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Brasilien diskutiert über Pro und Contra der WM 2014 im eigenen Land

"WM-Kandidatur Idiotie und schlechter Witz"
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Die FIFA will die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 nach Südamerika vergeben - der dortige Regionalverband Conmebol ist für eine Alleinkandidatur Brasiliens. Staatschef Lula sagt, die Ausrichtung sei kein Problem, man habe alle Kompetenz, selbst wenn bisher kein einziges taugliches Stadion existiere. FIFA-Präsident Josepf Blatter betont, daß das Tropenland bisher nicht einmal Mindestvoraussetzungen erfüllt und Milliarden von Dollars investieren müßte. Blatter hätte daher nichts gegen eine gemeinsame Bewerbung der besser geeigneten Länder Argentinien und Chile. Doch auch in Brasilien selbst ist ein heftiger Streit über das Für und Wider einer WM-Ausrichtung im Gange.

Rodrigo Bueno aus Sao Paulo zählt zu den führenden brasilianischen Fußballexperten, hat während der WM in Deutschland für die auflagenstärkste Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ sowie für einen TV-Sportkanal die Spiele kommentiert. Nach der Rückkehr trifft ihn wie üblich der Kulturschock – Bueno sieht die Slums, das Massenelend, Desorganisation und Gewalt, die ganze geballte Häßlichkeit des abgasvergifteten Betonmeers von Sao Paulo. Der Entwicklungsabstand zu Europa wird ständig und deutlich spürbar größer. “Wie die Brasilianer leiden, was sie tagtäglich ertragen müssen, macht mich traurig und unzufrieden. Oft wollte ich deshalb in ein europäisches Land auswandern. Ich habe das Gefühl, daß sich hier einfach nichts ändert - als ob wir noch am Nullpunkt wären. Verglichen damit, gibts in Europa nicht viel zu verbessern, ist doch fast alles perfekt und wunderbar. Auch Brasiliens Sport-Infrastruktur ist extrem zurückgeblieben. Ungelogen – wir haben kein einziges WM-taugliches Stadion. Alle unsere Fußballstadien wurden so geplant, daß sich eine möglichst große Menschenmasse wie Vieh hineinpferchen läßt. Für die WM 2014 müßte man alle diese Stadien sprengen und an die selbe Stelle sichere, moderne, zeitgemäße bauen – das wäre das einfachste.“
Fußballexperte Bueno hätte die Spiele gerne in Brasilien, wäre indessen strikt dagegen, wenn die Regierung dafür Steuergelder verwendete. Der große Pelè sieht es genauso. Für die WM, so sagt er, dürfe man nicht das Volk opfern. Zumal sich die allermeisten Brasilianer nie im Leben ein WM-Ticket leisten könnten. Für Bueno ist indessen ausgeschlossen, daß Brasiliens knausrige Privatwirtschaft die nötigen Mittel bereitstellt. “Die FIFA hat Rieseneinnahmen - damit sollten die neuen Stadien finanziert werden. Deutsche Unternehmen haben Brasilien für die WM 2014 Hilfe, Know-How angeboten. In München steht die Allianz-Arena - könnte man nicht zum Beispiel eine Lufthansa-Arena, eine Bayer-Arena in Sao Paulo bauen?“
--reaktionäre Präfekturen halten infantile, uneffiziente Verkehrsstruktur aufrecht--
