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Karneval in Rio 2007

Kritik an der Sieger-Sambaschule Beija-Flor wegen politisch korrekter Geschichtsverdrehung
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Deutlich mehr Deutsche als in den Vorjahren haben sich beim Karneval in Rio ausgetobt - dem witzigsten, exotischsten, vielseitigsten Volksfest der Erde - gleichzeitig Musik-und Kunstfestival par excellence. Inzwischen hat sich bei immer mehr Brasilien-Interessierten herumgesprochen, wie und wo man die vier, fünf tollen Tage am besten verbringt: Die Rio-Unterkunft recht preisgünstig im Bergstadtteil Santa Teresa - wegen der konkurrenzlos spritzig-spontanen Umzüge (Blocos) zu fast jeder Tageszeit ganz in der Nähe, stets an der Rua Almirante Alexandrino, vorbei am besten Nordestino-Restaurant "Bar do Arnaudo". Am Karnevalssonnabend gegen elf Uhr vormittags der Umzug des Bola-Preta-Karnevalsvereins mitten in der City, Start in Cinelandia, am Opernhaus. Sonntagnacht die besten Sambaclubs im Altstadtviertel Lapa, etwa "Carioca da Gema", montags die zweite Paradenacht der besten Sambaschulen im Sambodrome. Und in der letzten Karnevalsnacht natürlich die "Gala Gay" der Schwulen, Transvestiten im Showpalast "Scala" des noblen Strandstadtteils Leblon. Seit MDR Jump 2004 mehreren Dutzend Hörern per Verlosung den ersten Rio-Karneval ihres Lebens ermöglichte, ist auch die Zahl der Ostdeutschen, meist aus traditionellen Fastnachtsregionen der DDR, deutlich größer geworden, trifft man immer wieder auf Karnevalsverrückte aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Die schmerzhaften Widersprüche des Tropenlandes übersehen sie nicht - selten zeigen sich die sozialen, kulturellen, politischen Probleme des Drittweltlandes so deutlich und konzentriert wie beim Karneval.

