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Nach Stichwahl in Brasilien

Lulas Ex-Berater Frei Betto: Regierung könnte jetzt zur Geisel konservativer Kräfte werden
Außenminister Celso Amorim: Sehr gute Beziehungen Brasilias zu George Bush
Analysen von Anti-Korruptions-NGO "Transparencia Brasil"
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Angesichts von Staatschef Lulas Wiederwahl hat der bekannte Befreiungstheologe Frei Betto die Befürchtung geäußert, die Regierung könne in der zweiten Amtsperiode zur "Geisel konservativer Kräfte" werden und damit die Möglichkeit verlieren, Wirtschaftswachstum zu fördern und die enormen sozialen Kontraste zu verringern. Auch führende Sozialwissenschaftler und die katholische Kirche sagen ein weit schwierigeres Regieren voraus.

Denn als Resultat der Gouverneurs-und Kongreßwahlen, die im Oktober parallel stattfanden, hat sich die politische Landkarte des größten und wirtschaftlich stärksten lateinamerikanischen Staates erheblich verändert. Die brasilianische Bischofskonferenz(CNBB) forderte von Lula in einer Botschaft angesichts der zahlreichen Regierungsskandale eine ethische Amtsführung. Der deutschstämmige CNBB-Generalsekretär Odilo Scherer betonte, in den letzten Jahren sei die tiefe moralische Krise der Politik für alle Brasilianer offenbar geworden, habe es immer wieder Enthüllungen über Korruption und Machtmißbrauch durch Exekutive und Legislative gegeben. Die Politik müsse ihre ethische Dimension zurückgewinnen und nicht länger nur eine auf raschen Vorteil gerichtete Aktivität bleiben. Laut Scherer warnt die Bischofskonferenz Brasilia zudem vor einer "Merkantilisierung des Lebens in einem vorrangig auf Profit und unmittelbaren Nutzen gerichteten Wirtschaftsmodell". Es müsse dem Leben dienen - die Menschen, aber auch Natur und Umwelt, dürften nicht ökonomischen Interessen unterworfen werden. Brasilien brauche dringend eine bessere Einkommensverteilung. Große, bislang marginalisierte Bevölkerungsteile müßten endlich in die Gesellschaft integriert werden.
In den Millionenstädten wie Rio, Sao Paulo, Fortaleza, Recife, Belo Horizonte, Belem und Salvador, so eine neue Studie, ist die Zahl der Armen und Verelendeten heute höher als 1995. In der neuesten Unesco-Statistik über die Qualität des öffentlichen Bildungswesens liegt die zehntgrößte Wirtschaftsnation Brasilien nur auf dem 72. Platz, sogar noch hinter Paraguay. Kuba rangiert dagegen noch vor Chile auf dem 27. Platz, China auf dem 43., Mexiko auf dem 48., Argentinien auf dem 50. Platz.
--Schutz der Ökosysteme--
Scherer kritisierte scharf, daß viele wichtige und heikle Themen, darunter der Schutz von Ökosystemen wie Amazonien, im Wahlkampf ausgeklammert worden seien. "Wir zerstören unser eigenes Haus, wenn wir so weitermachen!“ Die Bischofskonferenz sei zudem sehr besorgt über die politische Zusammensetzung des neu gewählten Nationalkongresses. Staatschef Lulas Arbeiterpartei(PT) hat dort keine Mehrheit, mindestens ein Drittel der neuen Abgeordneten sind Millionäre. 53 Abgeordnete wurden wiedergewählt, gegen die Gerichtsprozesse laufen oder wegen Verbrechen ermittelt wird. Auf der Suche nach Koalitionspartnern, betonte Scherer, dürfe Lula keineswegs eigensüchtige Interessen von Parteien und Gruppen berücksichtigen, sondern müsse das Wohl der Nation voranstellen.