Der Sportreporter fährt gerne Fahrrad, zählt in Sao Paulo zu den ganz wenigen, die sich wagemutig ins Verkehrschaos trauen, sich zwischen den Autos hindurchschlängeln. Fahrradwege wie in Deutschland, Junge und Alte, die sich wie in Berlin oder München überall bequem mit dem Rad fortbewegen? Natürlich Fehlanzeige - reaktionäre, brutale, rücksichtslose Stadtverwaltungen verhindern all dies nach wie vor. Selbst die elitäre Spitzenfunktionärin von Lulas Arbeiterpartei, Marta Suplicy, weigerte sich während ihrer Amtszeit als Präfektin Sao Paulos, die von Umweltschützern geforderten Fahrradwege anzulegen. Klare Absicht ist, den Auto-Individualverkehr, den Absatz der Automultis zu begünstigen. Und seit Jahrzehnten systematisch zu verhindern, daß die Masse der Armen mit dem Fahrrad in der Megacity ein billiges, praktisches Fortbewegungsmittel hätte. Für die WM 2014 wäre auch der Transport ein Riesenproblem. “Die ausländischen Fans müßten sich auf einiges gefaßt machen“, sagt Bueno. „Zwischen den Spielorten käme nur der Flieger in Frage. Wunderschöne Autobahnen wie in Deutschland haben wir nicht – und nicht mal Schienenverkehr. Total absurd, daß zwischen Rio de Janeiro und Sao Paulo keine Züge mehr fahren, nur Busse. Die Regierung müßte in die Bahn investieren, das wäre auch gut fürs Volk. Generell befürchte ich, daß bei einer WM 2014 in Brasilien Unmengen von Geldern abgezweigt würden, wir leben hier in einer Korruptionskultur. Ich vertraue da weder in die Politiker noch in den Chef unseres nationalen Fußballverbands.“
Brasilien hatte ein relativ gut ausgebautes Bahnnetz, sogar Straßenbahnen in Städten wie Rio und Sao Paulo. Um die Automultis zu favorisieren, wurde vom Staat ein Großteil der Strecken stillgelegt, erreicht man von Sao Paulo aus die Küste nicht mehr mit der Bahn, sondern muß sich in enge, unbequeme VW-oder Mercedes-Busse zwängen, die nur zu oft im Stau steckenbleiben. Den Brasilianern wurde allen Ernstes eingeredet, Schiene sei Rückschritt, Bus und PKW Fortschritt. Brasilianische Touristen stellen dann in der Schweiz und Deutschland überrascht fest, wie wichtig dort Tram und Bahn sind.
--WM-Kriminalität—
Und die Sicherheit bei einer WM 2014? In Brasilien werden jährlich mehr Menschen als im Irakkrieg getötet, Sao Paulo leidet derzeit unter Terroranschlägen des größten nationalen Verbrechersyndikats PCC. In Städten wie Rio de Janeiro, wo seit dem Beginn der Aggression gegen den Irak immer mehr beteiligte US-Soldaten an Nobelstränden wie Ipanema "Fronturlaub" machen, nehmen bewaffnete Raubüberfälle von Banden auf Passanten, Autofahrer zu. “Die Attacken des PCC begannen vor der WM, Gangsterboß Marcola unterbrach den Terror aber während der Spiele“, gibt Bueno zu bedenken. „Bei großen internationalen Veranstaltungen in Rio de Janeiro gab es stets einen Waffenstillstand mit den Banditen. Ich denke, bei einer Fußball-WM wäre es genau so.“
Rodrigo Bueno gibt sich trotz aller Probleme optimistisch. Auf der Straße, doch auch auf den nationalen Internetseiten nennen viele Brasilianer die WM-Kandidatur angesichts der gravierenden sozialen Lage einen schlechten Witz, gar eine Idiotie. Brasilien werde sich vor aller Welt lächerlich machen. Üblich sei in den großen Stadien, nicht die numerierten Sitzplätze zu respektieren, sondern sich gemäß dem Recht des Stärkeren einfach hinzusetzen, wo man wolle. Immer wieder gebe es nach Spielen Schießereien zwischen Fanclubs, würden dabei regelmäßig Menschen ermordet. Im berühmten Maracana-Stadion von Rio halte regelmäßig martialische Kavallerie der Militärpolizei die Fußballfans in Schach, schlage mit Säbeln und Hartholzknüppeln zu, schreibt die „Folha de Sao Paulo“. Spiele würden für einfache, friedliche Fußballfreunde daher zum „Inferno“. „Brasilien will eine WM austragen, aber ist nicht einmal fähig, ein Spiel für nur etwa vierzigtausend Zuschauer zu organisieren.“

Klaus | 19.09.06 23:34 | Permalink