--Paradegewinner wegen politisch korrekten Unwahrheiten im Kreuzfeuer--
Beim Defilee der besten Sambaschulen siegte dieses Jahr "Beija-Flor" aus dem Rio-Vorort Nilopolis und geriet prompt wegen des Parademottos in die Kritik. "Beija-Flor lügt über Afrika" titelte die auflagenstärkste Qualitätszeitung "Folha de Sao Paulo" und analysierte ausführlich den Umzug der Sambaschule. Afrika zu würdigen, sei groß in Mode, und afrikanische Könige zu preisen, bringe Höchstnoten ein, schrieb das Blatt. Selbst wenn dafür die Geschichte verdreht, Historiker zum Schweigen gebracht und alte politisch korrekte Lügen über die Sklaverei erzählt werden müßten. Afrika werde als "Mutter der Freiheit" hingestellt, obwohl der Sklavenhandel dort lange vor der Ankunft der Weißen begonnen habe, die Sklaverei für die afrikanischen Könige extrem lukrativ gewesen sei und diese sich am meisten gegen eine Abschaffung gesträubt hätten. Laut der Zeitung hatten schwarze Afrikaner massenhaft andere Schwarze versklavt, Flüchtige getötet. Schwarze Afrikaner seien schwerreiche Sklavenhändler gewesen, Käufer von Sklaven für afrikanische Farmen. Die Sambaschule Beija-Flor preise den Reichtum Afrikas, doch sage nicht, daß er von der Sklaverei herrühre. Herausgestellt werde Dahomè, obwohl dieser Staat mit am meisten von der Sklaverei profitiert habe. Afrikaner hätten an die 25 Millionen Menschen verkauft, mehr als doppelt so viel, wie nach Amerika verschleppt worden seien.
In manchen pseudoprogressiven Medien ist bis heute verboten, solche historischen Fakten zu erwähnen. Selbst der Kannibalismus brasilianischer Indios wird bestritten.
Brasilien schaffte erst 1888 – und damit als letzte große nicht-afrikanische Nation – offiziell die Sklaverei ab, beendete damit eines der entsetzlichsten Kapitel der Landesgeschichte. Doch in Afrika ging die Sklaverei munter in großem Stile weiter, wurde sie beispielsweise von Saudi-Arabien erst 1962 offiziell ausgetilgt, 1948 von Äthiopien.
Nach Brasilien wurden etwa vier Millionen Afrikaner verschleppt, mit Segelschiffen nach Bahia oder Rio de Janeiro gebracht, dort weiterverkauft, schließlich auf die Kaffee-und Zuckerrohrplantagen, in die Goldminen getrieben. Die Ausbeutung war derart brutal, daß die meisten Sklaven keine dreißig Jahre alt wurden. Millionen von Schwarzen überlebten bereits die teils monatelange Überfahrt in den total überfüllten, stickigen Laderäumen der Koggen nicht. Gewöhnlich wird in den Geschichtsbüchern nur profitgierigen Sklavenhändlern der Kolonialmacht Portugal die alleinige Schuld an der Verschleppung von Angolanern, Kongolesen, Mocambikanern gegeben. Brasilianische Schwarzenorganisationen fordern immer wieder auch materielle Wiedergutmachung von Lissabonn. Das Thema ist indessen viel komplexer, sogar heikel – nur ganz wenige brasilianische Historiker wagen sich mit der Forderung an die Öffentlichkeit, endlich von unzulässigen Vereinfachungen zu lassen, Tabus zu brechen. Professor Manolo Florentino ist einer davon, gehört zur neuen Generation seiner Zunft, lehrt an der Universität von Rio de Janeiro, wies sich durch ein vielbeachtetes Buch als Sklavereiexperte aus. Er wirft vielen Historikern von heute vor, schlichtweg zu unterschlagen, wie die afrikanischen Eliten beim Menschenhandel mitmachten. Und sagt es deutlich:“Männer, Frauen und Kinder wurden versklavt und exportiert durch Afrikaner – ein Fakt, den auch die brasilianische Geschichtswissenschaft vergessen will." Für Florentino bringt es nicht weiter, die aktive Rolle der Afrikaner am Sklavenhandel unerwähnt zu lassen, zu verstecken, um auf diese Weise etwa die kulturelle Identität der heute unter absurdem Rassismus leidenden Schwarzen zu stärken. Vielmehr sei es doch so gewesen: Auf beiden Seiten des Atlantik, in Afrika und in Brasilien, existierten archaische Gesellschaften – verbunden durch bestimmte Wertvorstellungen und eben den Handel mit Afrikanern. Jahrzehnte vor der offiziellen Sklaverei-Abschaffung kam es zu einem bezeichnenden Phänomen: Manche humaner gesinnten weißen Sklavenhalter gaben Schwarzen die Freiheit, nicht wenigen Afrikanern gelang es, sich freizukaufen. Kamen diese zu Geld, taten sie etwas Überraschendes – sie, die Ex-Sklaven, kauften sich auf den Menschenmärkten Rio de Janeiros oder Bahias Afrikaner, wurden somit selber Sklavenhalter. Verschleppte Afrikaner beuteten, so absurd es klingt, fern der Heimat ebenfalls verschleppte Leidensgenossen aus. Sklaverei – heute in Brasilien und in Afrika nur noch ein Thema für Historiker, Anthropologen ? Keineswegs. Vor allem brasilianische Bischöfe sprechen von einer tiefverwurzelten Sklavenhaltermentalität, weisen auf die extrem kraß ungerechte Einkommensverteilung – und das Fortbestehen von Sklaverei.
Wer nach Rio de Janeiro kommt, sollte einmal die Rua Camerino nahe dem Hafen entlanggehen. Zeit für Reflexionen, denn keine Tafel, kein Denkmal erinnert daran, daß sich hier Brasiliens größter, entsetzlichster Menschenmarkt befand, in einer der bedeutendsten Sklavenhalterstädte der Weltgeschichte.

Ein Karnevalstext von 2003:
Fällt in Deutschland das Wort "Karneval" - verknüpft mit Köln, Mainz, Rio - winken kopflastige "Progressive" gewöhnlich ab. Carnaval - out, gräßlich, furchtbar, ja nicht - ein Unwort. Indessen geradezu ein Verbrechen, ausgerechnet den Karneval von Rio in einem Topf mit dem westdeutschen zu werfen. Denn der unterm Zuckerhut ist zuallererst ein Kunstwerk, die grandiose kulturelle Leistung einer von grausamsten Widersprüchen gezeichneten Stadt der Dritten Welt. Orientiert an oberflächlichen Fernsehbildern, glauben viele allen Ernstes, die berühmte Parade der Sambaschulen sei vor allem ein kommerzielles Touristenspektakel, von dem die Armen, Verelendeten weitgehend ausgeschlossen sind. Noch so ein unausrottbares Brasilien-Klischee. Stutzig machen sollten Basis-Fakten: Über fünfzig Sambaschulen, fast alle in den Slums, "Favelas" - Hunderttausende ihrer Bewohner bereiten dort über Monate jene ausgefeilte, gut durchkomponierte, jährlich bessere Mischung aus Oper, Ballett, Theaterstück, Musical, Kabarett vor, mit der dann jede "Escola de Samba" schließlich während der vier, fünf tollen Tage auf die Piste geht. Jede Sambaschule beschäftigt zudem Schauspieler, Musiker, Kostüm-und Maskenbildner, präsentiert ihr Defilee-Thema mit nicht weniger als fünftausend, sechstausend Laiendarstellern - die allermeisten aus dem Slum. Ungezählte Details, die man - wie bei einem Bühnenwerk vorher im Programmheft erklärt - eigentlich kennen muß, um den Kontext, den ganzen Inhalt zu verstehen. Rio-Karneval ist auch eine Wissenschaft, mit der sich Soziologen, Anthropologen, Musikexperten, Doktoranden befassen.

