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Brasiliens endloser Conterganskandal

Mißgebildete Babies bis heute
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Claudia Maximino, 44, hat weder Beine noch Füße und nur einen verkrüppelten Arm. Sie lebt in einer kleinen Parterrewohnung an der entsetzlich lauten Avenida Santa Catarina in Sao Paulos Stadtviertel Jabaquara und leitet die brasilianische Vereinigung der Thalidomidopfer. Als ich klingele, macht sie mir selbst die Haus--und Wohnungstür auf - rutscht, schwer beschreibbar, durch Schwung und Gewichtsverlagerung nach vorn, demonstriert vom ersten Moment unseres langen Gesprächs an außergewöhnliche Willenskraft, soziale und politische Courage, kennt die Zustände in ihrem Land genau, kritisiert scharf und treffend. Ein Foto des neuesten mißgebildeten Babies hat Claudia Maximino vor sich auf dem Schreibtisch. Das Kind hat keine Beine, nur verkrüppelte kurze Füße und wurde jetzt in Sao Paulo geboren.

Letztes Jahr entdeckte die Vereinigung eher zufällig fünf solcher Babies, zwei sind bereits gestorben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht von über tausend Thalidomid-Geschädigten in Brasilien. „Wir sind überzeugt, daß die tatsächliche Zahl viel, viel höher ist. Denn Thalidomid ist seit fünfzig Jahren hier im Umlauf – man müßte systematisch nach den Opfern suchen!“ Daß auch 2007 immer noch mißgebildete Babies zur Welt kommen, nennt sie kriminell und unverzeihlich. „Der Staat handelt nachlässig, fahrlässig auf allen Ebenen!“
Claudia Maximino hat den Uni-Abschluß als Betriebswirtschaftlerin, kennt alle Details des brasilianischen Conterganskandals, hat darüber ein enormes Archiv aufgebaut: 1957 kaufen gemäß ihren Angaben gleich drei brasilianische Pharmafirmen von der deutschen Grünenthal GmbH aus Stolberg die Produktionsrechte für Contergan, bringen es erfolgreich als Sedalis, Sedim und Sleepy auf den nationalen Markt. 1961 wird der Verkauf des Mittels wegen der grauenvollen Nebenwirkungen weltweit gestoppt – nur in Brasilien geht er weiter. Eine Anweisung von 1962, das Medikament landesweit einzusammeln, vom Markt zu nehmen, wird schlichtweg nicht befolgt. In Deutschland kommen bis dahin über viertausend Kinder mit schweren Mißbildungen zur Welt – in Brasilien könnten es bis heute ebenso viele sein.
Erst 1965, ein Jahr nach dem Militärputsch, verbieten die Generäle zwar die Vermarktung, verzichten indessen auf Kontrolle. Das Mittel wird weiterhin massiv konsumiert. Bis heute bekommt man in Brasilien als streng rezeptpflichtig gekennzeichnete Medikamente in den Drogerien völlig frei. “Thalidomid wurde in Brasilien gegen alle möglichen Krankheiten, sogar gegen Lungenentzündung und Tuberkulose, von den Zahnärzten gegen Mundfäule verschrieben“, so Claudia Maximino. „Es gab Pharmafirmen, die das Mittel direkt am Fabriktor, ohne jegliche staatliche Kontrolle, an die Leute verkauften.“
Inzwischen stellt nur noch der Staat in Minas Gerais Thalidomid her, verteilt es an Menschen, die Lepra, Aids oder Krebs haben. „Das Entsetzliche ist - Ärzte mit Doktortitel verschreiben Thalidomid ohne jegliche Sorgfaltspflicht an Frauen, machen bei diesen keinerlei Schwangerschaftstest, informieren sie nicht einmal über die fatalen Nebenwirkungen!“ Absurderweise existierten in der neuen Ärztegeneration viele, die offenbar von den Thalidomid-Folgen nichts wissen und von der weltweiten Contergan-Diskussion nichts mitbekommen haben. „Auf der ganzen Erde wurde über Thalidomid debattiert – doch in meinem Land gibt es wegen des Fehlens von Information und von Kultur tatsächlich Leute, die nie davon hörten – sogar in der Ärzteschaft. Es ist zum Weinen.“
Für den Rest der Bevölkerung des Drittweltlandes, so bestätigen auch spontane Befragungen, gilt dies umso mehr. Thalidomid, ein Skandal wegen Mißbildungen? Von beidem nie gehört, antworten mir überdurchschnittlich Gebildete aus der brasilianischen Mittelschicht.
--Lächerlich geringe Hilfen an Thalidomidopfer—
