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Coming out aus deinem beschränkten Leben!

“Milk” über den Schwulen-Aktivisten Harvey Milk, Regie: Gus Van Sant

Von Angelika Nguyen

Ein Film über Schwule ohne eine einzige Sexszene. Wer hätte das nach Brokeback Mountain und den Almodòvar-Filmen gedacht. Nein, die Liebesszenen von “Milk” finden nicht im Bett statt, sondern an Mikrofonen und in Menschenmengen, an Telefonen und bei der Aufführung der Oper “Tosca”. So bleibt das Private ein wenig auf der Strecke – ungewöhnlich für ein Biopic.

Aber “Milk” wird dadurch nicht unglaubwürdiger, nicht mal unerotischer. Das liegt an der Art von Film, die Gus Van Sant gemacht hat. “Milk” ist ein politischer Film, der sagt: Ich bin ein politischer Film. Er versteckt das immens politische Thema der Integration schwulen Leben nicht hinter einem privaten Stellvertreter-Konflikt. Und doch erzählt “Milk” sehr knapp eine tiefe Liebesgeschichte, die zwischen Harvey und Scott. In der Rolle des Scott überrascht James Franco mit einer starken, schönen Ausstrahlung. Die Wärme zwischen Scott und Harvey – ihre Harmonie in gleichermaßen erotischem und geistigem Einverständnis kommt eben ohne Sexszene aus. Eine kluge Einsparung.

Vielmehr setzt dieser Film Erotik und Begehren als Antrieb voraus, macht er es zu dem, was es zu beschützen gilt. Das Besondere an “Milk” ist die Perspektive aus dem Inneren der Szene, aufgeschrieben vom schwulen Filmautor Dustin Lance Black, der dafür den Oscar bekam. Er macht die homosexuellen Protagonisten für das Publikum zu ganz normalen bedrohten Menschen. Anders sind sie, ja, aber irgendwie normal.

In unseren Zeiten und Breitengraden mit Homoehe, einem offen schwulen Regierenden Bürgermeister, geschlechtsumgewandelten Ex-Bundestagsabgeordneten ist es vielleicht erst der Blick zurück, der die Leistung von Harvey Milk einordnen kann. Zu Beginn tritt die Fiktion sogar gänzlich hinter die Fülle der Dokumentaraufnahmen zurück. Echte Polizeirazzien in amerikanischen Großstädten, in Lokalen, einschlägigen Vierteln, Schwule herausgetrieben aus Bars, Gummiknüppel. Das Dokumentare ist richtig und notwendig zur Einstimmung auf die Fiktion, nur die blanke Realität holt hier die Zuschauer zurück in die 70iger Jahre, als Homosexuelle noch per Gesetz diskriminiert wurden und in der Gesellschaft geächtet.

Harvey Milk, eigentlich ein Kameraladenbesitzer, gehörte zu einer Minderheit, suchte aber Mehrheiten auch außerhalb der homosexuellen Szene und wurde zum Politiker. Extravaganz und Integrität zugleich: das war offenbar die besondere Mischung Milks, die in gewisser Weise auch seinen Darsteller Sean Penn auszeichnet.
Insofern, aber auch handwerklich gesehen, ist Penn die Idealbesetzung für Milk, was ihm die Filmakademie in Los Angeles auch hoch angerechnet hat und ihm unbeirrt seinen zweiten Oscar in die Hand drückte. Oft steht Sean Penn als Harvey Milk vor einer Menschenmenge, Sean Penn, der muskulöse Macho, plötzlich auf unerklärliche Weise zart, mit einem offenen, mühsam gebändigten, immer wieder hervor brechenden unwiderstehlichen Lächeln, dem Harvey-Milk-Lächeln. Er steht vor der Menge im engen bunten T-Shirt und geschmeidig wirft er seinen Körper ein paar Zentimeter höher, als er in die Menge seinen berühmten Satz ruft: “Ich bin Harvey Milk und will euch rekrutieren!”. Die Menge tobt. Das ist Method Acting, das Resultat akribischer Vorbereitung und des Studiums der Physiognomie des echten Harvey Milk. Das Ergebnis ist verblüffend, mehr noch, wenn man Sean Penn nicht weniger mitreißend als konservativen, in seiner traditionellen Geschlechterrolle gefangenen Todeskandidaten in “Dead Man Walking” gesehen hat. “Milk” ist ein Film für Sean Penn, aber nicht nur das. Auch für eine bunte Truppe von jungen Schauspielern und alten Aktivisten von damals, die demokratisch die Gruppe um Sean Penn bilden, wobei jeder sichtbar über sich hinaus wächst.

