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Die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln und der neu entfachte Kulturkampf: Integration versus Migration.

Hurra, Hurra, die Schule brennt!
von Andreas Fanizadeh, Berlin

In Deutschland hat sich die Einwanderungs- durch eine Schul- und Integrationsdebatte zugespitzt. Jüngster Beschleuniger war ein in die Öffentlichkeit gelangter Brief des Lehrerkollegiums der Rütlischule aus Berlin-Neukölln. Der berichtete dem Berliner Senat von unhaltbaren Zuständen an der Neuköllner Hauptschule. Die Rütli-LehrerInnen würden mit den dortigen Zuständen bei einem MigrantInnenanteil von über 80 Prozent unter den SchülerInnen nicht mehr fertig. Man fühle sich von jugendlichen «Intensivtätern» arabischer oder türkischer Herkunft bedroht und gehe nicht mehr ohne notrufbereite Mobiltelefone in die Klassenzimmer. «Lehrkräfte werden nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert.» Der Unterricht sei von «totaler Ablehnung» des Lehrstoffs und «menschenverachtenden Auftreten» geprägt.

Was folgte war ein Aufschrei von Parteien und Medien. Der neue Spitzenkandidat der CDU für die im Herbst stattfindenden Wahlen in Berlin, Friedbert Pflüger, regte an, nicht-integrationswillige MigrantInnen auszuweisen. «Nicht-Integrationsbereite» seien, so Pflüger, vor allem an ihren mangelhaften Deutsch-Kenntnissen auszumachen. Der Bürgermeisterkandidat gilt als gemässigter CDU-Politiker aus der Riege um Kanzlerin Angela Merkel. Den gleichen Lautverstärker benutzten auch andere Spitzenpolitker der Christlich Demokratischen Union wie die Ministerpräsidenten von Bayern, Edmund Stoiber und von Hessen, Roland Koch. Ausländische Familien, «die sich nicht integrieren lassen», müsse man die sozialen Leistungen kürzen, sagte Stoiber. Und wer sich dauerhaft Sprachtests und Kursen in deutscher Leitkultur verschliesse, so Stoiber, müsse «unser Land» wieder verlassen. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) forderte, «kriminelle Schüler von der Schule zu verweisen und sie dann für ein paar Tage in einem Erziehungsheim oder auch in einem Jugendgefängnis unter Arrest zu stellen».

Der Tenor der Unionsparteien: Rot-Grün habe blauäugig Toleranz und Multikultur gepredigt und trage mit dem reformierten Einwanderungsgesetz Schuld am allgemeinen Werteverfall in Deutschlands Städten. «Die bürgerlichen Parteien, die 1968 die Diskurshoheit verloren, wehrten sich nur schwach dagegen, weil sie nicht als ausländerfeindlich an den Pranger gestellt werden wollten», leitartikelt die «FAZ». Demhingegen erinnert die linksliberale Presse daran, wer in Deutschland die Regierungsverantwortung in den 1980ern und 1990ern trug. Kanzler Helmut Kohl und die CDU hätten es schliesslich versäumt, so etwas wie Ansätze einer «Integrationspolitik» zu entwickeln.

Die Ära Kohl stehe von heute aus betrachtet vor allem auch für einen während der deutschen Einheit aufwallenden Nationalismus. Das die Bundesrepublik Deutschland bereits zum Einwanderungsland geworden ist, sei von der Union verdrängt worden. «Als in Deutschland dann Anfang der Neunziger Jahre in Solingen, Mölln und Rostock-Lichtenhagen Menschen verbrannt wurden und Flammen aus Asylunterkünften loderten – war Kohl nicht da», kommentiert das nicht gerade als rot-grün-freundlich bekannte Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» die aktuelle Debatte. Die Chance einer «zweiten deutschen Einheit» unter Einbezug der Zugewanderten sei damals verspielt worden.

Viele halten die jetzige Aufregung um Stadtteile und Schulen mit einem starken migrantischen Unterschichtenanteil für übertrieben. «Die meiste Gewalt», sagt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, «spielt sich doch – unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit – in der Familie ab und wird nicht von Jugendlichen auf der Strasse ausgeübt.» Und da sähe es im Osten Deutschlands und in einigen westlichen Provinzen – ohne hohen Migrationsanteil - kaum besser aus als in den vieldiskutierten Multikultivierteln Hamburgs oder Berlins. Wer tatsächlich alle Menschen ausweisen wolle, die schlecht Deutsch sprächen, polemisierte die Parteivorsitzende der Grünen Claudia Roth in einer Talk-Show, bekäme sehr viel zu tun. Schliesslich beherrschten viele der «deutschen Deutschen» die von der Union gewünschte «Leitkultur» genausowenig wie manche der in den letzten Jahrzehnten neu Eingewanderten.

