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«Es kommt alles auf den Tisch»

Interview: Andreas Fanizadeh, Berlin

Viereinhalb Jahre lang sass der in Deutschland geborene Türke Murat Kurnaz im US-Militärgefängnis Guantánamo - obwohl ihn deutsche und US-amerikanische Beamte für unschuldig hielten. Ein Gespräch mit dem grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele.

Sie sitzen für die Grünen im Ausschuss des Deutschen Bundestags, der die Aussenpolitik der früheren rot-grünen Regierung untersucht. Dabei geht es um heimliche Mithilfe beim «Krieg gegen den Terrorismus». Fühlen Sie sich als Mitglied einer früheren Regierungspartei nicht etwas befangen?
Hans-Christian Ströbele: Nein. Meine Aufgabe im Untersuchungsausschuss ist, diese Sache aufzuklären, und zwar ohne Ansehen der Personen und der früheren Bundesregierung.

Auch wenn etwas Belastendes über jemanden wie den früheren Aussenminister Joschka Fischer herauskäme, würden Sie sich nicht schützend vor ihn stellen?
Über mögliche Verantwortliche reden wir nach der Aufklärung. Meine Aufgabe ist es aufzuklären und nicht Verteidigung oder Anklage zu spielen.

Momentan steht Aussenminister Frank-Walter Steinmeier von der SPD im Zentrum der Kritik. Er soll in der Zeit von Rot-Grün als Chef des Kanzleramts mitentschieden haben, dem Bremer Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz eine Rückkehr nach Deutschland zu verweigern. Auf was stützt sich diese Annahme?
Es wurde in letzter Zeit häufiger aus Unterlagen öffentlich zitiert, die eigentlich intern und vertraulich sind. Demnach soll es am 29. Oktober 2002 eine Besprechung im Kanzleramt gegeben haben, an der auch Steinmeier teilnahm. Diese Runde soll beschlossen haben, Murat Kurnaz nicht nach Deutschland zurückkehren zu lassen, sollten die US-Amerikaner ihn freilassen. Er hätte in die Türkei reisen müssen.

Konnten Sie selber Dokumente einsehen, die dies bestätigen?
Ich antworte mit einem grundsätzlichen Ja. Ich hatte umfangreiche Akteneinsicht, konkrete Teile darf ich aber nicht öffentlich machen.

Wie kamen die Behauptungen im Fall Kurnaz überhaupt auf? Stützen sie sich auf überprüfbare Quellen?
Wir haben in Deutschland offenbar sehr gut informierte Journalisten, die wörtlich aus geheimen Unterlagen zitieren und Sachen wissen, die wir im Parlament erst später erfahren. Medienberichte gaben auch den Anstoss, den Fall Kurnaz parlamentarisch aufzurollen.

Sollte bewiesen werden, dass sich Steinmeier dafür engagierte, Kurnaz aus Guantánamo nicht zurückzunehmen: Welche Konsequenz hätte der amtierende Aussenminister zu ¬ziehen?
Darüber reden wir, wenn alle Fakten auf dem Tisch sind und nicht vorher.

Bei Kurnaz fällt auf, dass auch die Türkei nichts für ihren in Bremen geborenen Staatsbürger unternahm? Ist das nicht merkwürdig?
Türkische Beamte haben ihn ebenso wie die deutschen Kollegen in Guantánamo befragt, sich aber nicht weiter um ihn gekümmert. Dies aufzuklären, wäre Aufgabe türkischer Parlamentarier oder Gerichte.

In der Öffentlichkeit tauchen immer wieder Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Kurnaz auf. Warum besorgt sich jemand Tarnklamotten und fährt wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September ausgerechnet nach Pakistan, fragt zum Beispiel der frühere Innenminister Otto Schily (SPD). Kurnaz traf in Pakistan vier Tage vor dem US-Angriff auf das Taliban-Regime im Nachbarland Afghanistan ein. Alles nur Zufall?
Pakistan ist nicht Afghanistan. Wir haben Kurnaz und seinen Anwalt im Untersuchungsausschuss intensiv befragt. Fraktionenübergreifend zweifelte danach niemand an seiner Darstellung, wie er von Pakistan nach Afghanistan und von dort nach Guantánamo verschleppt wurde.

