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Fußball-WM und Brasilienklischees (1)

--von Klaus Hart, Sao Paulo--

Im Vorfeld der Fußball-WM feiern in Deutschland dümmliche, meist von Werbung, Industrie und Auslandspropaganda vorgegebene Brasilienklischees wieder Triumphe. Das Tropenland wird nur zu oft auf Karneval, Alegria ohne Ende, Samba, Rio de Janeiro und seine Traumstrände, auf schöne, sinnliche Frauen reduziert. So als wären umgekehrt alle Deutschen absolute Fans des Münchner Oktoberfests und seiner Blasmusik. "O Brasil esta na moda", Brasilien ist in Mode, konstatieren amüsiert die Kolumnisten der brasilianischen Qualitätszeitungen und machen sich bei jeder Gelegenheit über die realitätsfremde Sicht des Auslands lustig.

Bestsellerautor Joao Ubaldo Ribeiro aus Rio de Janeiro konstatiert bei Deutschlandreisen immer wieder, daß deutsche Medien, aber auch die Normalbürger, von absurdesten Brasilienklischees einfach nicht lassen wollen. Und da Ribeiro nebenbei auch noch ein großer begnadeter Zeitungskolumnist ist, informiert er seine Landsleute regelmäßig mit beißendem Spott über das verquere Brasilienbild nicht nur in Europa: “In der Ersten Welt weiß man nichts über Brasilien. Wenn man die Mehrheit der Deutschen bittet, mal was über Brasilien zu sagen, dann kommt, ach so ja, Pelè, Fußball, Karneval, Nackte. Die Hauptstadt? Äh, Rio de Janeiro. Die wissen nichts!“ Ribeiro liegt so schief nicht.
--Samba oder Sertaneja?--
Vor der WM werden Brasilien und sein Fußball wieder einmal gnadenlos mit Samba zusammengerührt. Samba-Fußball, Samba-Kicker, Samba-Giganten. Und Lothar Matthäus, der gerade im südbrasilianischen, nicht gerade Samba-geprägten Curitiba als Trainer anfing, wird gar zum Samba-Lothar. Man weiß es doch, wird einem eingebleut - in Brasilien ist feuriger Samba am beliebtesten – und im Karneval tanzt zu mitreißenden Sambarhythmen nicht nur ganz Rio Tag und Nacht. Alles falsch, alles frei erfunden, clevere Mediensteuerung machts möglich. Ein Blick in die brasilianischen Hitparaden, auf die Listen der meistgespielten Titel, der meistverkauften CDs genügt. Und auch die Musikexperten, die Leute auf der Straße bestätigen es: Samba war in Brasilien noch nie tonangebend, ist bis heute in vielen Landesteilen überhaupt nicht populär. Benedita Souza aus dem Samba-armen Nordosten lebt heute in der brasilianischen Kultur-und Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, auch nicht gerade ein Samba-Pflaster:“Nein, daß alle Brasilianer Samba mögen, gar Samba im Blut haben, stimmt überhaupt nicht. Nur eine Minderheit kann Samba tanzen, ja, nur eine Minderheit. Denn Samba muß man erst mal lernen. Nur ein bißchen mit den Hüften wackeln, das kann ja jeder. Brasiliens populärste Musik ist nicht Samba, sondern Sertaneja, tiefromantisch.“
Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sao Paulo, hats per Umfrage ermittelt: Die prägende, meistgehörte Musik von Lateinamerikas Kultur-Megacity ist Sertaneja, gefolgt von anderen Genres der Musica Popular Brasileira. Erst an dritter Stelle folgen Samba/Pagode, danach Rock. Wer sind die Megastars Brasiliens? Folgt man den Klischee-Vorgaben deutscher, auch multikultureller Medien, müßte es sich um Gilberto Gil, Marisa Monte, Lenine, Chico Cesar, Maria Bethania oder Caetano Veloso handeln – letzterer wird allen Ernstes gelegentlich als „größter Musikstar Brasiliens“ gepriesen. Ein schlechter Witz. Die beiden Megastars Brasiliens heißen Zezè di Camargo und Luciano, leben in Sao Paulo und komponieren, spielen Sertaneja. Die 2005 in Brasiliens Radios am meisten gespielte Musik, „Fui Eu“, kam von diesem Duo, ermittelt von „Crowley Broadcast Analysis“. Samba folgt stets deutlich abgeschlagen. Nicht zufällig holte sich der rechtssozialdemokratische Staatschef Lula für seine Wahlkampfkundgebungen als Anheizer keine Sambaband, sondern die Grammy-Preisträger Zezè di Camargo und Luciano. Auch andere Sertaneja-Stars, etwa Bruno und Marrone, sind weit populärer als die in Deutschland immer herausgestellten Musiker. Und schauen wir uns die landesweiten CD-Verkäufe der letzten Jahre an, wirds noch kurioser: Pop und Rock, ganz überwiegend brasilianisch, liegen an erster Stelle, gefolgt von Sertaneja und --- religiöser Musik von Kirchen und Sekten. Erst