An der vergleichsweise extrem platten, unbeholfen steif wirkenden Rosenmontagsparade von Köln oder Mainz sind gerade um die zweitausend Karnevalisten beteiligt - gemessen an den Dimensionen Rios also kaum der Rede wert.

Schuhputzer, Tagelöhner als erfolgreiche Komponisten

Bereits jetzt, kurz nach dem jüngsten Karneval, laufen die Vorbereitungen für den nächsten, grübeln in jeder Sambaschule bereits unzählige Laienkomponisten, wie das Motto für 2004 musikalisch umgesetzt werden kann. Schuhputzer, Hilfsarbeiter in ärmlichsten Verhältnissen hatten bereits die zündendsten Ideen, siegten bei den Wettbewerben um den Samba-Enredo, mit dem es dann im Frühjahr auf die Sambodrome-Piste ging, konnten es kaum fassen, ihren Samba auf CD gepreßt zu sehen, in den Radios zu hören.

Immer wieder aufschlußreich, deutsche Parade-Zuschauer bei dem schwierigen Versuch zu beobachten, diese mit Abstand größte Show der Welt irgendwie politisch, soziokulturell "einzuordnen". Festgeklammert am Caipirinha-Glas fragt sich mancher - darf ich das denn gut finden, muß ich das nicht schärfstens verurteilen - hier diese Euphorie, Ekstase, verschwenderisch-teure Kostüme, Allegorienwagen - und dahinten die Hügelslums mit denen, die nichts, oder kaum was zu fressen haben? Selten werden Brasiliens Widersprüche deutlicher sichtbar als beim Rio-Karneval - und die Sambaschulen legen Wert darauf, sie immer deutlicher herauszustellen. Wer als Mitteleuropäer in Rio nur zuschaut, seine Berührungsängste, die üblichen Ängste vor Körperkontakt nicht überwindet, ist eigentlich verloren - das weltweit einmalige, auch in Brasilien konkurrenzlose Kulturphänomen Rio-Karneval erschließt sich nur übers intensive Mitmachen, vor allem bei der Parade, aber auch den Bällen, dem Karnevalszug des uralten Bola-Preta-Clubs am Opernhaus.
Bom - nun ist meine Sambaschule "Portela" leider nur Achter geworden - ich werds verschmerzen. Denn unser Defilee - ich zum xten Mal mittendrin - war wieder der reinste, schönste Lustgewinn pur. Die vierzehn Sambaschulen der Spitzenliga, darunter meine "Portela", investieren am meisten - jede umgerechnet bis zu drei Millionen Euro. Kostüme können bis zu 150000 Euro kosten, doch vielen reicht Körperbemalung. Eine Jury bewertet jede "Escola de Samba", denn es geht ja um Sieg und Platz. Elektrisierend, wenn mit Trillerpfeifen die letzten Kommandos gegeben werden, unsere hundertköpfige Bateria, bestimmt die beste des Erdballs, wie wild lostrommelt, Böller krachen, ein irrsinniges Feuerwerk in den nächtlichen Rio-Himmel schießt, unser tausendfacher Glücks-und Begeisterungsschrei die über hunderttausend auf den Rängen des Sambodroms ansteckt, mitreißt wie unser Samba, Leitmotiv der Farbenorgie. Und der Trommelrhythmus uns anfeuert, anregt wie Champagner und zehn starke Expressos zusammen, zu den irrwitzigsten improvisierten Schrittkombinationen anstachelt. Portela singt, tanzt, zeigt die wechselvolle Geschichte des City-Altstadtviertels "Cinelandia" - Treffpunkt der Cineasten, der Intellektuellen, Bohemiens, der Regimegegner und Stadtguerilleiros während der Militärdiktatur - die Namen, die Figuren, die besten Filme, Shows, Stücke, Episoden auch durch enorme Allegorienwagen dargestellt. Jeder einzelne Block hunderter Tänzer, so wie meiner der Harlekins - eine spezielle Idee, ein Kapitel des Cinelandia-Stücks. Und über fünftausend im eigentlich unbeschreiblichen Cinelandia-Sambarausch - hinterher, am Pistenende das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein, irgendwie bewußtseinserweitert, mit anderem Sinn, anderer Sensibilität für die Realitäten.

