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Umgefallen

Gestern wurde im Berliner Abgeordnetenhaus durch SPD und Linkspartei die Novellierung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) beschlossen. Für die Änderung, die mehr Überwachung bedeutet, stimmten 74 Abgeordnete, dagegen 73 Abgeordnete.

Lars Oberg (sitzt für die Berliner SPD im Abgeordnetenhaus) am Mittwoch, 21.November 2007, im Interview in der "junge welt":

„Wie ist Ihre Position zur Änderung des Polizeigesetzes?
Die Novellierung stößt auch bei mir auf große Skepsis, und ich bin froh, daß sich meine Partei am Wochenende viel Zeit genommen hat, um das Thema zu diskutieren. Besonders problematisch sehe ich die Videoaufzeichnung zur »Eigensicherung« von Polizeibeamten. Immer wenn ein Polizist im Einsatz ist, soll er künftig unter dem Vorwand der Eigensicherung filmen dürfen. Der äußerst schwammige Begriff der »Eigensicherung« würde es unter Umständen auch ermöglichen, die Materialien zu speichern und zur Verfolgung von Straftaten auszuwerten. Das wäre eine Kompetenzausweitung der Polizei, die ich zweifelhaft finde.
Auch die geplante Identitätsfeststellung über den Weg der molekulargenetischen Untersuchung sehe ich als Problem. Eine DNA-Untersuchung ist nur dann sinnvoll, wenn die jeweilige Proben mit einer Datei aller Gen-Codes in der Bevölkerung abgeglichen werden kann. Eine solche Datei gibt es glücklicherweise in Deutschland bisher nicht, und sie darf es auch nicht geben. Die geplante Änderung ist jedoch ein Einfallstor dafür, eine solche Datei aufzubauen.
...“
Zum Abschluß des Interviews dann die Frage:
„Wie werden Sie am Donnerstag abstimmen?
Ich werde mich der Mehrheit meiner Fraktion anschließen. ...“

Häh? Was? Kriegt man doch eigentlich nicht zusammen, oder?
Okay, von SPD-Abgeordneten erwarten wir ja, daß sie trotz vorhandener „großer Skepsis“ (die Grünen sagen immer „mit Bauchschmerzen“) ihrer Führungsspitze wie Schäfchen folgen.
Manche nennen das „Parteidisziplin“ andere „demokratischen Zentralismus“. Wer sich nonkonform verhält, wird mit dem Ende seiner Parteikarriere bestraft! Das läuft in den anderen Parteien genauso. Dem kann man nur durch eigenen Austritt zuvorkommen (diese Woche: Frau Pauli von der CSU; in einem halben Jahr kennt die kaum noch einer!).

Auch zahlreiche Abgeordnete der Linkspartei emanzipieren sich mit zunehmender Dauer der Legislaturperiode vom „Wählerauftrag“ und ihrer Parteibasis, um anschließend nur noch ihrem „Gewissen gegenüber verantwortlich“ zu sein. Das ist natürlich Quatsch, denn auch diese Partei ist eine Partei, die das ursprüngliche Lenin`sche Prinzip von Partei-Disziplin, die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, die Rechenschaftspflicht und Absetzbarkeit der Leitung, auf den Kopf gestellt hat: Die Parteimehrheit ordnet sich der Führungsspitze unter!
Besonders kurios wird es, wenn die, die behaupten dagegen zu sein, die Gesetzesänderung ermöglichen, indem sie nicht dafür stimmen, weil sie ja dagegen sind, aber auch nicht dagegen stimmen, weil sie dann die Gesetzesänderung tatsächlich verhindert hätten.

Im Oktober 2007 hatte Evrim Baba aus dem Fraktionsvorstand der Linksfraktion ein Diskussionspapier veröffentlicht, in dem es hieß:
„Ich werde die über die Koalitionsvereinbarung hinausgehenden Verschärfungen nicht mittragen und bitte alle Abgeordneten genau abzuwägen, inwieweit sie diese Grundrechtseingriffe ohne Not befürworten wollen ...“

Klaus Lederer, Marion Seelig u.a. Innen- und Rechtspolitikerinnen aus der Linksfraktion antworteten in einem Gegenpapier, in dem es zurechtweisend heißt:
Die „Kritik zeugt von profunder Unkenntnis der Aufgaben und Funktion von Polizei in einem Rechtsstaat, wie die Bundesrepublik ihn darstellt. Dies führt zu einem grundlegenden Mangel der vorgelegten Argumentation gegen die geplante ASOG-Änderung ...“

