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Dennis Gansel verfilmte den berühmten Stoff
von Angelika Nguyen
Stell dir vor, es ist Faschismus und du bist mittendrin. Welche Rolle würdest du einnehmen?
Quelle: Pressefoto Constantin Film
Seit über 20 Jahren ist “Die Welle”, der Kurzroman um ein reales Faschismusexperiment an einer USA-Highschool, ein Klassiker, der auch bei uns an Schulen gelesen wird.
Regisseur Dennis Gansel nahm sich den modellhaften Stoff vor und griff, statt den Roman zu verfilmen, zu den Originalprotokollen. Außerdem verlegte er die Ereignisse von den USA 1967 ins heutige Deutschland.
Der Film beginnt mit Normalitäten. In einer Oberschule steht eine Projektwoche an, Der besonders beliebte und unkonventionelle Lehrer Reiner Wenger bekommt ungewollt das Thema Autokratie. Schön langsam erzählt der Film, wie der Lehrer, den die Schüler duzen und beim Vornamen nennen dürfen, die Klasse an das Thema heranführt. Als die Begriffe Faschismus und Drittes Reich fallen, stöhnen die Jungen und Mädchen auf. Nicht schon wieder! Wozu überhaupt. Zum Faschismus, finden sie, ist alles gesagt und warnen muss einen keiner mehr davor. So? fragt Lehrer Renger und hat schon eine Idee. Er setzt die Schüler um, reißt sie aus ihren Cliquen und weist an, ihn fortan mit “Herr Renger” und Sie anzureden. Ein Spaß, denken viele. Manche denken vielleicht: vernünftig, Respekt vor dem Lehrer ist wichtig. Ein paar fragen Wieso, aber nicht für lange. Die Zweifler, die später Widerstand leisten, werden schnell zu Außenseitern. Am nächsten Morgen, während der zackigen Begrüßung, steht manchen schon die Begeisterung im Gesicht. Ganz allmählich, von Montag zu Freitag, zeigt der Film die Veränderungen. Die selbstverständliche Ablehnung von Diktatorischem schwindet dahin bei vielen, die am Anfang neutral waren. Eindrucksvoll die Szene, in der der Lehrer die Jungen und Mädchen auf der Stelle im Klassenraum marschieren lässt. Spürt ihr es? schreit er, spürt ihr die Gemeinsamkeit?! Die unterschiedlichen Reaktionen auf den jungen Gesichtern, Begeisterung, Widerstreben, Mitgerissensein. Faschismus, schreit Lehrer Wenger, das ist Gemeinsamkeit. Spürt ihr eure Kraft? Sie spüren sie. Die Schüler sind mitten im realen Experiment. Diese Projektwoche ist mal was anderes. Hier wächst etwas heran, dessen Gefährlichkeit Lehrer Renger ihnen am eignen Leib zeigen will. Die Gefahr, die in der Attraktivität liegt, im durchaus Verfühererischen von Gruppengefühl und Gemeinsamkeit. Würde der Faschismus von Anfang an sein wahres Gesicht zeigen, so die Lehre der Projektwoche, wäre es ja einfach, ihn zu verhindern. Darin liegt das Besondere des “Welle”-Stoffes. Er zeigt, wie harmlos die Mittel erscheinen können, die zum Faschismus führen.
Doch die Sache gerät aus dem Ruder. Ein Schüler kann nach Schulschluss nicht aufhören, andere folgen ihm. So manchem erscheint der Totalitarismus der neuen Freizeitgruppe als Ausweg aus eigner Gleichgültigkeit und Konsumstruktur. Sogar der coole Lehrer Renger entdeckt Attraktives an seiner Führerrolle. Anders als im Roman verliert auch der Erwachsene die Kontrolle. Als er die Sache abbrechen will, ist es längst zu spät. Im Gegensatz zum Roman lässt es Regisseur Dennis Gansel nicht beim Gedankenspiel, sondern führt die Ereignisse folgerichtig zur Eskalation. Das Drama, will es wirklich lehrreich sein, fordert Opfer.
Das führt die Geschichte zu einem erschütternden Schluss. Getreu den griechischen Tragödien wollte Gansel keine geredete Moral, sondern Furcht und Mitleid aus den Ereignissen selbst für die Zuschauer schaffen. Ein Schluss als Knall.
Nach “Napola” hat Gansel, Jahrgang 1973, mit “Die Welle” seine Auseinandersetzung mit dem Thema Faschismus und Massenpsychologie fortgesetzt, und er tut das auf höchst unterhaltende Weise ohne erhobenen Zeigefinger.
Gansel ist ein Geschichtenerzähler, kein Moralprediger. Die Figuren sind bei Gansel lebendige Charaktere mit persönlichen Geschichten und verlieren trotzdem nicht das Beispielhafte.
Wie auch bei “Napola” wurde für die Rollenbesetzung der Schüler viel Sorgfalt aufgewendet. Unbekannte starke Gesichter neben gestandenen Jungschauspielern wie dem zurückhaltenden Max Riemelt (schon als Hauptdarsteller in “Napola” ausgezeichnet) und dem großen Ausnahmestar des deutschen Films Jürgen Vogel als Lehrer. Diese Mischung ist interessant und explosiv. Das Zuschauen macht Spaß.
Gansel gestaltete den Film bewusst jung, neben den nüchternen Szenen zuweilen wie ein Rausch, ein Musikclip. Die Musik selbst ist laut, mitreißend und nervend zugleich.
Stell dir vor, es ist Faschismus: wie würdest du dich selbst verhalten? Welche Rolle würdest du einnehmen? Wärst du Mitläufer wie Dennis oder Fanatiker wie Tim oder würdest du Widerstand leisten wie Karo oder würde dir die Erkenntnis erst allmählich dämmern wie Marco? Oder hättest du das Zeug zu einer Leitfigur wie Lehrer Wenger?
Dem Film gelingt es, unter konkret zeitlichen Umständen universelle Fragen zu stellen. Das befreit sich vom Provinziellen, das deutsche Filmstoffe manchmal an sich haben und macht sich in aller Welt verständlich.
Kein Wunder, dass “Die Welle” zur Auswahl 2008 des renommierten Independence-Filmfestival “Sundance” in den USA gehört.
A.S.H. | 20.03.08 12:56 | Permalink