Zu Frei Bettos Befürchtungen meinte Scherer: "Das ist auch die Besorgnis der Bischofskonferenz.“ Es stelle sich die Frage der Regierungsfähigkeit. Zwischen Lulas Arbeiterpartei und der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei(PSDB) des unterlegenen Herausforderers Geraldo Alckmin bestünden keine großen Unterschiede.
Der wirtschaftlich starke, durch Deutschstämmige geprägte südbrasilianische Teilstaat Rio Grande do Sul, in dem mehrmals das Weltsozialforum stattfand, war bisher eine Hochburg von Lulas PT, wird indessen künftig von der PSDB-Gouverneurin Yeda Crusius regiert. Bischof Scherer meinte dazu, solcher Machtwechsel sei sehr gesund, um bestimmte eingewurzelte Schwächen und Sünden der Politik ausbügeln zu können.
Die Sozialdemokraten haben künftig die Macht in sechs brasilianischen Teilstaaten, in denen exakt 51 Prozent des nationalen Bruttosozialprodukts erzeugt werden und der größte Teil der Arbeiterschaft lebt. Die von Lulas Partei administrierten fünf Teilstaaten kommen dagegen nur auf acht Prozent des Bruttosozialprodukts.
--„Kampf gegen Korruption schwieriger – Lulas Partei war nie links“--
Renommierte Sozialwissenschaftler wie Claudio Abramo aus Sao Paulo erklärten, wegen der Struktur des neuen Nationalkongresses werde in Lulas zweiter Amtszeit nicht nur das Regieren, sondern auch der Kampf gegen die Korruption viel schwieriger. „Denn man muß ja die Ursachen bekämpfen, von denen ein beträchtlicher Teil der Abgeordneten Nutzen hat. Die Chancen sind hoch, daß Brasilien mit dem neuen Kongreß noch viel schlimmere Erfahrungen macht als mit dem bisherigen.“ Unter den Abgeordneten befänden sich viele Abenteurer und egozentrische Opportunisten, denen es nur um persönliche Interessen gehe. Abramo ist Exekutivdirektor der populärsten brasilianischen Nicht-Regierungsorganisation, "Transparencia Brasil", die dem internationalen Anti-Korruptions-Netzwerk "Transparency International" angehört und zahlreiche korrupte, zwielichtige Politiker entlarvt hat.
Abramo äußerte sich im Interview auch zu der Tatsache, daß mindestens sechs der Kongreß-Millionäre just aus Lulas Arbeiterpartei sind:“Das ist keineswegs überraschend, da die Arbeiterpartei nie eine linke Partei war. In ihr trifft man wirklich Leute aller Couleur – und eben auch Millionäre. Unser Volk ist entpolitisiert.“ Rios Universitätsprofessorin Anita Prestes, Tochter der in Bernburg von den Nazis vergasten Olga Benario, vertrat im Interview die Position, daß es in Brasilien keine linken Parteien und Organisationen gibt, lediglich linke Einzelpersönlichkeiten. Wie sieht das Claudio Abramo von "Transparencia Brasil"? Anita Prestes habe Recht. "Solche Parteien und Organisationen existieren tatsächlich nicht, das ist die Wahrheit, derartiges ist hier nicht verwurzelt. Wir haben hier keinen Teil der Gesellschaft, der eine linke Partei tragen könnte. Wir sind ein deutlich unterentwickeltes Land - die intellektuelle Produktion Brasiliens ist von niedrigstem Niveau."