danach folgen Samba/Pagode. Die zuständigen Statistiker der Musikbranche verweisen indessen darauf, daß auf eine legal im Laden verkaufte CD bis zu zehn schwarz gepreßte und vertriebene Scheiben kommen. Schwerlich zu übersehen, welche Sparte die Raubpresser bevorzugen – Sertaneja. Überall in den Einkaufsstraßen Brasiliens werden nicht nur die CDs von Zezè di Camargo und Luciano teils zum Stückpreis von umgerechnet siebzig, achtzig Cents geradezu massenhaft angeboten. Brasiliens erste nicht von Indios gespielte Musik war Sertaneja, nicht Samba. Kurios, wenn daher Kulturminister Gilberto Gil jetzt in Deutschland mit der Feststellung zitiert wird, „Samba und Fußball sind unsere wichtigsten Wurzeln“. Samba sei die für Brasilien typischste Musik, wird anderswo behauptet – und natürlich nicht bewiesen. Treten an Rio de Janeiros Stränden große Namen des Samba auf, kommen fünf-bis zehntausend. Anfang Februar spielten an selber Stelle Sänger einer Sektenkirche – laut Polizeiangaben kamen 300000.
Ein deutscher Kultur-Fernsehsender schreibt indessen gar in einer Vorankündigung:"In Brasilien regiert der Funk die Musikszene...Samba und der Karneval gelten als soziale Beruhigungsmittel, die den Ausbruch einer starken Bewegung zur Bekämpfung der akuten Ungerechtigkeit verhindern." Und über das Strandviertel Copacabana erfahren wir aus derselben Quelle:"Warum ist dieser älteste Teil Rio de Janeiros mit seinen 600000 Einwohnern so berühmt geworden?" Die Bewohner Rios halten die Altstadt, und nicht das vergleichsweise junge Copacabana, für den ältesten Teil der Stadt, und sind der Meinung, in Copacabana wohnen nur an die 200000 Menschen. Wer hat wohl Recht?
--Karneval—
Alle Brasilianer karnevalsverrückt? Feiert alles wirklich bis zur Ekstase?Von wegen. Seit in den achtziger Jahren die Gewalt in den Städten geradezu sprunghaft zunahm, blieben immer mehr Brasilianer dem Carnaval lieber ferne. Sich köstlich amüsieren und gleichzeitig vor Überfällen mit Messer und Revolver auf der Hut sein – das geht nicht zusammen. In Karnevalshochburgen des Nordostens begeben sich nach dreiundzwanzig Uhr vielerorts die meisten Narren schleunigst nach Hause, weil dann Schüsse zu hören sind, Überfälle drohen. Nach seriösen Erhebungen mag gerade mal ein Drittel der Brasilianer das Volksfest, beteiligt sich mehr oder weniger intensiv – der Rest bleibt demonstrativ ferne, hat für Karneval ähnlich viel übrig wie der Durchschnittsdeutsche. Beeindruckend, wieviele Bewohner Rio de Janeiros die Stadt kurz vorm Karneval verlassen, wie ausgestorben daher viele Viertel wirken. Deutsche Medien berichtens anders. „Wild und enthemmt“ gehe es besonders im Rio-Karneval zu, melden deutsche Gazetten. Zum Beweis werden Fotos von der großen, weltweit einzigartigen Parade der besten Sambaschulen gedruckt. Barbusige Frauen in Mini-Tangas wirklich überall, wird suggeriert. Natürlich frei erfunden. Jene Vorzeige-Models der Sambaschulen, auf die sich die Kommerz-Fotografen stürzen, kommen wohlbedeckt und wohlbewacht zu den Aufstellungsräumen der Sambaschulen. Erst dort, zum Paradestart, legen sie auf Allegorienwagen oder vor den Blocks der Perkussionisten ihre Hüllen ab – und ist die Paradestrecke abgetanzt, bedeckt man sich schnellstens wieder. So wies von den allgegenwärtigen heftig machistischen Partnern befohlen wird. Standardregel im Karneval: Jene am wenigsten bekleideten Karnevalstänzerinnen werden am meisten machistisch bewacht – ob von Freund, Ehemann, Bruder, Vater etc. Nur zu oft hört man gerade in Rio von einstmals karnevalsbesessenen Frauen resigniert:“Mein Mann hat mich zwar im Karnevalsgetümmel kennengelernt, mir aber danach den Karneval verboten.“
--Fußball—
Und die Fußballbegeisterung? Wird wirklich überall an den Stränden, in jeder Straße, in jeder Gasse gekickt? Gemäß Umfragen tritt die große Mehrheit der Brasilianer nie oder nur höchst selten gegen einen Ball. Achtzig Prozent leben in Städten wie dem Betonmeer Sao Paulo. Benedita Souza aus Sao Paulo beobachtet: “Fußball geht eigentlich nur in den Clubs. Es ist doch alles zugebaut. Den Jugendlichen fehlt Platz zum Spielen. Deshalb sitzen die meistens vor dem Fernseher.“ Stimmt. Auch weils vielen auf der Straße zu gefährlich ist. Brasiliens Heranwachsende hocken mehr als doppelt solange wie ihre deutschen Altersgenossen vor der Glotze – durchschnittlich dreieinhalb Stunden pro Tag, liegen damit weltweit an der Spitze.
