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Andreas Baader oder: Die Mär vom unverstellten Blick

von Jürgen Schneider

Kurz nachdem am Karfreitag 1998 das Belfaster Abkommen unterzeichnet worden war, ließ die Regierung in London hunderte von Gefangenen aus der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) sowie aus den loyalistischen Terrororganisationen frei. Die Organisationen hatten weder ihre Auflösung erklärt, noch ihre Waffen abgegeben. Die Entscheidung der britischen Regierung entsprang der Einsicht, dass eine dauerhafte Lösung des Nordirlandkonfliktes, der mehr als 3000 Tote forderte, ohne die Freilassung der Gefangenen nicht zu antizipieren wäre. Reuebekenntnisse, Entschuldigungen oder Läuterungsschwüre wurden den Gefangenen nicht abverlangt.
Als die Rote Armee Fraktion (RAF) im April 1998 ihr Projekt des »revolutionären Versuch einer Minderheit (...) zur Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse beizutragen« für beendet erklärte, passierte – nichts. Fast zehn Jahre später wird eine trostlose Debatte über die Freilassung zur Bewährung von Brigitte Mohnhaupt und die Begnadigung von Christian Klar durch den Bundespräsidenten geführt. Das mit den Mausoleen der modernen Macht verbundene Kalkül, in ihrer Identität gebrochene Gefangene vorführen zu können, soll aufgehen. Öffentliche Reue oder weiter brummen, lautet die Maxime. Auch wer für eine Freilassung der beiden plädiert, glaubt diese an Bedingungen knüpfen zu müssen. So forderte etwa ein Kommentar einer in der Rudi-Dutschke-Strasse zu Berlin erscheinenden Tageszeitung, die Isolationsfolter schon lange in Gänsefüßchen setzt, als hätte es diese nie gegeben, als sei die Bundesrepublik deswegen nie von Amnesty International und europäischen Institutionen gerügt worden, »Selbstkritik und Reflexion« von den Ex-RAFlern. Dies setzte voraus, dass die Reste der einst legalistischen Linken ihre eigenen Versäumnisse (etwa das, vor den modernen Techniken der Identitätszerstörung in den Knästen die Augen verschlossen zu haben) reflektierten, statt den demokratischen Rechtsstaat zu beschwören, der seine Truppen auf mehreren Kriegsschauplätzen in Stellung gebracht hat, ohne zuhause, wo die moderne Sklavenarbeit en vogue ist, auf den geringsten Widerstand zu stoßen, und der keine Probleme damit hat, Gefangene in der karibischen Hölle der US-Regierung zu belassen.