Zur wachsenden Zahl von Millionären im Kongreß meinte Abramo:“Das ist ein Reflex der sozialen Ungleichheit in Brasilien und zeigt den Einfluß des Geldes im Wahlprozeß. Geld ist der große Stimmenbeschaffer. Hier sieht man einen Fehler unseres Wahlsystems – die Oberschicht wird begünstigt, Leute mit viel Geld gehen in die Politik, um ihre Interessen zu verfechten. Angehörige der Bevölkerungsmehrheit sind dagegen durch unser Wahlsystem benachteiligt.“
Laut Lulas Außenminister Celso Amorim war das Verhältnis zum Weißen Haus noch nie so gut:“Wir haben sehr gute Beziehungen zu Präsident George Bush, pragmatisch und direkt. Ich spreche häufig mit Condoleeza Rice. Unser Handel mit den USA schlägt alle Rekorde.“
--armselige Wiederwahl-Siegesfeier--
Wer Feste, Kundgebungen der Arbeiterpartei noch aus den Neunzigern kennt, kommt bereits seit der Präsidentschafts-Wahlkampagne von 2002 aus dem Staunen nicht mehr heraus. Einst regierte Spontaneität, organisierten die PT-Aktivisten selber voll Enthusiasmus die Feten und Meetings, waren Freude, Jubel, Feierlaune echt. Ab 2002 wurden derartige Aktivitäten "professionalisiert", übernahmen Eventfirmen und PR-Manager die Regie, wurden fürs Fernsehen, wegen der beabsíchtigten Wirkung auf die Zuschauer, Ablauf-Choreographien einstudiert, parteifremde Fahnen-und Posterschwenker, darunter sexy Mädchen, gemietet. Bezeichnend war Lulas Abschlußkundgebung in Sao Bernardo bei Sao Paulo wenige Tage vor dem ersten Durchgang: Anders als früher kam man an die Bühne nicht mehr heran - mit doppelten Metallgitterzäunen und Bodyguards wurde direkt davor ein weiter Raum für die professionellen Fahnenschwenker und Jubler freigelassen. In den TV-Nachrichtensendungen bilden diese dann die gewünschte PR-Kulisse "begeisterter Massen" für den Neopopulisten Lula. Zwei dunkelhäutige Frauen, seit fast zwei Jahren arbeitslos, kostümierten sich in der Wahlkampagne für monatlich umgerechnet rund 150 Euro als Lula-Anhänger:"An manchen Tagen stehen wir in Sao Paulo nur an irgendeiner Zentrumsecke mit der PT-Fahne rum, an anderen Tagen schicken sie uns zu PT-Wahldemos oder Kundgebungen, in allen möglichen Stadtteilen." Nicht selten haben diese bezahlten Jubler nicht die geringste Ahnung, für welchen PT-Kandidaten sie gerade Fahnen und Transparente schwenken. Befragt nach PT-Gouverneurskandidat Mercadante, der vorne auf der Bühne gerade in seinem üblichen Schreiton loslegte, antworteten Jubel-Frauen:"Mercadante, wer ist das denn?"
Am Abend der Wiederwahl Lulas auf der Avenida Paulista Sao Paulos das gleiche Schema: Coole Techniker und Bodyguards der Eventfirmen machen die Organisation - zwischen Lula auf der Bühne und "normalen" Festteilnehmern eine Distanz von etwa achtzig Metern, zwischen den Metallgittern, genauso wie in Sao Bernardo, wieder der Raum für die Profi-Jubler und Fahnenschwenker, die man wie beabsichtigt, später in den TV-Nachrichten als "begeisterte Massen" wahrnimmt. Denn hinter den Metallgittern sammelten sich zur Siegesfeier gerade an die zweitausend, dreitausend Personen. Nur so viele waren in der immerhin drittgrößten Stadt der Welt zur City-Avenida geeilt, um Lula und den Wahlsieg zu feiern. Vor vier Jahren zählte man an dieser Stelle rund fünfzigtausend. Diesmal nur noch sehr wenig Spontanpublikum und kaum Studenten, dafür größtenteils Funktionsträger der Arbeiterpartei und Lula-naher Gewerkschaften, die allermeisten hindelegiert, mit Bussen hingekarrt. Hallte Lulas Wahljingle teils in der Disco-Version wieder und wieder, traten die Fahnenschwenker wie Aufziehpuppen in Aktion - brach der Jingle ab, standen die Leute größtenteils steif da. Jene enthusiastischen PT-Aktivisten und Sympathisanten von einst suchte man vergebens. Lula gab zuerst im nahen "Hotel Intercontinental" seine Pressekonferenz, spulte danach auf der Avenidabühne kurz die üblichen Gemeinplätze ab und trollte sich. Für hinterher waren noch Rap, Hiphop, Forrò und eine Mini-Delegation der Sambaschule Vai-Vai angekündigt - alle präsentierten sich vor davonziehenden Leuten. Eine bemerkenswert armselige Veranstaltung.
