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Brasiliens politische Gefangenen

--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Kurz vor dem Zusammentreffen des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler mit Staatschef Lula hat Brasiliens Menschenrechtsbewegung das gravierende Problem der politischen Gefangenen aus der Landlosenbewegung MST erneut ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Professoren und Studenten der Katholischen Universität von Sao Paulo haben auf einem Protestmeeting die Freilassung politischer Gefangener des MST gefordert, der von den deutschen Kirchen unterstützt wird. In einem Manifest an die Regierung und das Oberste Gericht Brasiliens wurde auch die Inhaftierung des Universitätsprofessors Marcelo Buzetto als widerrechtlich bezeichnet, der derzeit an der PUC Doktorand für Sozialwissenschaften ist. Der Befreiungstheologe Frei Betto hatte ihn kürzlich im Gefängnis einen Solidaritätsbesuch abgestattet. Buzetto war letztes Jahr unter der Anschuldigung, 1999 an einer Plünderungsaktion von Landlosen teilgenommen zu haben, zu über sechs Jahren Haft im halboffenen Vollzug verurteilt worden. Trotz verschiedener Einsprüche gegen das Urteil bei höheren Instanzen wurde der Professor jedoch in geschlossenen Vollzug genommen. Verschiedene Professoren der Katholischen Universität sowie angesehene Menschenrechtsaktivisten sprachen auf dem Protestmeeting von einem reinen Willkürakt, Buzetto sei unschuldig.
In Brasilien setzt sich das "Komitee zur Verteidigung der politischen Gefangenen" besonders für die zahlreichen Inhaftierten aus der Landlosenbewegung ein.

Hintergrundtext von 2003
Sondereinheiten der Militärpolizei preschen in Jeeps vor die Zentrale der Landlosenbewegung MST in der Megametropole Sao Paulo, Beamte mit Maschinenpistolen stürmen das kleine einstöckige Gebäude, suchen nach Führern der Organisation. Bilder wie aus der Diktaturzeit - doch von Anfang September 2003. Neunzehn MST-Aktivisten sind bereits als politische Gefangene eingesperrt, jetzt wurden Haftbefehle gegen weitere elf erlassen - alle in Abwesenheit "wegen Bandenbildung“ von einem Richter des sozialdemokratisch regierten Teilstaates Sao Paulo zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt.
Dort tagt im Oktober die Sozialistische Internationale, und wird, wie es aussieht, auch eine deutsche SPD-Delegation trotz der gravierenden Menschenrechtslage anreisen.

Am MST-Hauptsitz werden die Sondereinheiten jedoch nicht fündig - alle Gesuchten konnten offenbar rechtzeitig untertauchen. Aber im Hinterland des Teilstaates, in dem über tausend deutsche Firmen ansässig sind, überwältigt die Militärpolizei ganz in der Nähe von Landlosencamps Diolinda Alves de Souza, 33, entreißen sie mit Gewalt ihren beiden weinenden kleinen Kindern. Diolinda hat auch den Beinamen "Guerreira“ - weil sie Großgrundbesitzern und deren bewaffneten Milizen stets besonders kühn Paroli bot, imer wieder Landbesetzungen, Protestdemos anführte. Wurde sie eingesperrt, setzte sich stets auch Amnesty International für ihre Freilassung ein.

Während die Staatsbeamten Diolinda abführen, ins Gefängnis abtransportieren, die Hatz auf andere MST-Führer fortsetzen, zieht im fernen Brasilia zur selben Stunde Staatschef Lula wieder einen seiner alltäglichen PR-Gags ab, holt eine populäre Rockband in den Präsidentenpalast, hängt sich eine Gitarre um, setzt die Bandmütze auf, mimt den Rocker, lacht sich tot dabei, nächstentags alles groß in Farbe in den Zeitungen.

