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Brasiliens Künstler - Ethik und Politik

Streit um Unterstützung der Wiederwahl von Staatschef Lula
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
In Deutschland wird über Günter Grass gestritten - und in Lateinamerikas größter Demokratie stehen Ethik und Moral ebenfalls im Mittelpunkt heftiger öffentlicher Debatten. Dürfen angesehene Künstler und Intellektuelle Komplizen der Regierung sein, massive Korruption und andere unsaubere Machenschaften der Staatsspitze als Realpolitik, als völlig normal und natürlich entschuldigen und sogar verteidigen?

Die Wellen schlagen hoch, zumal der Streit mitten im Präsidentschaftswahlkampf losbrach und ganz direkt den einst als Hoffnungsträger gefeierten Staatschef Luis Inacio Lula da Silva betrifft.
Die Namen kennt man von Tourneen, Vorträgen oder Filmen auch in Deutschland: Dramaturg Augusto Boal vom Theater der Unterdrückten, Regisseur Luiz Carlos Barreto, Komponist und Musiker Wagner Tiso. Sie und etwa achtzig andere Prominente trafen sich jetzt mit Staatschef Lula, um dessen Wiederwahl zu unterstützen. Das erregte Aufsehen, denn Lula und seine regierende Arbeiterpartei stecken bis zum Hals im Korruptionssumpf. Durch massiven Stimmen-und Parteienkauf wurden die letzten Jahre mittels Millionensummen die gewünschten Abstimmungsmehrheiten im Nationalkongreß garantiert. Die Sache flog auf, Lula beteuerte, von allem nichts gewußt zu haben, mußte indessen auf öffentlichen Druck selbst engste Freunde aus der Regierung entlassen. Jetzt, beim Treffen mit Lula im Luxusappartment von Kulturminister Gilberto Gil in Rio de Janeiro, solidarisierten sich die Prominenten mit den schwer Belasteten. In der Politik heilige der Zweck die Mittel, Ethik interessiere nicht. Lula und seine Partei hätten richtig gehandelt, sich absolut nichts vorzuwerfen. Der enthüllte Stimmen-und Parteienkauf sei keine Straftat.
Schauspieler Paulo Betti:“Politik gibt es nicht, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Es ist unmöglich, Politik zu machen, ohne die Hände in die Scheiße zu stecken.“ Musiker Wagner Tiso:“Ich kümmere mich weder um die Ethik der Arbeiterpartei noch um sonstwelche Art von Ethik. Das interessiert mich nicht. Ich denke, die Arbeiterpartei hat ein Spiel getrieben, das sie machen mußte, um das Land zu regieren.“ Augusto Boal sagte der Presse, nie zuvor sei eine Regierung so auf die Ethik bedacht gewesen wie die Lulas.
Bestsellerautor und Befreiungstheologe Frei Betto in Sao Paulo: “Auf diese unglücklichen Äußerungen hat die Öffentlichkeit natürlich entrüstet und empört reagiert. Doch die Kulturszene ist in dieser Frage gespalten – wegen des Wahlkampfs gewinnt die Ethikdiskussion stark an Brisanz. Denn einige Künstler meinen, wer in der Politik mitmische, mache sich notgedrungen die Hände schmutzig. Doch die Bedeutung der Ethik im politischen Geschäft herunterzuspielen, illegale Machenschaften quasi zu entschuldigen und als normal hinzustellen - das geht natürlich nicht. “
Bestsellerautor Frei Betto wirft Lula heute Prinzipienverrat und Bruch von Wahlversprechen vor, nennt Brasilien gar einen Folterstaat. Doch interessanterweise hält Frei Betto den Staatschef bei aller Kritik für das kleinere Übel und wird wieder für ihn votieren. Andere Größen der Kulturszene sind konsequenter als Frei Betto, pochen jetzt besonders auf ethische Prinzipien, verurteilen, attackieren die Lula-treuen Kollegen. Joao Ubaldo Ribeiro beispielsweise, der nach Paulo Coelho in Deutschland meistverlegte brasilianische Schriftsteller, war nicht beim Treffen im Hause des Kulturministers Gilberto Gil. Ribeiro hatte 2002 für Lula gestimmt, doch heute nennt er ihn schädlich für Brasilien, einen „Mörder von Träumen und Hoffnungen“.
Zahlreiche andere Künstler und Intellektuelle sehen es wie Ribeiro. Wenn die Ethik nicht mehr Fundament der Gesellschaft, der Justiz sei, kehre man in die Barbarei zurück. Ethik sei ein Grundprinzip der Demokratie – und entsprechend gefährlich seien daher die Thesen der Lula-Treuen. Auf den Leserbriefseiten der brasilianischen Zeitungen hagelt es jetzt gar Boykottaufrufe – werft Platten, Bücher, Filme von diesen Leuten auf den Müll, kauft ihnen nichts mehr ab.


Klaus | 22.09.06 00:58 | Permalink