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Mainstream statt Abendrothschule - Politikwissenschaft in Marburg gibt sich ein neues Profil

Während die Gesellschafts-KritikerInnen kriminalisiert und mit Terrorismusvorwürfen belegt werden, geht man an Universitäten nun über Kritik als solche, erst gar nicht in den Köpfen entstehen zu lassen. Was der Bologna-Prozess mit planmässiger Verdummung der Studierenden durch die Einführung von Bachalor/Master nicht erreicht hatte, wird durch intelektuellen Kahlschlag zu Ende gebracht. Nach erfolgreicher Abwicklung der "Frankfurter Schule", dem "Börsengang" der FU und des Otto-Suhr-Instituts in Berlin unter Dieter Lenzen und de , die anscheinend nur solange existierten, bis der letzte alte Prof nicht in Pension geschickt wurde ... folgt nun auch die Abendroth-Schule in Marburg. Interessanterweise wird in Marburg auch die Osteuropa-Forschung zugunsten eines "gegenwartsbezogenen Orientzentrums" abgeschafft. Scheint als ob das Bundesland Hessen, ihren ermittlungshunrigen Kriminologen vom Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden, Islamwissenschaftler zur Verfügung stellen möchte, um den Krieg gegen den sog. Terrorismus im Innern zu führen anstatt weiterhin auf ausgewiesene Russland-Experten oder Imperialismus-Theoretiker zu setzten.

Obwohl die dortigen Studierende innerhalb kürzester Zeit mehr als 1000 Protest-Unterschriften gesammelt hatten wird am Institut für Politikwissenschaft in Marburg die letzte Stelle in der Tradition des Marxisten Wolfgang Abendroth gestrichen. „Die hohe Resonanz auf die Unterschriftenkampagne zeigt, welche Bedeutung die Forschungsperspektive Abendroths noch heute besitzt. Mit dem Wegfall der Professur geht nicht nur diese Forschungsperspektive verloren. Auch der Bereich Internationale Politische Ökonomie und der Forschungsbereich Europäische Integration können nun am Institut nicht mehr abgedeckt werden“, erklärt Simone Klar, Studentin am Institut für Politikwissenschaft.

In seiner Direktoriumssitzung am 14.11.07 beschloss das Institut für Politikwissenschaft in Marburg das abgeschlossene Berufungsverfahren „Internationale Politische Ökonomie mit Schwerpunkt Europäische Integration“ nicht weiter zu verfolgen. Gleichzeitig legten die ProfessorInnen einen Plan für die künftige Struktur des Instituts vor.
Demnach soll die kritische Tradition des Instituts in Zukunft wegfallen. Die sogenannte „Abendrothschule“ hatte in den vergangenen 50 Jahren das Institut geprägt.

Vorangegangen war der Entscheidung eine Anordnung des Präsidiums, am Institut eine Stelle zu streichen. Die Anordnung wurde von Senat und Fachbereichsrat als unzulässige Einflussnahme in ein Berufungsverfahren
kritisiert. Eine eigens gegründete „Initiative zur Rettung kritischer Wissenschaft“ sammelte über 1.000 Unterschriften gegen die Kürzung. Das Direktorium der Politikwissenschaft entschied sich hingegen, die Stellenstreichung zu akzeptieren.

Die Stellenkürzung führt zu einer weiteren Verknappung des Lehrangebots am Institut. Schon jetzt können einige Studiengänge – etwa European Integration – zum Teil nur über Studiengebührenmittel abgedeckt werden.
Nikolai Huke, Referent für Hochschulpolitik des AStA Marburg, hält das für gefährlich: „Die ProfessorInnen am Institut verlassen sich darauf, dass die Studiengebührenmittel weiter fließen, statt vom Präsidium eine ausreichende Ausstattung mit langfristig gesicherten finanziellen Mitteln einzufordern. Das Verwaltungsgericht Gießen hat in mehreren Entscheidungen Studiengebühren für nicht verfassungskonform erklärt. Fallen die Gebühren weg – was zu hoffen ist – können mehrere politikwissenschaftliche Studiengänge nicht aufrechterhalten werden.“

Die „Initiative zur Rettung kritischer Wissenschaft“ in Marburg betont die politische Dimension der Stellenkürzung. „Es ist durchaus im Interesse einiger Professoren, dass die kritische Perspektive am Institut zukünftig wegfällt. Dem neuen Strukturplan sieht man an, dass er von politischen Machtinteressen einzelner ProfessorInnen am Institut
geprägt ist. So werden einzelne Bereiche - zum Beispiel Sicherheitspolitik – verankert, die zuvor nicht zum Profil des Instituts gehörten, während andere – etwa direkte Demokratie und Internationale Polische Ökonomie – ersatzlos gestrichen werden. Insgesamt führt das dazu, dass der Methodenpluralismus am Institut verloren geht. Das
wiederum hat gravierende Folgen für die Wissenschaftlichkeit des Instituts. Wenn keine Diskussion mehr über Forschungsperspektiven stattfindet, weil alle ähnliche Positionen vertreten, ist das keine
Wissenschaft sondern Ideologie“
, kritisiert Philipp Köllen von der Initiative.

Auch das Zustandekommen der Entscheidung wird von der Initiative kritisiert. „Die ProfessorInnen arbeiten mit allen Tricks. Da wird verschwiegen, verheimlicht und geklüngelt, nur um die eigene Position durchzusetzen. Eines von vielen Beispielen ist, dass der Geschäftsführende Direktor des Instituts Henkenborg dem Direktorium in der letzten Sitzung verschwiegen hat, dass er für Montag, den 19.11.2007 in den Senat geladen wurde, um sich dort für die seltsame Vorgehensweise des Instituts zu rechtfertigen“, so Köllen.

Die Studierende kündigten Proteste gegen die Neuausrichtung des Instituts an. Auf einem „Protestkoordinierungstreffen“ beschlossen sie, am 12. Dezember eine Vollversammlung abzuhalten und dort über die weitere Vorgehensweise zu entscheiden. Bis dahin soll es verschiedene kleinere Protestaktionen geben.

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Die „Initiative zur Rettung kritischer Wissenschaft in Marburg“, die die Proteste koordiniert, hat nun eine Broschüre zur Kampagne herausgegeben. Die Broschüre enthält neben Stellungnahmen prominenter UnterstützerInnen des Aufrufs kurze Hintergrundtexte zur „Abendrothschule“ und zu Stellenstreichungen im Bereich der kritischen Wissenschaft an anderen Universitäten.

Weitere Informationen unter:
http://www.kritische-wissenschaft.de.vu/

http://www.bdwi.de/show/729181.html

http://www.linke-sds.org/spip.php?article131


Michal Stachura | 16.11.07 09:37 | Permalink