In Ländern der Ersten Welt darf Thalidomid nur unter strengster Kontrolle, in den Hospitälern verabreicht werden. “Das fordern wir auch für Brasilien - denn hier gibt man jedem beliebigen Patienten sechzig Tabletten mit nach Hause. Kürzlich wurden sogar 5000 Tabletten geraubt – welchen Schaden werden sie anrichten?“
Wenn es selbst laut WHO über eintausend Thalidomidopfer in Brasilien gibt – wieso zahlt die Regierung nur an 480 Geschädigte eine Hilfe? Die meisten davon bekommen monatlich nur einen Mindestlohn, umgerechnet etwa 125 Euro, die Schwerstgeschädigten höchstens 590 Euro.
Für Clauda Maximino ist diese Hilfe lächerlich gering, deckt nicht annähernd die Kosten, Aufwendungen eines Mißgebildeten:“Wir brauchen nun einmal jemanden, der uns betreut, uns Nahrung reicht, uns wäscht, badet und den Hintern abwischt. Wir sind das ganze Leben lang abhängig von der Hilfe anderer. Werden wir alt, gibt es neue Komplikationen – durch die Abnutzung des Körpers, die physische Anstrengung. Ich selbst habe viele Wirbelsäulenprobleme. Und zur selben Zeit sehen wir, wie Richter, Abgeordnete und Senatoren um Spitzeneinkommen aus der Staatskasse streiten.“ Diese wollen – oder bekommen bereits - umgerechnet monatlich weit über elftausend Euro – Thalidomid-Opfer werden größtenteils mit jenen 125 Euro abgespeist. „Die Politik der Regierung ist, zustehende Hilfen zurückzuhalten. Wenige Politiker kümmern sich um unsere Probleme. Es gibt Gesetzesprojekte, die aber stark verzögert werden. Die Politiker reden von Jahrzehnt-Fristen bis zur Umsetzung – wir sterben also weg, ohne unser Recht bekommen zu haben. Es ist äußerst kompliziert, nachzuweisen, daß jemand durch Thalidomid geschädigt ist. In einem Land geringsten Bildungsniveaus wissen viele Opfer nichts von ihren Rechten, andere kapitulieren wegen der schier unvorstellbaren Probleme mit der Bürokratie. Anträge, Dokumente verschwinden häufig – Antragsteller bekommen nie eine Antwort! Es ist ermüdend – ständig müssen wir aufschreien, anprangern, um gehört zu werden. Flavio Scavasin aus Sao Paulo ist Vizepräsident unserer Vereinigung – er mußte zwanzig Jahre kämpfen, um als Thalidomid-Opfer anerkannt zu werden - zwanzig Jahre! Der zuständige Arzt behauptete einfach, bei Scavasin liege keine Thalidomid-Schädigung vor. Doch wir gaben nicht auf, ließen neue Untersuchungen, neue Tests anstellen, bis wir dem Arzt alle Beweise auf den Tisch legen konnten. Seine Antwort war nur – ach so – dann ist er ja doch ein Thalidomid-Opfer! So geht es hier zu. Derzeit liegen Betroffene im Sterben, weil sie niemand betreut. Viele leiden unter Herzkomplikationen! Andere werden schier verrückt, psychisch gestört, weil sie diese Mißachtung durch den Staat, diese Diskriminierung nicht aushalten. Und es gibt andere, die sich mit Medikamenten betäuben, den ganzen Tag nur schlafen, nur dahindämmern wollen, ohne an ihre entsetzliche Lage zu denken. Jeden Tag bekommen wir Bitten um Hilfe – ich habe keine Wohnung, oder ich kann die Miete nicht bezahlen. Mit einem Mindestlohn an staatlicher Hilfe ist das in der Tat völlig unmöglich!“
--Unmenschlicher Umgang mit Thalidomid-Geschädigten—
Theoretisch existiert ein Gesetz, das den Staat verpflichtet, Thalidomidopfern eine Prothese bereitzustellen:“Doch am Gesundheitsposten sagen sie den Mißgebildeten, stell dich in die Schlange! Sie lassen die dort warten, bis sie schwarz werden! Ich habe solche technischen Hilfen nur bekommen, weil ich den Gesundheits-Staatssekretär von Sao Paulo persönlich kenne. In anderen Teilstaaten sagt man den Opfern, so ein Gesetz gibt es gar nicht, stell dich in die Schlange! Und wenn wir von der Vereinigung dem Zuständigen nachweisen, daß das Gesetz seit 1993 existiert, sagt der, abwarten, wir müssen das erst mal studieren. Und das dauert zwei, drei Jahre! Gewöhnlich muß man Prothesen einklagen, dafür gar die Medien einschalten. Vom kommenden Monat an werden die höheren staatlichen Hilfen an Thalidomid-Opfer auch noch besteuert!"
--Prozeß gegen Grünenthal GmbH—