--Elitekandidat Lula--
Sänger und Komponist Caetano Veloso sagte vor den Stichwahlen, Brasiliens Eliten hätten Lula bisher unterstützt - und würden dies weiter tun. Olavo Setubal, Chef und Gründer der großen Privatbank Itaù, stellte klar, keinen Unterschied zwischen Lula und Herausforderer Alckmin zu sehen. "Beide sind Konservative, es ist egal, wer von beiden gewinnt." Brasiliens Privatbanken machten unter Lula dank dessen Hochzinspolitik die größten Gewinne ihrer Geschichte, nur in der Schweiz ist die Banken-Rentabilität höher. Statt "Vater der Armen", Pai dos Pobres, höhnen manche Brasilianer, könnte man Lula auch den "Paten der Bankiers" nennen. Finanzminister Guido Mantega warf Unternehmern indessen vor, unter Lula Rekordgewinne zu machen, aber dennoch für Alckmin zu votieren. Lula sagte:"Frustrierend, daß die Reichen mich nicht wählen - denn niemand hat so gut unter meiner Regierung verdient wie sie." Laut PT-Mitgründer Francisco Oliveira, Soziologieprofessor in Sao Paulo, hat sich die Partei in eine phantastische bürokratische Maschine verwandelt, in der Ideologie nur noch sehr wenig Gewicht habe.
Wer hätte gedacht, daß Lula auch in diesem Wahlkampf berüchtigte Oligarchen, darunter den Sarney-Clan aus dem nordöstlichen Teilstaate Maranhao unterstützen würde? Auf einer dortigen Kundgebung stand Lula im Oktober neben Diktaturaktivist und Ex-Präsident Josè Sarney, bat die Maranhenser, für Sarneys Tochter Roseana zu stimmen. Die gehört immerhin zur Rechtspartei PFL. Auf einer Kundgebung in Belem nahe der Amazonasmündung küßte Lula gar Jader Barbalho, einem nationalen Symbol für korrupte, zwielichtige Politik, die Hand. Schriftsteller Joao Ubaldo Ribeiro höhnte in seinen Kolumnen: "Barbalho war gerade einmal nicht in Handschellen." Im Zusammenhang mit dem von der Bundespolizei vereitelten Ankauf eines dubiosen Dossiers gegen die Sozialdemokraten, einer Facette des Wahlzirkus, mußte Lula seinen Wahlmanager Ricardo Berzoini entlassen, diesen gleichzeitig vom Posten des Parteichefs entfernen. Berzoini dürfte wissen, woher die von der Bundespolizei beschlagnahmten 1,7 Millionen Real stammten. Doch Lula sagte gegenüber Journalisten, weder Berzoini noch andere verwickelte Figuren der Parteispitze nach der Herkunft des Geldes gefragt zu haben. "Ich fragte sie nicht und werde sie auch nicht fragen."