Baba antwortet Anfang November auf das Gegenpapier, geht auf die Auseinandersetzungen in der Linksfraktion und den unsachlichen Umgang mit Kritik ein. Am Ende heißt es: „Nach wie vor halte ich damit insgesamt die vorliegenden ASOG-Änderungen vor dem Hintergrund der Koalitionsvereinbarung nicht als akzeptables Verhandlungsergebnis und kann diesen deshalb auch nicht meine Zustimmung geben.“

Die Stärke, sich gegen die Führungsspitze und gegen die Mehrheit zu stellen und an den eigenen Ansichten im Grundsätzlichen festzuhalten, hat durchaus imponiert.

Wie jämmerlich ist nun der Ausgang der ganzen Geschichte.
Evrim Baba und Mari Weiß enthalten sich der Stimme und ermöglichen so die Verabschiedung der Änderungen. Sie hätten gegen das Gesetz stimmen und es damit verhindern können.
In einer „Persönlichen Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten ...“ vom gestrigen Tag schreibt Evrim Baba:
„Ich habe mir die Entscheidung, mich zu enthalten, nicht leicht gemacht. Es waren die schwierigsten Momente meiner bisherigen parlamentarischen Laufbahn.“
Das Ende ihrer Erklärung verwirrt dann wieder: „ ... bleibt für mich neben der inhaltlichen Kritik und den verfassungsrechtlichen Benken noch etwas anderes fragwürdig: die Logik, erst mal einer solchen Gesetzesänderung zuzustimmen, damit Fraktions- und Koalitionsfrieden nicht gestört werden – und wenn wir bei den Grundrechten was übersehen haben sollten, wird’s das Verfassungsgericht schon richten. Das kennen wir eigentlich bisher nur von anderen Parteien.“ Als hätte das gar nichts mit ihr selbst zu tun. Hier kommt ihr offensichtlich die Vorstellung vom eigenen Entscheidungseinfluß abhanden, denn ihre Stimmenthaltung hat das erst ermöglicht, was sie kritisiert. Mari Weiß soll daran erinnert haben, „dass Parlamente dazu da seien, Bürger vor Willkür zu schützen. Das sei hier nicht gelungen.“ (welt.de)

Der Konformitätsdruck war offenbar so groß, die Vorstellung, von den anderen Fraktionskollegen ausgestoßen zu werden, so unerträglich, daß die, die das Gesetz ablehnen, durch Stimmenthaltung quasi zustimmten.
Die Erklärungen im Nachhinein sind nur Versuch, die kognitive Dissonanz, den inneren Konflikt, etwas gegen die eigene Überzeugung getan zu haben, aufzulösen.
Ob es helfen wird?

Das wir ohnehin Zuschauer einer parlamentarischen Unterhaltungsshow sind, kapiert auch Springers „Berliner Morgenpost“.
Dort heißt es heute: „In der parlamentarischen Debatte vor der Verabschiedung des Gesetzes zeigte sich eine schizophrene Situation. Die CDU hatte viele der neuen Regelungen seit Jahren gefordert - und stimmte gegen das Gesetz, während die Linksfraktion sich skeptisch gegenüber den Verschärfungen zeigte. ... Dennoch stimmte die Linksfraktion mit den zwei Ausnahmen dem Gesetzesentwurf zu.“

Das sollte hier auch noch erwähnt werden: Der größere Eklat ist natürlich, daß die Mehrheit der Linksfraktion sich nicht der Stimme enthalten, sondern für eine Verschärfung der Überwachung gestimmt hat!
Wer hat eigentlich warum diese Partei gewählt?


david | 23.11.07 18:55 | Permalink

Kommentare

..."kognitive Dissonanz"? Das kann man aber auch als Doppeldenk bezeichnen, also die Fähigkeit in seinem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten, und beide zu akzeptieren.

Absichtlich Lügen zu erzählen, und aufrichtig an sie zu glauben, jede beliebige Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist, und dann, falls es wieder nötig ist, sie aus der Vergessenheit zurückzuholen, nur solange wie nötig, die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen, und gleichzeitig die Realität zu akzeptieren, die man verleugnet; all dies ist zwingend notwendig.

Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Doppeldenk

Verfasst von: Emigrant | 23.11.07 21:03

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