Dies dürften auch auf Seiten der CDU einige sehr wohl wissen. Doch die Versuchung soziale Fragen mit einer populistischen «Ausländer-Raus»-Kampagne zu verbinden, scheint trotz diagnostizierten «Methusalem-Komplex» (damit ist die Sorge vor fortschreitenden Vergreisung der «deutsch-deutschen» Gesellschaft gemeint) sehr gross. «Entscheidend» für die unterschiedlichen Aufstiegschancen in Deutschland, sagt der CDU-Generalsekretär Volker Kauder, sei «nicht die kulturelle Differenz, also die ausländische Herkunft sondern die soziale Differenz.» Bei den «in Deutschland lebenden Ausländern sind überproportional vertreten jüngere, in Grossstädten lebende Männer, die zu einem grösseren Teil unteren Einkommens- und Bildungsschichten angehören und häufiger arbeitslos sind.» Damit seien «exakt die Merkmale» benannt, «die auch bei Deutschen zu einem höheren Kriminalitätsrisiko führen». Doch auch Kauder sieht in mangelnden Sprachkenntnissen - und nicht in der Diskriminierung oder wegrationalisierten Jobs - das Hauptproblem für die hohe Jugendarbeitslosigkeit unter den MigrantInnen der zweiten und dritten Generation in Deutschland.

Nur 3,3 Prozent der StudentInnen an den deutschen Hochschulen sind so genannte Bildungsinländer. Das ist der neuste Ausdruck für StudentInnen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber ihre Hochschulreife durch einen deutschen Schulabschluss erwarben. Berlins Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hat angekündigt für die Berliner Hauptschulen fünfzig zusätzliche Lehrer einstellen zu wollen. Wie ein Senatssprecher sagte, sollten diese am liebsten «türkisch, männlich und jung» sein. Nun lassen sich leider keine finden. Das deutsche Bildungssystem hat ein solches – auch zum Krisenmanagement - qualifiziertes Personal nicht produziert.

Gut 1,1 der derzeit 10 Millionen SchülerInnen in Deutschland besuchen derzeit eine Hauptschule. Die Hauptschule steht am unteren Ende der Bildungspyramide. «Welchen Sinn macht es», fragten die Lehrer der Rütli-Schule, «dass in einer Schule alle SchülerInnen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können». «In den meisten Familien sind unsere SchülerInnen die einzigen, die morgens aufstehen. Wie sollen wir ihnen erklären, dass es trotzdem wichtig ist, in der Schule zu sein und einen Abschluss anzustreben?» Perspektivisch müsse die Hauptschule in dieser Form und Zusammensetzung aufgelöst werden.

Auch viele der sozialdemokratische Bildungspolitiker plädieren im Zuge der Diskussion um die Neuköllner Rütli-Schule für einen Ausbau der integrierten Gesamtschulen. So könnte eine frühe Stigmatisierung und Abschiebung der Kinder aus «bildungsfernen Schichten» vermieden und schulische Aufstiegsmöglichkeiten offen gehalten werden. Doch hier hat die Union nach ihrem Siegeszug durch die Bundesländer bereits ganze Arbeit geleistet und mit «der linken Gleichmacherei» aufgeräumt. Die wenigsten Bundesländer halten heute noch an der Idee der Gesamtschule fest.

Eine entscheidende Frage wäre, wie man Kindern aus sozial schwächer gestellten Gruppen Selbstbewusstsein und Motivation gibt. «Man muss nach Stärken und nicht nach Schwächen» bei den SchülerInnen suchen, sagt Soziologe Heitmeyer. Die Schule von heute müsste sich dabei «sicherlich neu ausrichten». Dass sie dabei auch besonders diejenigen im Blick haben muss, die «mit Sprachschwierigkeiten in die Schule kommen» scheint selbstverständlich. Jedoch nicht um sie auszuweisen.

natter | 15.04.06 18:13 | Permalink

Kommentare

Dies hier ist ehrlich gesagt nur als weiterer Ausdruck von sozialistisch inspirierter Sozialromantik zu werten! Probleme in Schulen in Vierteln mit starkem Ausländeranteil sind nicht neu sondern bestehen schon
seit Jahren. Vielmehr kann dieses Thema erst in Zeiten einer großen Koalition zwanglos in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ohne von o.g. Sozialromantikern, welchen die Argumente ausgehen, einen Schlag mit der Ausländerfeindlichkeitskeule übergezogen zu bekommen.
Die Probleme sind da und sie sind je nach Stadt und Viertel sehr massiv. Ursachen für diese Entwicklung sind nicht in der desöfteren schlecht geredeten Ära Kohl zu suchen, in welcher auch von Regierungsseite sehr wohl Lösungsansätze vorgebracht wurden, welche aber in der Öffentlichkeit und im Bundesrat mit der Ausländerfeindlichkeitskeule vom Tisch gefegt wurden, obwohl
sie zum Teil sehr vernünftig waren und uns heute einige Probleme erspart hätten.
Fakt ist: Die Bewertung solcher Ereignisse wie sie in der Rütli-Schule vorgekommen sind und täglich in hunderten Schulen in ganz Deutschland vorkommen, darf man nicht wirklichkeitsfremden Soziologie-und Pädagogikprofessoren überlassen, welche die Gegenden höchstens vom Teetrinken im türkischen Kulturhaus kennen, sondern soll von Leuten aus der Praxis (Lehrer, Sozialpädagogen, Polizisten, Streetworkern e.t.c) vorgenommen werden.
Um hier ein paar Schlagworte zu liefern, wir brauche nicht einseitige Toleranz, Toleranz bedeutet Ertragen und man kann nicht alles ertragen! Wir brauchen gegenseitige Aktzeptanz! Nur wenn sich Deutsche und Zuwanderer gegenseitig aktzeptieren ist die Basis für ein gutes Miteinander gegeben.
Mit freundlichen Grüßen
K.Schurg

Verfasst von: K.Schurg | 16.04.06 19:09

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