Glaubte man einigen Veröffentlichungen aus den letzten Jahren, so ließe sich die RAF ohnehin auf einen Mann reduzieren – auf Andreas Baader. Wurde doch Geschichte immer schon von »großen Männern« gemacht. Das jüngste Beispiel für eine solche Konstruktion ist die Biographie aus der Feder von Klaus Stern und Jörg Herrmann: »Andreas Baader – Das Leben eines Staatsfeindes«. Vollmundig wird der Leserschaft ein »neuer, unverstellter Blick« auf die Person Baader versprochen. Immerhin habe man »in der umgangreichen RAF-Sammlung (ca. 85 Regalmeter!) des Hamburger Instituts für Sozialforschung« geforscht und mit Zeitzeugen gesprochen, die sich bislang nicht zu Baader geäußert hätten. Wer sich allerdings irgendetwas Neues aus der ersten Baader-Biographie verspricht, wird enttäuscht werden. Die Biographen wärmen all das auf, was uns in den letzten dreißig Jahren als gesicherte »Wahrheiten« verkauft werden sollte. Die für den bewaffneten Kampf von Baader »gefügig gemachte« Ulrike Meinhof hat Selbstmord begangen, am Muttertag, weil sie ihre Kinder verlassen hatte, und weil sie »unter dem Irrsinn ihres Weges (...) und möglicherweise auch unter einer fortbestehenden Hirnerkrankung gelitten hat«. Und weil es – ganz Staatsschutzversion – Spannungen mit der ebenfalls »gefügig gemachten« Gudrun Ennslin gegeben haben soll. Da bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung, bei der in alter deutscher Tradition Ulrike Meinhofs Gehirn entnommen wurde (was Stern und Herrmann verschweigen), »keine Fremdeinwirkung« festgestellt wurde, steht für die Baader-Biographen fest: Es war Suizid. Dass eine Internationale Untersuchungskommission zu anderen Ergebnissen kam, wird nicht erwähnt, der Biographenblick bleibt unverstellt. Zwar lesen wir zur Nacht des 18. Oktober 1977 in Stammheim, dass »der genaue Hergang allerdings bis heute im Dunkeln geblieben (ist)«, doch auch hier ist für die Autoren klar: Baader, Ennslin und Raspe haben Selbstmord begangen, der Selbstmord sei eine »Mordinszenierung« von Baader gewesen. Überhaupt hat der unter einer »narzisstischen Persönlichkeitsstörung« leidende »Schulabbrecher« Baader, der »kein erarbeitetes Leben« gehabt habe und dessen »hermetische Erklärungen« keiner weiteren Diskussion bedürften, seine »Selbstinszenierungsbedürfnisse« ausgelebt, angeregt von seinem Onkel Michael Kroecher, einem »schwulen Tänzer«. Es muß ein schwuler Tänzer sein, denn: »Andreas Baader war kein Mann, der eine typische männliche Gewaltbereitschaft ausstrahlte.« Sein Vater kehrte nicht aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, Andreas »fehlten die entsprechenden männlichen Vorbilder«. Eine Baadersche Inszenierung sei auch die »Folterkampagne« (sic!) gewesen, entsprungen seiner »PR-Strategie« aus dessen »Führerbunker«. Wie das Blatt aus der Rudi-Dutschke-Strasse setzen die Baader-Biographen Isolationshaft in Gänsefüßchen. Als Hauptzeuge gegen die Foltervorwürfe dient ihnen der stellvertretende Vollzugsdienstleiter in Stammheim, Horst Bubeck, der – wie er offen bekennt – jede extralegale Maßnahme gegen die Gefangenen mittrug.
Klaus Stern hat mit der in Paris lebenden Baader-Tochter Suse gesprochen. Glaubt man ihm, hat sie das Gespräch mit der Frage eröffnet: »Wissen Sie eigentlich, wie Andreas 1977 ums Leben gekommen ist?« Wollte die Tochter damit Zweifel an der offiziellen Selbstmordversion zum Ausdruck bringen? Hat Herr Stern sich um eine Antwort bemüht? Wir erfahren es nicht. Stern schreibt: »Schnell wird klar, schon lange hat sie sich nicht mehr mit dem Mann auseinandergesetzt, der ihr Vater war.« Die Biographen müssen stets die Deutungshoheit haben. Sie kennen auch den Artikel aus dem Magazin »Stern«, der am 9. Oktober 2002 unter der Überschrift ›Die Nacht von Stammheim‹ erschien, ohne aber auf die darin ausgebreiteten Widersprüche zur offiziellen Darstellung einzugehen, außer mit einem Seitenhieb gegen Irmgard Möller. Laut »Stern« hat die ›Sonderkommission Stammheim‹ nie geprüft, ob die Gefangenen aus der RAF »womöglich ermordet worden seien«. Der tote Raspe soll die Waffe in der Hand gehabt haben, was, so der SoKo-Chef Textor, »natürlich ein Verdachtsmoment auf Mord ist«; im Fall Gudrun Ennslin wurde kein Histamin-Test veranlasst, aufgrund dessen sich sagen lässt, ob jemand nach dem Tod aufgehängt wurde; und Professor Hoffmeister stellte bei Irmgard Möller, der einzigen Überlebenden der Nacht vom 18.10.1977, einen ca. 7 cm langen Stichkanal fest, den die Staatsanwaltschaft nie erwähnte. Irmgard Möller ist bis heute bei ihrer Version geblieben, Opfer einer Geheimdienstoperation gewesen zu sein, was laut unseren Baader-Biographen »ein starkes Stück« sei.
Im Kern beschäftigt sich der »Stern«-Artikel mit Volker Speitel, der die Waffen in den 7. Stock des Hochsicherheitstraktes von Stammheim hatte schmuggeln lassen. Er war am 2. Oktober 1977 festgenommen worden. Nachdem er gegenüber den Vernehmungsbeamten Aussagen gemacht hatte, erfolgte am 5. Oktober die Durchsuchung der Kanzlei Croissant, in der Speitel tätig und in der ein paar Wochen davor ein Sprengsatz explodiert war. In der Kanzlei anwesend war bei der Explosion nur Speitel. Die schon zuvor ergangenen Hilferufe des Anwaltes Klaus Croissant, man möge dem Großmaul Speitel doch die Zügel anlegen, blieb in den eigenen Reihen ungehört.
Es ist also zu fragen, ob nicht durch Speitel, der bis heute von der Zeugenschutz-Abteilung des Bundeskriminalamtes betreut wird, den Diensten die Existenz der Waffen in Stammheim bekannt war, somit also eine ideale Ausgangsbasis für die Durchsetzung der Staatsräson in den Zellen existierte. Fragen wie diese – und derer gibt es viele, etwa die, wo die drei Briefe abgeblieben sind, die Gudrun Ennslin kurz vor ihrem Tod gegenüber Geistlichen erwähnte – sind schon lange nicht mehr opportun, es gilt sich zur Selbstmordversion des Staatsschutzes zu bekennen, die schon über den Äther ging, als Jan-Carl Raspe noch am Leben war. Als unverstellt gilt nur der Blick, der Fragen staatstreu gar nicht erst zulässt, damit das Gerede von der »Zivilgesellschaft« beim Brunch nicht getrübt wird. Oder, um den in der Biographie zitierten Baader erneut zu zitieren: »(W)as sie wollen ist, dass man mit ihren Scheißnieten verblödet.« Immerhin lässt sich von Stern und Herrmann aber lernen, dass Hanns-Martin Schleyer eine »ambivalente Vergangenheit« hatte. »Denn Schleyer war Mitglied der SS und der NSDAP gewesen.« So ist er, der »unverstellte Blick«. Und was die von den Ex-RAFlern geforderte Reue betrifft, soll der Schriftsteller Robert Walser das letzte Wort haben. Der schrieb in seinem Werk »Aus dem Bleistiftgebiet«: »Nur Schurken entschuldigen sich, behaupte ich.«

Klaus Stern/Jörg Herrmann, Andreas Baader – Das Leben eines Staatsfeindes. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007, 360 S., € 15,-

Der Text erscheint auch am 14.02.2007 in der jungen Welt.

natter | 13.02.07 19:27 | Permalink