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Saukerl

Du warst Minus, ich war Plus.
Der Strom ging weg und dann war Schluss.

Das momentan stattfindende 68er Geburtstagfeiern hat sich nur spärlich in das aktuelle Musikgeschehen geschlichen, vorherrschend bleibt dort die Rückbesinnung auf Zeiten des Punk. Die englischen Neopunkbands behaupten sich standhaft und stürmen die Charts, alte Helden veröffentlichen neue Platten. Das das Thema auch im deutschsprachigen Raum durch Bücher, Plattenveröffentlichungen, Filme und Ausstellungen präsent ist, ist seit Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“ aus dem Jahre 2001 Alltag. Dabei scheint der Osten derweil aktiver. Soeben erschien ein Buch mit dem Titel „Satan, kannst Du mir noch mal verzeihen“ über den Punkrockstar der DDR – Dieter Ehrlich, genannt Otze.
Otze gründete mit seinem Bruder Klaus 1979 die legendäre Punkband Schleim-Keim in Stotternheim bei Erfurt. Um Otze ranken sich nicht erst seit seinem Tod im Jahr 2005 in einer forensischen Einrichtung etliche Legenden. Die Buchherausgeber Anne Hahn und Frank Willmann entschieden sich dafür, sie aufzugreifen. Sechzehn, nur männliche, Zeitzeugen erzählen ihre Erlebnisse mit Otze und eigene Heldentaten. Da werden Bierfässer aus Kneipen gerollt, verfeindete Armeen mit blanken Fäusten besiegt und komplette Drogenlabors durchgetestet. Dabei passiert es, dass es zu vollkommen verschiedenen Erinnerungen zu gleichen Geschehnisse kommt. Zum Beispiel was die Geschichte über die erste Vinylerscheinung mit einer DDR-Punkband betrifft, oder vielmehr den Honorar-Abhol-Besuch bei Sascha Anderson.

Auf Andersons Betreiben erschien 1983 die Platte „eNDe – DDR von unten“. Da alle anderen vorgesehenen Bands auf Druck der Staatssicherheit ihre Teilnahme zurückzogen blieben noch die Künstlerband Zwitschermaschine aus Dresden und Schleim-Keim übrig, die sich auf der Platte Sau Kerle nannten. Die Platte erschien auf dem Westberliner Label Aggressive Rockproduktionen. Labelchef Dimitri Hegemann, seit 1990 in Berlin ein wichtiger Motor der Techno- und Clubszene, hatte seit Erscheinen der Platte DDR-Einreiseverbot. Den beteiligten Musikern wurden von Anderson Belegexemplare und DM versprochen. Doch weder Geld noch Vinyl kam nach Stotternheim, stattdessen die Stasi. Otze reiste später mit Verstärkung in Berlin bei Anderson an, um seinen Lohn abzuholen. Im Buch spielte sich dieser Besuch bei den interviewten Freunden komplett anders ab. Bei dem Einen wurde Anderson an einen Schaukelstuhl gefesselt, bei einem Anderem war gar niemand zuhause, aber bei Beiden wurde Geld aus einer Handtasche mitgenommen. Nach anderen Berichten trat Otze die Tür ein und es soll zu einem Disput mit Anderson gekommen sein, worauf dieser das Geld rausrückte.
Auch mit Daten habe so einige ihre Probleme. Gerne wird zurückdatiert. Da wird von einem Konzert mit Schleim-Keim berichtet, denen da schon ein schlechter Ruf vorausgegangen sein soll, weit vor dem ersten Schleim-Keim Konzert im Dezember 1981 in Erfurt und Bands wollen mit Schleim-Keim zusammengespielt haben, an die sich niemand erinnern kann. Und wenn die Erfurter Punks als Wildschweinherde bezeichnet werden und Otze als Superschläger, stellt man sich Straßenkampfszenen aus dem Scorsese Film „Gangs of New York“ zwischen den „Natives“ und den „Dead Rabbits“ vor. Aber sieht man dann die Fotos der süßen zwanzigjährigen Punks und erinnert sich an die obligatorischen Schubsereien bei Punkkonzerten, dann wirkt jede 3. Halbzeit eines BFC-Spiels dagegen wie ein Supergau. Auch wie es 1999 zu den Ereignissen im Stotterheimer Hof kam, im Laufe derer Otze seinen Vater erschlug, gibt es verschiedene Versionen.
Spannend ist das Buch vor allem dort, wo Zeitzeugen mehr als ihre Erlebnisse mit Otze bieten und vom Leben in den 80ern und was dem voraus ging berichten. Wie bei Walther Schilling, dem Vater der „Offenen Arbeit“. Walther, Jahrgang 1930, prägte wie kein anderer in der DDR die politische Jugendarbeit in den 70er und 80er Jahren für Unangepasste. Inspiriert von der 68er Revolte „kümmerte“ er sich ab 1969 um langhaarige Kunden. Legendär die „June“ -Veranstaltungen in einer Rudolstädter Kirche 1978/79 und 1986. Da dann schon mit einer großen Anzahl von Punks und Skinheads. Walther Schilling fand vor allem in Thüringen Mitstreiter, die dann später Anfang der 80er erste Orte für Punkkonzerte zur Verfügung stellten. Die Kirchenleitung in Erfurt unterstützte diese Arbeit. Dort haben sich Theologen wie Probst Heini Falcke für eine offene Gesellschaft, für einen verbesserbaren Sozialismus eingesetzt. Die „Offene Arbeit“ breitete sich in der ganzen DDR aus und war bis zum Herbst 89 organisatorische und politische Weggefährten der Punkbewegung.
Im zweiten Teil des Buches skizziert Anne Hahn in ihrem Text „Legende und Wahrheit“ Otzes Leben. Dabei nutzt sie Stasi-Akten um wichtige Etappen zu skizieren. Und sie versucht getreu des SK-Liedes „Spione im Cafe“ etwas Licht ins Dunkel des IKMO „Richard“ zu bringen. Otze traf sich 1982/83 regelmäßig mit Mitarbeitern der Abteilung K1 zum Plaudertermin und bekam dafür etwas Trinkgeld. Die gesichteten Akten bergen keine Überraschungen, Otze gab als „Richard“ stets nur Mündliches zu Bericht. Die K1 war nach Außen eine Abteilung der Kriminalpolizei und auch Otze wurde dies so bescheinigt. Erst seit 1990 wissen wir, dass die K1 dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war.
Otze selbst ist am Buchende in zwei abgedruckten Gesprächen präsent, seine Kraft, seine Sehnsucht wie auch Wahnsinn werden spürbar.

Die Autoren gehen mit dem Buch „Satan kannst Du mir noch mal verzeihen – Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest“ (Ventil Verlag) auf Thüringen-Tour: 4. April in Erfurt, 20.00 Uhr, Kunsthaus Erfurt/ 5. April in Weimar, 22.00 Uhr, Gasthaus Zum Falken/ 6. April in Jena, 20.30 Uhr, Cafe Wagner.

natter | 03.04.08 20:48 | Permalink