Dass Kurnaz aus rein privaten Motiven in diese Region reiste, wird aber immer wieder öffentlich bezweifelt. Auch von Leuten, die die Rechtlosigkeit in Guantánamo ablehnen. Dies könnte doch eine Rolle gespielt haben, weswegen sich die deutschen Behörden für ihn nicht engagierten.
Dass Kurnaz sehr gläubig ist, daraus macht er kein Hehl. Nach seinen Aussagen hatte er jedoch die Reise schon lange vor den Anschlägen vom 11. September geplant. Die deutschen Dienste kamen nach der Befragung von Murat Kurnaz ebenfalls zu keiner anderen Kenntnis. Sie sagten, dass von ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Risiko ausgehe.

Otto Schily sagt aber, dass die ihm unterstehenden Dienste bis 2005 Herrn Kurnaz anders eingestuft hatten. Was sagen Sie dazu?
Die Unterlagen, die ich kenne, sprechen jedenfalls für den Herbst 2002 eine deutlich andere Sprache: US- und deutsche Beamte waren sich darüber einig, dass Kurnaz einfach der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sei.

Gibt es Belege für ein offizielles Ersuchen der US-Militärs an die deutschen Behörden, Kurnaz zu übernehmen?
Nein. Nach meiner Kenntnis der Akten gibt es solch ein offizielles Papier nicht. Aber es gibt die Inaussichtstellung einer Freilassung von Murat Kurnaz. Es gab den Hinweis, er könnte von US-Seite im November 2002 freigelassen werden. Daraufhin soll die Runde im Kanzleramt beschlossen haben, Kurnaz für diesen Fall die Einreise nach Deutschland zu verweigern. Und dies könnte mit dazu beigetragen haben, dass die US-Behörden sich sagten: Na, dann eben nicht.

Es klingt doch widersinnig: Wenn beide Seiten, die deutschen und die US-Verhörer, Kurnaz im Herbst 2002 tatsächlich für unschuldig hielten, warum blieb er dann bis August 2006 in Guantánamo?
Darüber können wir zurzeit nur spekulieren. Das versuchen wir aufzuklären.

Nach den Anschlägen vom 11. September stand die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Druck. Aus dem Lager der heutigen Kanzlerin Angela Merkel wurden ihr Antiamerikanismus sowie eine zu lasche Bekämpfung des islamistischen Terrorismus vorgeworfen. Könnten Steinmeier und Co. aus damaliger Sicht vielleicht so gedacht haben: Warum sollten wir uns für einen türkischen Staatsbürger aus dem Fenster lehnen, der aus undurchsichtigen Gründen nach Pakistan reist und dort in Konflikt mit den US-Amerikanern gerät? Nach internationalem Recht wäre schliesslich die Türkei - und nicht die Bundesrepublik - gefragt gewesen, sich um ihren Landsmann zu kümmern.
Formaljuristisch ist das korrekt: Konsularisch waren die türkischen Behörden zuständig. Aber ganz offensichtlich haben dies die damalige Bundesregierung und das Auswärtige Amt auch anders gesehen. Sie haben sich 2002 und 2003 mehrfach darum bemüht, zu Herrn Kurnaz Kontakt zu bekommen, ihn zu betreuen und freizubekommen. So sagen es die Akten. Das Auswärtige Amt war offensichtlich der Meinung, dass es für jemanden, der in Deutschland geboren ist, der hier durchgängig seinen Lebensmittelpunkt hat, auch eine staatliche Fürsorgepflicht gibt. Man wusste doch: Kurnaz ist ein Bremer Bürger, der sich ab 2002 im Lager Guantánamo in einem rechtsfreien Raum befand, in dem gefangene Menschen unwürdig behandelt und misshandelt werden.

Schily und Steinmeier, die jede Verantwortung für die Inhaftierung von Kurnaz ablehnen, sagen: Wenn die US-Amerikaner Kurnaz freilassen wollten, hätten sie es doch einfach tun können ...
Natürlich. Wenn die Amerikaner ihn unbedingt hätten loswerden wollen oder sich im Sinne ihres eigenen und des internationalen Rechts verhalten hätten, dann hätten sie ihn einfach auf freien Fuss setzen können. Dann hätte er in die USA, in die Türkei oder auch nach Deutschland reisen können. Er war im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, eines gültigen Reisepasses mit Visum. Deswegen haben ja auch die deutschen Behörden versucht, die Aufenthaltserlaubnis für Bremen zu streichen und weitere Massnahmen zu treffen, um eine Rückkehr zu verhindern.