--regierungsnaher Gewerkschaftsdachverband CUT als Streikbrecher--
Für den Sozialwissenschaftler Ricardo Antunes von der Universität Campinas ist keineswegs zufällig, daß Führer des Gewerkschaftsdachverbandes CUT in sämtliche Regierungsskandale um Stimmen-und Parteienkauf verwickelt sind. Denn laut Antunes wurde der CUT zum "Gefangenen des Staates, des Arbeitsministeriums und öffentlicher Gelder". Streikende erlebten in den vier Lula-Amtsjahren erstmals den CUT als Streikbrecher, Kungler mit der Gegenseite, Marionette der Regierung. Wie hatte doch Lula gleich in seiner Antrittsrede von 2003 erklärt:"Der Kampf gegen die Korruption und die Verteidigung der Ethik beim Umgang mit öffentlichem Gut werden zentrale Ziele meiner Regierung sein. Es ist notwendig, mit aller Entschiedenheit diese wahre Kultur der Straflosigkeit zu beseitigen, die in bestimmten Sektoren des brasilianischen Lebens vorherrscht." Vorhersehbar agierte die Lula-Regierung indessen völlig anders und bewies, was von solchen Propagandasprüchen zu halten ist. Brasiliens Generalstaatsanwalt charakterisierte zahlreiche enge Mitarbeiter und Freunde Lulas gar als "kriminelle Organisation", als "Bande". Francisco Whitaker aus Sao Paulo, Mitgründer des Weltsozialforums, dem jetzt der Alternative Nobelpreis zugesprochen wurde, kennt die Tricks der Spitzenfunktionäre noch aus seiner Zeit als Abgeordneter der PT, ist Anfang 2006 ausgetreten. Das Ethik-Image habe die Arbeiterpartei-Führung lediglich gepflegt, um Wahlen zu gewinnen, sagt er im Interview. Lula schloß politische Abkommen mit berüchtigten Oligarchen und Diktaturaktivisten wie Sarney und Antonio Carlos Magalhaes:"Das ist schon schlimmer als Verrat - die archaischen Oligarchien bleiben fortbestehen, können ganz beruhigt sein."
Whitaker entsetzt, wie "pragmatisch" nur zu viele aus Lulas Anhang die Regierungsübernahme sahen: "Das Motto war - jetzt sind wir dran und fassen ab, wo es nur geht, hieven unsere Leute auf möglichst viele Posten. Das hörte ich oft in der PT - einfach furchtbar, daß sie nichts anderes wollen als die Vorgänger." Der wegen seines jahrzehntelangen Einsatzes gegen Hunger und Misere hochgeachtete Bischof Mauro Morelli erklärte jetzt nicht zufällig:"Zwar werden große Reichtümer produziert, doch gleichzeitig verschärft sich die Umweltzerstörung, wächst die soziale Ausgrenzung, werden Misere und Hunger erzeugt." Die brasilianische Gesellschaft, so Morelli, "ist zunehmend gewalttätiger und zynischer".
--Zynismus, Rücksichtslosigkeit, Sozialdarwinismus--
Just außerordentlicher Zynismus, dazu ekliger Sozialdarwinismus, abstoßende Rücksichtslosigkeit der Stärkeren, Brutaleren gegen die Schwächeren, die Alten und Kranken prägen immer mehr den Alltag, wie sich fast überall beobachten läßt. Nicht zufällig wechseln immer mehr Gebildete, Politisierte aus der brasilianischen Mittelschicht in zivilisierte Länder wie Deutschland, und sei es über getrixte Eheschließungen, weil in einem Land mit jährlich über 55000 Mordtoten ein menschenwürdiges Leben nicht realisierbar erscheint. Bezeichnend für das Klima im Lande sind Gewalttaten in den Tagen vor und nach der Stichwahl: An der belebten Avenida Joao Dias in Sao Paulo fahren zwei Gangster mit Motorrädern an ein Seniorenehepaar heran und fordern von der Frau(62) die Handtasche. Weil sie diese nicht herausgibt, wird sie mit einem Revolverschuß in den Mund getötet. Der Mann(64), von einem Schlaganfall gezeichnet, gestikuliert und wird daraufhin ebenfalls erschossen. Die Täter fahren ohne jegliche Beute davon, handelten gemäß Banditenkodex, also sofortiger