundlich. Eines Tages werden sie's einsehen.« Doch sollten die jungen rebellierenden Amerikaner jemals siegen, werde er sich gegen sie wenden. Den gleichen Gedanken äußerte er später im Hinblick auf die Palästinenser. Und viel grundsätzlicher erklärte er Hubert Fichte: »Ich möchte, dass die Welt sich nicht verändert, damit ich mir erlauben kann, gegen die Welt zu sein.«
1970 engagierte Genet sich öffentlich für die Black Panther, war mit ihnen zwei Monate lang auf Vortragreise durch die USA. »Die Black Panther« - so schrieb er in Ein verliebter Gefangener – »führten sich von 1966 bis 1971 auf wie junge Barbaren, bedrohten die Gesetze und Künste, beriefen sich auf eine marxistisch-leninistische Religion, die mit Marx und Lenin so verwandt war wie Dubuffet mit Cranach.« Genet kritisierte die Homophobie, die sich in den Schimpfwörtern zeigte, mit denen die Black Panther den damaligen US-Präsidenten Nixon bedachten, und brachte – wie Angela Davis berichtet – bei ihnen eine Diskussion über die Ähnlichkeiten des Kampfes gegen Rassismus und des Kampfes gegen Homophobie und Frauenfeindlichkeit in Gang.

Im Oktober 1970, kurz nach dem Schwarzen September, folgte Genet einer Einladung nach Beirut und reiste weiter nach Jordanien: »Obwohl ich mehr aus Spaß als aus Überzeugung der Einladung, einige Tage bei Palästinensern zu verbringen, gefolgt war, blieb ich doch insgesamt fast zwei Jahre bei ihnen.«
Genet zeigte sich besonders beeindruckt von den palästinensischen Frauen und ihrer »zusätzlichen Tugend« eines »gewaltigen Gelächters«. Schon in seinem Theaterstück Die Zofen lässt er eine Zofe sagen: »Lachen müssen wir, sonst fliegen wir fort vor lauter Tragik.«

Nichts zu lachen gab es für ihn allerdings angesichts der Anfeindungen, denen er ausgesetzt war, nachdem am 2. September 1977, also drei Tage vor der Schleyer-Entführung, in Le Monde Auszüge aus dem Vorwort für eine französische Ausgabe der Schriften der RAF erschienen. Genet unterscheidet darin zwischen der »Brutalität« des Staates und der heilsamen »Gewalt« der RAF.
Im Gespräch mit Hubert Fichte hatte Genet 1975 von seinem Willen gesprochen, gegen jede etablierte Macht auf Seiten des Schwächeren zu stehen.

Genet wollte zwar »die Sprache so schön bearbeiten, wie nur möglich«, aber nie ein bürgerliches Subjekt werden, sondern, so Stefan Zweifel, »ganz Projekt bleiben, ein nomadisierendes Trajekt gleichsam wie das vertriebene und herumgetriebene Volk der Palästinenser.«

Und hatte Genet schon über seine Unterstützung für die Black Panther gesagt, man könne nicht bewundern, ohne zu lieben, so war mit l'amour 1982 auch endgültig seine Position gegenüber den Palästinensern definiert: »Ich bin Franzose, doch ohne Logik verteidige ich ganz und gar die Palästinenser. Das Recht ist auf ihrer Seite, weil ich sie liebe. Doch würde ich sie lieben, wenn das Unrecht sie nicht zu einem Wandervolk gemacht hätte?« Dies schrieb Genet in seinem Essay Vier Stunden in Chatila. Nach den Massakern christlicher Milizen in Sabra und Chatila zählte er am 19. September 1982 zu den ersten Ausländern, die das Lager betreten durften.

Liebe – so der Genet-Biograph Albert Dichy – mache blind, doch zerstöre sie auch Hierarchien und schaffe egalitäre Beziehungen. Das geliebte Objekt werde wichtiger als das liebende Subjekt, es nehme gefangen. Jean Genet habe aufgehört, Beobachter zu sein und sei selbst verletzlich geworden.

»Wen wundert es, dass uns Genet eine Bombe als Testament hinterläßt?« hieß es im Nouvel Observateur bei Erscheinen von Ein verliebter Gefangener. Als »die einzig wahren Dinge«, die ihn zum Schreiben dieses Buches angeregt haben, nennt Genet dort »die Haselnüsse, die ich von den Sträuchern in Ajlun pflückte.« Genet, der seit 1978 an Kehlkopfkrebs litt, starb im April 1986 in Paris während der Fahnenkorrektur an Ein verliebter Gefangener. Am 19. Dezember 2010 wäre er hundert Jahre alt geworden. Sein Grab befindet sich in Larache, Marokko. An Allen Ginsberg hatte er einst geschrieben: »Mögen wir uns wiedersehen irgendwo auf der Welt, in Gestalt eines buddhistischen Fisches.«

A.S.H. | 18.12.10 19:30 | Permalink