An seinem 40. Geburtstag, an dem er auch seiner großen Liebe begegnet, dem jungen Scott Smith, begegnet, merkt Milk, dass er mit 40 Jahren immer noch nichts hat, worauf er stolz sein könnte. Scott schlägt ihm den Umzug nach San Francisco vor: ein folgenreicher Entschluss. Als wüsste er, dass es seine letzten Jahre sind, startet Milk in der neuen Umgebung voll durch, indem er seine persönlichste Sache zu einer öffentlichen macht. Homosexuellen-Diskriminierung als Thema in die Mitte von Politik, in Wahlkämpfe und Stadtverordnetenversammlungen zu tragen, wird Milks Lebensinhalt.

Lange zeigt der Film aber nur die Szene ums Castro-Viertel in San Francisco. Wo, fragt man sich als Zuschauer allmählich ist eigentlich der Feind? Genau an dieser Stelle setzt der Konflikt mit den Gegenspielern, den politischen Milk-Feinden ein. Dan White und Anita Bryant hetzen und zu dieser Zeit war die gesellschaftliche Basis der Konservativen sehr breit. Es geht dem Film nicht um das Selbstbewusstsein der Schwulen in ihrem eigenen Schutzraum, sondern es geht um die Erweiterung dieses Raumes, um die Sprengung der Außenwände des Schrankes, um die Aufgabe der so genannten Doppelexistenz. Es geht um die Überzeugung der Menschen da draußen. Das Screenplay arbeitet das Coming out als Gretchenfrage heraus. Coming out als größte Herausforderung im Leben eines jeden homosexuellen Menschen und das politische Coming Out der Schwulenbewegung in die Gesellschaft. Eine Schlüsselszene ist die, als Harvey Milk vor seinen eigenen Leuten eine Rede hält über die Bedeutung des Coming out als Basis der Integration. Dann stellt er einem der Anwesenden ein Telefon hin: ruf sie an, deine Eltern. Hier ist Regisseur Gus van Sant jeder Verkitschung ausgewichen: der Mann ruft nicht an. Aber dieser Moment des Schweigens zeigt wie schwer es ist, das Coming Out – und wie befreiend. Und Scott selbst erinnert Milk an dessen eignes verstecktes Leben in NYC, wie er Scott nicht mitnahm zum Sonntagsessen der Eltern.

In Milks verrücktem Liebhaber Jack zeigt der Autor den Typ des extrem labilen Schwulen, der zerbricht. Einmal schließt sich Jack im Schrank ein und will nicht heraus kommen. Milk steht vor dem Schrank und bittet: “Come out of the closet!! - Komm aus dem Schrank raus!” Ein deutliches Symbol, vielleicht ein bisschen zu deutlich.
Auf jeden Fall zeigt diese Episode, dass auch Ikone Harvey Milk sich mitunter nicht zu helfen wusste.
Schlecht beraten war der Autor mit dem Einfall, Milk am Filmanfang an einen Küchentisch zu setzen, ihn auf Band seine Lebensgeschichte erzählen und ihn immer wieder mit diesem langweiligen Bild die Geschichte unterbrechen zu lassen.

Aber “Milk” ist letztendlich ein starker Kinofilm. Er widerstand auch der Versuchung, Milks revolutionären Satz , den man am Harvey-Milk-Plaza in San Francisco findet:

“If a bullet should enter my brain, let that bullet destroy every closet door” direkt zu verwenden. Statt dessen verfilmte Gus Van Sant dessen Sinn.

Dieser Satz bezeugt, wie sehr sich Harvey Milk bewusst war, dass er ermordet werden kann. Er hat trotzdem weiter gemacht.

A.S.H. | 08.03.09 16:09 | Permalink