Abstrafung widerständiger Opfer. Hätten die beiden Brasilianer das Verbrechen in München, Berlin oder Hamburg verübt, würde die deutsche Öffentlichkeit mit Empörung reagieren - hier jedoch nichts davon. Auf einem Forrò-Schwoof in Santo Andre bei Sao Paulo wird ein Tanzpaar von zwei Männern erschossen, die mit Motorrädern heranfuhren. Ebenfalls Normalität. In Rio ist eine Mutter von drei Kindern in der Bankfiliale irritiert, weil die Rente noch nicht überwiesen worden war. Die Frau holt aus der Wohnung eine große Plasteflasche, füllt sie mit Benzin und kehrt zur Bankfiliale zurück. Dort gießt sie die Flasche über einer dort zufällig sitzenden 71-Jährigen aus, zündet sie an und flüchtet. Die alte Frau stirbt an den Brandverletzungen, die später gefaßte Täterin sagt, keinerlei Reue zu spüren. Auch Bettler, Obdachlose erleiden nach ähnlichem Schema regelmäßig in Brasilien den Feuertod, ohne daß dies, wie beispielsweise in Deutschland vorhersehbar, zu öffentlicher Empörung führte. In Rio wird der Präsident einer Slumbewohnerassoziation zu 309 Jahren verurteilt, weil er mit anderen einen vollbesetzten Stadtbus anzündete. Fünf Passagiere, darunter ein einjähriges Kind, kamen in den Flammen um, weitere 16 erlitten schwere Brandverletzungen. Alles Teil der Normalität - die grauenhafte Menschenrechts-und Sicherheitslage war für Lula im Wahlkampf nur ein Randthema. Mit Rücksicht auf das Image Brasiliens in der Ersten Welt verzichten die Journalisten des Tropenlandes bereits seit Jahren fast ausnahmslos darauf, die barbarischsten Gewaltverbrechen zu vermelden. Der Abstand im allgemeinen Entwicklungsniveau zwischen Deutschland und Brasilien wird spürbar größer.
--Streitpunkt Privatisierung--
Lula konnte gegen Herausforderer Alckmin in den TV-Debatten mit dem Vorwurf punkten, dieser wolle weitere Staatsbetriebe privatisieren. Brasiliens renommiertester, wohl im Ausland bekanntester Anthropologe Roberto DaMatta betonte deshalb in seinen Zeitungskolumnen: "Alckmin hätte Lula fragen müssen, warum er nicht rückverstaatlicht, was auf illegale oder fragwürdige Weise von der Vorgängerregierung privatisiert worden ist. Oder wie er plant, in kompetente und ehrliche Arme des Staates rückzuintegrieren, was alles privatisiert wurde."
Brasiliens Sozialbewegungen und selbst die katholische Kirche mobilisieren für die Rückverstaatlichung des riesigen, hochlukrativen Erzkonzerns "Vale do Rio Doce", der jetzt sogar die kanadische INCO kaufte - Minenunternehmen mit den größten Nickelreserven der Welt - und damit in die internationale Spitzengruppe der Erzmultis aufstieg, vom Rohstoffboom auch durch exorbitante Preiserhöhungen enorm profitiert. "Vale do Rio Doce" ist jetzt der zweitgrößte Minenkonzern der Erde, hat als brasilianischer Multi Filialen in zahlreichen Ländern. Brasiliens Justiz hat jetzt anerkannt, daß "Vale do Rio Doce" geradezu für einen Spottpreis 1997 unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso verhökert wurde. Logisch, daß Brasiliens Landlosenbewegung MST, die von den deutschen Kirchen stark unterstützt wird, jetzt am kräftigsten für die Rückverstaatlichung agitiert, die entsprechenden Argumente und Fakten verbreitet. Der mit Interessenvertretern der Privatwirtschaft durchsetzte Staat, heißt es immer wieder, habe interessante Staatsunternehmen regelrecht für die Privatisierung sturmreif geschossen, derartige Staatsfirmen im Interesse wartender Käufer absichtlich heruntergewirtschaftet.
Hier die portugiesische MST-Argumentation:
http://www.mst.org.br/mst/revista_pagina.php?ed=8&cd=1967

Klaus | 31.10.06 03:45 | Permalink