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Keine Überraschung bei Präsidentschaftswahlen in Brasilien - Elitekandidaten müssen in die Stichwahl

von Klaus Hart, Sao Paulo

Die Ergebnisse der brasilianischen Wahlen vom Sonntag entsprachen dem stark konservativen Profil der Pflichtwähler, von denen sich immerhin 47 Prozent als rechts einstufen. Die brasilianischen Eliten befinden sich in einer komfortablen Situation, da beide Präsidentschaftskandidaten nach ihrem Gusto sind. Der brasilianische Staatschef Luis Inacio Lula da Silva von der neoliberalen rechtssozialdemokratischen Arbeiterpartei PT ging ebenfalls wie sein wichtigster Herausforderer Geraldo Alckmin von der Sozialdemokratischen Partei PSDB mit einer Mitte-Rechts-Allianz ins Rennen. Wie sich seit Wochen abzeichnete, verfehlte Lula die Wiederwahl im ersten Durchgang und hat durchaus Chancen, am 29. Oktober in der Stichwahl gegen Alckmin zu unterliegen. Im Nationalkongreß kommt es voraussichtlich zu einer Stärkung des konservativ-rechten Lagers, dessen Parteien gut abschnitten. Symbolfiguren zwielichtiger Politik wie der rechtsgerichtete Großunternehmer Paulo Maluf aus Sao Paulo kamen auf hervorragende Ergebnisse. Ex-Präsident Fernando Collor aus dem nordostbrasilianischen Teilstaat Alagoas, der wegen Korruption und Machtmißbrauch 1992 amtsenthoben worden war, erlangte einen Sitz im Senat.

Kirche:"Linker" Lula mit "Mitte-Rechts-Wirtschafts-und Sozialpolitik"
Auch Brasiliens Bischofskonferenz(CNBB) machte in einer ersten Stellungnahme deutlich, daß Staatschef Lula für unethische Machtausübung, Korruptionsskandale und einen Rechtsschwenk abgestraft wurde. Der deutschstämmige Generalsekretär Odilo Scherer sagte, Lula werde nur zu oft als "links" eingestuft. "Doch in der Wirtschafts-und Sozialpolitik fährt er einen Mitte-Rechts-Kurs." Bei den Wahlen zum Nationalkongreß, so Scherer, gab es einen "kleinen Schwenk nach rechts". Besorgniserregend sei, daß verschiedene Parlamentarier die Wiederwahl geschafft hätten, obwohl sie in die zahlreichen Korruptionsskandale der Lula-Regierung verwickelt seien.

ethischer Volksliebling Lula?
Berufspolitiker Lula wird gelegentlich in Europa als Arbeiterführer, charismatischer Volkstribun, gar Volksliebling hingestellt, der es schaffe, fast alle Brasilianer anzusprechen. Brasiliens Medien sehen es gewöhnlich anders und haben auch nach den neuesten Wahlen genau hingeschaut, wieviele der rund 126 Millionen Pflichtwähler tatsächlich für "Hoffnungsträger" Lula votiert haben. Es waren 46,6 Millionen, also nur 37 Prozent aller Wähler.

Auf der Basis von in zahlreiche Medien durchgeschalteter deutsch-brasilianischer Auslandspropaganda wurde zudem nach den Präsidentschaftswahlen von 2002 immer wieder betont, Lula und seine Arbeiterpartei stünden für einen von tiefer Ethik geprägten Politikstil. Dieser war indessen am allerwenigsten zu erwarten, wie nicht zuletzt die von Lula und den anderen PT-Führungsmitgliedern bevorzugten Bündnisse mit berüchtigten, rechtsgerichteten, archaischen Figuren der brasilianischen Politik zeigten. Zwielichtige Politik, üblen Machtmißbrauch betrieb die PT-Spitze unter Lula bereits seit den 90er Jahren - ehemalige PT-Mitglieder wie der jetzt mit dem Alternativen Nobelpreis geehrte kirchliche Menschenrechtsaktivist und Mitgründer des Weltsozialforums, Chico Whitaker, haben dazu manche Details geliefert. Nicht zufällig hatte der Jurist Helio Bicudo, PT-Mitgründer und angesehener katholischer Menschenrechtsaktivist, nach ersten Enthüllungen über Stimmen-und Parteienkauf erklärt, es gebe genügend Fakten, die eine Amtsenthebung Lulas rechtfertigten:"Lula ist Meister darin, Schmutz unter den Teppich zu kehren - stets agierte er auf diese Weise." Ab 1998 sei von der PT-Führung, inclusive Lula, definitiv der Weg verfolgt worden, politische Macht um jeden Preis zu erringen.
Lange vor der Präsidentschaftswahl von 2002 hatten kaltgestellte Mitglieder wie Bicudo, aber auch die Sozialbewegungen und die Bischofskonferenz, den Kurswechsel der PT-Führung angeprangert. Daß Lula sich zum Vize den Diktaturaktivisten, Großunternehmer und Milliardär Josè Alencar erwählte, zeigte für viele Brasilianer sehr deutlich, daß es mit mehr "politischer Ethik" nichts werden würde. Lulas Wahl wurde daher eher mit gespannter Erwartung, denn mit Jubel aufgenommen. Nachdem die Korruptionsskandale der Lula-Regierung nicht mehr herunterzuspielen sind, gehen jene, die den Elitekandidaten Lula auftragsgemäß zum "Hoffnungsträger" der Massen, gar der Progressiven in aller Welt hochgejubelt hatten, derzeit sicherheitshalber auf Distanz. Den Multis, darunter den in Brasilien agierenden Banken, kam Lula als Staatschef sehr recht. Man kannte ihn aus dessen Zeit als Gewerkschaftsführer keineswegs als "Feind des Kapitals", sondern als netten, umgänglichen Partner in Lohnverhandlungen. Vorhersehbar machten gerade Banken, Spekulanten unter Lula so hohe Gewinne wie nie zuvor in der Geschichte des Tropenlandes.

Klaus | 02.10.06 14:46 | Permalink

Kommentare

Bitte bitte bitte mehr aus Brasilien!

Was sagen eigentlich die Bürger auf der Strasse [1] zu diesen (Wahl-)Entwicklungen?
[2] zur bisherigen Politik Lulas?

zB.
- Kirchenbesucher?
- Arbeiter ausländischer Konzerne?
- Slum-Bewohner?
- Unternehmer/Angst./Arbeiter im informellen Sektor?

Wie stehts ausserdem um die Stimmung in den Unis?
- Wirtschaftsprofs?
- Ökonomie-Studenten?

Was denken daneben die Mitarbeiter ausländischer Konzerne zu diesen Entwicklungen?

Wie denken sowohl Brasilianer als auch in Brasilien lebende AusländerInnen über:
- die Entwicklung ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation unter Lula?
- über Gewalt, Macht und Korruption?
- was wünschen sie sich von der nächsten Regierung?

Verfasst von: Leopoldsberg | 02.10.06 20:18

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