Unter seiner Mitte-Rechts-Regierung häufen sich im größten lateinamerikanischen Land gravierende Menschenrechtsverletzungen, werden fast täglich Indianer, Bürgerrechtler und Kleinbauern ermordet, wüten Todesschwadronen, gehört selbst Folter weiterhin zum Alltag...Für Felinto Procopio, genannt Mineirinho, den großen Sänger und Komponisten der brasilianischen Landlosenbewegung, eine Art kulturelle Symbolfigur der Organisation, legt sich in Deutschland bislang keiner ins Zeug. Dabei ist Mineirinho, 34, immerhin schon seit Anfang Juli 2003 am Auftreten gehindert, sozusagen mundtot gemacht, befindet sich mit dem Landlosenführer Jose Rainha, Mann von Diolinda Alves de Souza, im Hochsicherheitsgefängnis des Teilstaates Sao Paulo, zusammengesperrt mit Schwerkriminellen, darunter Bossen des organisierten Verbrechens. Wie der MST-Menschenrechtsanwalt Mariano Gomes betont, sei vom sozialdemokratischen Gouverneur Alckmin und seinen Staatssekretären vereinbart worden, Mineirinho und Alves ausgerechnet in ein Hochsicherheitsgefängnis zu stecken, um die Bewegung zu kriminalisieren. "Jener Richter, der unsere Leute aburteilt, hat die Regierung des Teilstaats hinter sich.“ Mineirinho bekam wegen "Bandenbildung“, Jose Rainha wegen illegalen Waffenbesitzes jeweils zwei Jahren und acht Monate Haft - angeblich war in einem Auto, in dem Rainha mitfuhr, von der Militärpolizei ein Gewehr mit abgesägtem Lauf gefunden worden. Der MST-Führer bestreitet, daß ihm eine solche Waffe gehört - der Vorwurf sei frei erfunden.

“Die beiden sind eindeutig politische Gefangene, wurden unter einem Vorwand eingesperrt“, so Menschenrechtsanwalt Gomes. "Daß es unter der Regierung von Staatschef Lula politische Gefangene gibt, ist ein Absurdum. Mineirinho und Rainha hat man absichtlich in dieses Hochsicherheitsgefängnis gesteckt, um aller Welt zu demonstrieren, daß sie für die Gesellschaft hochgefährlich sind. Doch davon kann keine Rede sein - die beiden sind keine Kriminellen, streiten für ein besseres Leben der Brasilianer. Daß sie jetzt hinter Gittern sind, soll auf jeden Bürger abschreckend wirken, der gegen die Zustände aufbegehrt - paß gut auf, sonst geht es dir genauso. Mineirinho spielt auf unseren Kundgebungen, organisiert Festivals, unsere ganze Kulturarbeit. Der hat mir und vielen Landlosen Gitarrespielen beigebracht!“

MST-Führer Jose Rainha war zuvor bereits viermal im Gefängnis - kam stets nach Protesten frei. Grotesk, daß derzeit der MST sogar den Staatssekretär für Menschenrechte, Nilmario Miranda, auf seiner Seite hat - auch er protestiert gegen die Gefängnishaft - gegen eine beabsichtigte Kriminalisierung der Landlosenbewegung. "Banditen sind die Großgrundbesitzer“, sagte er wörtlich - "doch die werden nicht eingesperrt.“

Lula schweigt zu politischen Gefangenen - alle in Lebensgefahr

Aber wäre es für Staatschef Lula nicht ein leichtes, wie viele in Brasilien meinen, Mineirinho und Rainha, die vielen anderen freizubekommen, und sei es per Präsidentendekret?

“Die Möglichkeit einer solchen Intervention existiert leider nicht“, so MST-Anwalt Gomes, Brasiliens noch sehr rückschrittliche, konservative Justiz ist formell unabhängig“. Und die Regierung wolle die Großgrundbesitzerkaste nicht frontal angreifen. "Würde Staatschef Lula eine echte Agrarreform in die Wege leiten, ungenutzte Flächen an die Landlosen verteilen, hätten wir auch keine politischen Gefangenen mehr. Doch in der Regierung gibt es eben auch rechtsgerichtete Politiker, wird heftig um die Macht gestritten. Die Rechten werden versuchen, die Regierung zu übernehmen, falls die Gesellschaft sie nicht daran hindert. Den MST zu kriminalisieren, gehört zur Strategie dieser Rechten.“ Im Teilstaate Sao Paulo spielt auch Gouverneur Alckmin vom Partido Socialdemocratico Brasileiro“(PSDB) deren Handlanger.