Mißachtung der Opfer wirft Claudia Maximino auch der Grünenthal GmbH vor. „Sie entschädigten, wen sie wollten – in Brasilien waren es nur fünfzig Betroffene! Der Rest – da sagen sie, die hätten bis spätesten 1982 reklamieren müssen. Ich selbst habe 1992 einen Prozeß gegen die Firma geführt, der deutsche Anwalt Jean-Gregor Maxrath hat mich sehr gut vertreten. Doch ich habe verloren, das Gericht lehnte ab, halt wegen der Frist. Doch was man in Brasilien den Opfern antut, ist zehnmal schlimmer, übler – hier werden nicht einmal die betroffenen Kinder des eigenen Landes ausreichend entschädigt.“
Claudia Maximino erinnert daran, daß die Opfervereinigung (ABPST – Associaçao Brasileira dos Portadores da Sindrome de Talidomida) von Eltern Betroffener gegründet wurde, um wegen Entschädigungen gegen die Herstellerfirmen und die Regierung zu klagen. Daraufhin wurden Hilfen zwischen einem halben bis zu vier Mindestlöhnen genehmigt. „Damals, in den achtziger Jahren, war die Inflation sehr hoch – zwar bekam ich eine Hilfe von vier Mindestlöhnen, doch die schrumpfte auf den Wert von zwei Litern Milch monatlich zusammen, wurde ja nicht an die Inflationsrate angepaßt. In den wildesten Inflationszeiten hätte es sich nicht einmal gelohnt, den Stadtbus zu nehmen, um die Hilfe abzuholen – so stark war sie geschrumpft! Daß ich an der Uni studieren konnte, verdanke ich meiner Familie. Die hat Kredite aufgenommen, die Autos verkauft. Als ich den Abschluß hatte, bekam ich keine Arbeit – und habe daher begonnen, für unsere Rechte zu kämpfen, habe per Anzeige nach anderen Thalidomidopfern gesucht. Als Vereinigung leisten wir Arbeit, die die Regierung leisten müßte! Doch da sie es nicht tut - was bleibt uns übrig? Wir arbeiten mit Vereinigungen Thalidomid-Geschädigter in Deutschland, Irland, Schweden zusammen, bekommen gelegentlich einen Computer, andere nötige Dinge gespendet.“
--„Charakter, Moral, Ethik, menschlicher Respekt...“
Claudia Maximino gibt bezahlte Kurse bei der brasilianischen Fluglinie GOL, erläutert, zeigt neu eingestelltem Kabinenpersonal, wie man mit Behinderten umgeht. Außerdem führt sie gratis Kurse für den brasilianischen Anwaltsverein OAB, über Rechte von Frauen, von Alten, Behinderten – auch zum Thema häusliche Gewalt. „Selbst ohne Beine, Arme will ich der Gesellschaft deutlich machen, daß ich lebe, daß ich nützlich bin, etwas tue für diesen Planeten, der auf verschiedenste Weise zerstört wird. Charakter, Moral, Ethik, menschlicher Respekt – alles komplizierte Fragen heute!“
In öffentlichen Gremien war Claudia Maximino bereits Beraterin:“Ich bin da raus, weil es sinnlos ist – ich glaube nicht mehr an diese Institution. Da wird diskutiert, tut man so, als höre man auf die Bevölkerung. Doch das ist eben eine Lüge – die Politiker machen, was sie wollen. Deshalb ziehen wir es vor, unabhängig zu kämpfen. Ich fliege immer wieder nach Brasilia, protestiere im Nationalkongreß, belagere die Kabinette der Abgeordneten und Senatoren.“
Auch der Wissenschaft macht sie Vorwürfe:“Über Thalidomidopfer wird nicht ausreichend geforscht. Wir sterben – und man weiß nicht einmal warum. Wenigstens Kanada hat einiges untersucht, liegt weltweit bei solchen Studien vorn. Wozu dient die menschliche Intelligenz?“
Gelegentlich wird diese starke, bewundernswerte Frau bitter – wegen so vieler Mißerfolge im Kampf um Menschenrechte habe sie immer wieder Lust, ihren brasilianischen Ausweis zu zerreißen.
„Du bist doch Deutscher – steig ins nächste Flugzeug, kehr in dein Land zurück, hier in diesem Land zu leben, ist doch viel zu trist!“
Dann erinnert sie an die Ermordung von drei idealistischen französischen Menschenrechtsaktivisten in Rio de Janeiro:“Ihr Ausländer seid zudem auch noch Ziel von Banditen – was uns empört und weh tut. Wir sind an verirrte Kugeln gewöhnt – aber ihr nicht!“

http://members.tripod.com/~abpstalidomida/

Lepra in Brasilien - aus Manfred Göbels Website:

http://www.leprahilfe-goebel.de/_Frameset.htm


Klaus | 12.03.07 03:47 | Permalink

Kommentare

Mannomann! Ich bin schockiert ... lebe in Brasilien seit 12 Jahren und habe von der Problematik nichts mitbekommen.

Verfasst von: Christof | 20.03.07 21:51

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