Joschka Fischer soll den Fall Kurnaz im November 2003 gegenüber seinem US-amerikanischen Amtskollegen Colin Powell angesprochen haben. Es ist doch merkwürdig, dass er auch danach nicht freikam. Wissen Sie etwas über den Inhalt dieser Unterredung?
Die Bemühungen des Auswärtigen Amtes sind unstrittig. Doch die US-Behörden reagierten auf diese immer wieder ablehnend: Deutschland sei dafür nicht zuständig, Herr Kurnaz ist türkischer Staatsbürger. Auch das Gespräch zwischen Fischer und Powell im November 2003 hat offenbar nichts bewirkt. Auffällig und zu klären ist allerdings, warum das Auswärtige Amt anders und in Unkenntnis dessen agierte, was über die Dienste im Kanzleramt und Innenministerium lief.

Noch einmal die Frage: Scheinen die Ihnen durch Akteneinsicht vorliegenden Informationen aus den Geheimdiensten glaubwürdig?
Ich bin den Geheimdiensten gegenüber bestimmt nicht unkritisch. Aus den Akten geht jedoch eindeutig hervor, dass Kurnaz in Guantánamo befragt wurde und man ihn im Oktober 2002 für ungefährlich hielt.

Und später?
Ob man danach zu anderen Erkenntnissen kam, geht aus den uns zur Verfügung gestellten Unterlagen nicht hervor. Es gibt nur vage Hinweise unüberprüfbarer Herkunft.

Der Anwalt von Murat Kurnaz, Bernhard Docke, behauptet, ohne Angela Merkel würde sein Mandant noch heute in Guantánamo schmoren.
Die Bemühungen der neuen Bundesregierung haben ab Dezember 2005 und dann im Juni 2006 mit dazu beigetragen, dass Herr Kurnaz Mitte August rausgekommen ist. Allerdings hatte sich die Situation insgesamt sehr stark verändert. Die öffentliche Anteilnahme für die Opfer hat zugenommen, und vor allem war das Verhältnis zum US-Präsidenten ein anderes.

Was wollen die US-Amerikaner mit ihrer Meinung nach harmlosen Leuten wie Murat Kurnaz in Guantánamo?
Ob schuldig oder unschuldig, scheint tatsächlich keine große Rolle zu spielen. Nach rechtsstaatlichen Kriterien wäre wahrscheinlich eine Mehrheit nie dorthin gekommen, sondern sofort freigelassen worden.

Am 8. März soll Steinmeier im Untersuchungsausschuss gehört werden. Warum so spät?
Ich hätte es gerne früher gehabt. Das ist leider abgeblockt worden. Ich halte die Verzögerungstaktik Steinmeiers und der Bundesregierung für einen riesigen Fehler, eine abgrundtiefe Dummheit. Die faktische Grundlage zur Beurteilung der Vorgänge muss auf den Tisch kommen, und sie wird es auch.

Der «Bremer Taliban»
Murat Kurnaz wurde 1982 in Bremen geboren. Als junger Erwachsener wandte er sich dem Islam zu und soll in Bremen in einem konservativ-islamistischen Milieu verkehrt haben. Vor den Anschlägen vom 11. September 2001 plante er eine Reise nach Pakistan, wo er am 3. Oktober 2001 eintraf. Am 7. Oktober begann der US-Angriff auf das Talibanregime in Afghanistan. Kurnaz wurde im November 2001 in Pakistan verhaftet und in ein US-Militärgefängnis nach Afghanistan verschleppt. Anfang 2002 brachten ihn US-Militärs nach Guantánamo. Im Januar 2002 erhielt die deutsche Regierung Kenntnis vom Schicksal des türkischen Staatsbürgers. Obwohl ihn deutsche und US-amerikanische Ermittler im Oktober 2002 als harm¬los einstuften, kam der «Bremer Taliban», wie ihn die Presse irreführend bezeichnete, erst im August 2006 frei.

Der Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele ist Mitglied der grünen Fraktion im Deutschen Bundestag. Hans-Christian Ströbele gilt als unbestechlicher Moralist, gefürchtet auch von der eigenen Partei. Als Direktkandidat im Berliner Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain schaffte er gegen den Willen der Parteiführung - die ihn nicht mehr auf der Landesliste platziert hatte - den Einzug in den Deutschen Bundestag. Er vertritt die Grünen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der die mögliche Mithilfe deutscher Dienste am US-geführten «Krieg gegen den Terror» aufklären soll.

Das Interview erschien auch in der Schweizer Wochenzeitung „WOZ“ vom 01.03.2007

natter | 02.03.07 15:11 | Permalink