Und Staatschef Lulas Vize beispielsweise, der Milliardär und Großunternehmer Jose Alencar, gehört zur rechtsgerichteten Liberalen Partei PL, die von einer fundamentalistischen Sektenkirche dominiert wird.

Beide politischen Gefangenen erhalten immer wieder Besuch von Politikern aus Lulas Arbeiterpartei PT - Sänger Mineirinho bekam sogar von Kulturminister Gilberto Gil einen Solidaritätsbrief. Und Jose Rainha wird von keinem geringeren als dem Anwalt und angesehenen Menschenrechtsexperten Luis Greenhalg, Kongreßabgeordneter der Arbeiterpartei, vertreten. Dennoch ist die Landlosenbewegung in großer Sorge.

“Wir haben größte Angst um das Leben der beiden“, so Gomes. "Zuerst hat man sie in eine fensterlose Strafzelle, ein regelrechtes Verlies gesperrt, hat ihnen die Haare abgeschoren - jetzt sind sie sechs verschiedenen Kriminellenfraktionen ausgesetzt. Wenn von denen jemand beschließt, unsere Leute zu ermorden, wird er berühmt, erwirbt er sich Respekt bei den anderen Gefangenen - so geht es nun einmal zu in den brasilianischen Haftanstalten. Und deshalb sind die beiden politischen Häftlinge in größter Lebensgefahr.“

Zudem haben Amnesty International und brasilianische Menschenrechtsorganisationen in den letzten Tagen dagegen protestiert, daß auch unter Staatschef Lula in den total überfüllten Haftanstalten Gefangene weiterhin gefoltert - und sogar totgefoltert werden, wie neueste Fälle zeigen.

Kirche kritisiert Regierung: "Unter Lula mehr Verfolgung der Landlosenbewegung“

Auch für die befreiungstheologisch orientierte Bodenpastoral CPT der katholischen Kirche, ihren Präsidenten, den Bischof Tomas Balduino ist das alles nicht hinnehmbar. "Seit Lula an der Regierung ist, hat die Verfolgung des MST sogar noch zugenommen. Schwer zu übersehen, daß die Justiz Positionen der Geldelite vertritt, MST-Aktivisten als Banditen, Störenfriede einstuft. Die Großgrundbesitzerkaste macht Druck auf die Regierung, damit sie den MST niederhält. Lula scheut den Konflikt mit dem Justizapparat, tut leider wenig für eine echte Agrarreform." Nicht nur für CPT und MST ein Absurdum, daß Brasilien zwar massenhaft Nahrungsmittel, darunter Fleisch, Früchte und Soja in die EU und auch nach Deutschland exportiert - gleichzeitig in der immerhin 13. Wirtschaftsnation der Erde aber etwa vierzig Millionen Brasilianer kaum etwas zu essen haben, sogar Hunger leiden. Brasilien ist derzeit der größte Fleischexporteur der Welt. Neoliberale Verhältnisse pur.

Mehr als zehn Landlosenführer, insgesamt fast fünfzig MST-Mitglieder wurden seit Präsident Lulas Amtsantritt ermordet - von Milizen der Großgrundbesitzer oder von Killerkommandos. Nicht zufällig schickt die UNO in den nächsten Tagen einen Sonderberichterstatter nach Brasilien, der die Aktionen von Todesschwadronen untersuchen soll, die in immerhin fünfzehn Teilstaaten aktiv sind.


Klaus | 06.03.07 18:17 | Permalink

Kommentare

Meine Kinder leben in Sao Paulo.
Habe Verwandte im Sertao und
in Recife. Möchte gerne über den Besuch von Bush wissen, wie die Brasilianer dazu stehen. Habe gelesen, dass einige Proteste angesagt sind.Vielen Dank für Ihre Antwort per E-Mail. Sie können selbstverständlich portugiesisch schreiben.
Muito obrigada Marianne Margraf

Verfasst von: Margraf, Marianne | 07.03.07 14:18

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