Irak-und Rio-Krieg als Karnevalsthema - "Schluß mit der Geldgier!"-

Die traditionellste Sambaschule Rios, Mangueira, bringt grandios Hebräer, Ägypter zu Zeiten von Ramses, selbst Moses auf die Parade-Bühne, tippt die Nahostkonflikte, den drohenden Irak-Ölkrieg der USA an - Friedensappell im Karneval - selten war das größte Volksfest der Erde so politisch, so realitätsorientiert. Kein Wunder - erstmals mußte der Carnaval wegen des zugespitzten Rio-Stadtkriegs der hochgerüsteten Banditenmilizen von den Streitkräften beschützt werden, gab es dennoch heftige, stundenlange Feuergefechte in Slums, an Stadtautobahnen, wurden sogar gleich neben dem Sambodrome im Trubel Leute erschossen, verwundet. Im extrem widersprüchlichen Brasilien geht all dies zusammen, für Europäer meist schwer begreiflich.
Mangueira verfehlt knapp den Paradesieg - Beija-Flor gewinnt mit nur einem Punkt Vorsprung - und dem sozialkritischsten Defilee: Misere, Hunger, Gewalt, soziale Kontraste, Tragödien Brasiliens - mit großartigen Szenen wie im Ballett, wie im politischen Theater. Ein Zitat aus dem Samba-Enredo, achtzig Minuten lang ununterbrochen lauthals gesungen, alles im Fernsehen übertragen:"Schluß mit diesem elend niedrigen Lohn, ich bin am Ersticken, beinahe am Ende, schreie es heraus. Schluß mit dieser Geldgier, ewig tolerieren wir die nicht."
Rio-Karneval - Opium fürs Volk? Klingt nicht grade so, viele Sambaschulen schlugen solche Töne an. Ganz offenkundig - eben kein vordergründiges, banales, kommerzielles Touristenspektakel, gar ähnlich dumpf-dümmlich, abstoßend unsinnlich, eklig profitorientiert wie die Love-Parade. Natürlich kein Vergleich - wer im Rio-Sambodrome mittanzt, mitsingt, zehrt von diesem auch ästhetischen Vergnügen womöglich viele Jahre.

Erste Welt "stocksteif, kopfgestört, fußlahm"

Arnaldo Jabor, Cineast, Starkolumnist, wohl bester Kenner seines eigenen Landes, bringt es auf den Punkt:"Unser Karneval ist ein feminines Fest, eine sexuelle, musikalische Utopie - die Sexualität der Frauen wird Brasilien retten, Vögeln ist bei uns Brasilianern so herrlich mit Musik, dem Essen, mit Spaß und Spielerei verknüpft." Die karnevalsfeindlichen Langweiler, selbstkontrollierten Kopfmenschen der Ersten Welt kriegen von ihm regelmäßig ihr Fett weg, weil sie immer nur noch mehr Komfort, Ordnung, Technologie wollten, immer naturentfremdeter wirkten :"Die haben den Rock, etwas sehr männliches - Rock ist Krieg, Karneval ist Luxus und Wollust, so feminin. Sie haben Lust am Leiden, kriegen davon gar einen Orgasmus - wir in den Tropen nehmen Sexualität als Spiel, Fest, Lachen."

Jabor-Kollege Marcio Moreira Alves haut in einer anderen Qualitätszeitung in die gleiche Kerbe:"Schwer zu glauben, daß der Rest der Welt nicht wie wir vier Tage mal Pause machte, um zu singen, zu tanzen, zu lieben." Und bezogen auf die Erste Welt, vor allem deren Oberschicht:"Diese Leute dort sind wirklich so - stocksteif, kopfgestört und auch noch fußlahm. Wenn sie mal grade nicht auf unsere Kosten Geld scheffeln, denken sie nur an Perversitäten - etwa ein schutzloses Land zu überfallen, dessen halbe Bevölkerung jünger als fünfzehn Jahre ist."
Übrigens kann man längst problemlos eine wunderschöne "Fantasia", das Karnevalskostüm der Sambaschulen, schon von Deutschland aus buchen - alles viel billiger, als manche denken. Der Lustgewinn - unbezahlbar.

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Klaus | 22.02.07 18:56 | Permalink