--Strand—
Aber geht denn bei diesem herrlichen Tropenwetter nicht wenigstens in Rio alles an den Strand, planscht nach Herzenslust in den Copacabanawellen? Ist der Brasilianer nicht ein absoluter Strandfan?
Noch so ein Klischee. Selbst in Rio ist es nur eine Minderheit - Fernsehen oder durch Einkaufszentren schlendern, ziehen in der Freizeit die meisten laut Umfragen vor. Nicht wenige Europäer gehen an Rios Traumstrände, etwa den von Ipanema, und meinen danach, alle brasilianischen Frauen und Männer hätten diese Gardemaße wie das dort größtenteils aus Mittel-und Oberschicht stammende, wohlernährte und wohlgepflegte, hochprivilegierte Publikum. Doch weit mehr „Cariocas“ hausen in den rasch wachsenden Slums, müssen die neufeudale Diktatur der hochbewaffneten, sadistischen Milizen des organisierten Verbrechens ertragen, erlebten Morde, Massaker aus nächster Nähe. Armut, Elend, schlechte Ernährung sieht man ihnen nur zu oft an, die von Soziologen, Anthropologen betonte „soziale Apartheid“ Brasiliens hinterläßt natürlich Spuren. Brasilianer, so besagen Weltumfragen, sind am eitelsten, legen am meisten Wert darauf, körperlich attraktiv zu sein. Am Strand wird der Körperkult auf die Spitze getrieben. Nur zu viele aus der Unterschicht fühlen sich in diesem Ambiente von Model-Schönheitskonkurrenz höchst unwohl. Benedita Souza formuliert es drastisch so: “Wer zur Unterschicht gehört, wie die große Mehrheit, und kein Geld hat, wird am Strand schief angeguckt, fühlt sich zurückgewiesen, ausgeschlossen, fühlt sich deshalb schlecht. Und bleibt daher lieber zuhause. Die meisten Armen haben schon deshalb keine Zeit für den Strand, weil sie arbeiten müssen, auch am Wochenende. Die Strände liegen meistens weit von den Slums – und wer am nächsten Tag arbeiten muß, überlegt es sich, ob er wegen ein paar Stunden am Meer so weit fährt. “
„Das Leben in Brasilien ist leicht und unbeschwert. Probieren Sie es selbst“, lautet ein Brasilienklischee-Werbespruch in Deutschland. Wo bitte in Brasilien? In den Strandvierteln der privilegierten Minderheit oder in unüberschaubaren Slums, in denen regelmäßig Menschen zerstückelt, lebendig verbrannt werden?
--Brasilienklischees sind Diktaturprodukt—
Brasiliens Kommentatoren erinnern derzeit auch daran: Jenes Klischeebild Brasiliens als Land von Samba, Karneval, Fußball, unbändiger Lebensfreude und Rassendemokratie wurde kurioserweise von Diktator Getulio Vargas, einem Hitlerverehrer und Judenhasser, in den dreißiger und vierziger Jahren produziert, wurde Teil der Auslandspropaganda. Diogo Mainardi, provokanter Kolumnist des führenden Nachrichtenmagazins „Veja“, formuliert es so:“D e r Brasilianer existiert gar nicht, ist eine Täuschung, eine Lüge. Wer den Typus des Brasilianers erfunden hat, war die Getulio-Diktatur. Die erfand eine Rasse, glorifizierte die Mischung zwischen Weißen, Schwarzen und Indianern – Frucht einer kollektiven Vergewaltigung. Erfunden wurden Mythen, der Fußball, der Karneval, die Populärmusik. Die Getulio-Diktatur erfand d e n Brasilianer, um ihn besser beherrschen zu können.“ Mussolinis Italien, aber auch Hitlers Deutschland seien hier vorbeigekommen, es habe ein „ambiente goebbeliano“ gegeben. „Der Unterschied ist, daß sich Italien und Deutschland von jenem sechzig Jahre zurückliegenden totalitären Diskurs befreit haben. In Brasilien wird er gleich fortgesetzt, werden Ideen von 1930 wiedergekäut. Die großen Namen unserer Intelligentsia und unserer Kultur sind jene alten Kollaborateure der Getulio-Diktatur, die mitgeholfen haben, jenes Image vom Brasilianer zu schmieden.“ Diogo Mainardi nennt Namen wie Architekt Oscar Niemeyer, Lucio Costa, Gilberto Freyre und Vinicius de Morais. „Getulio Vargas wußte, daß man am besten mit Künstlern und Intellektuellen fertig wurde, wenn man ihnen einen Job verschaffte.“

Zum Thema Sex und Brasilienklischees siehe:

Brasiliens erotischer Sex(ostblog 2004)

"Wenn es ein Land gibt, das etwas von Erotik versteht, sie lebt, praktiziert, dann ist es Brasilien", schreibt der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, nennt Erotismo "ein Zeichen von Zivilisation, dazu Rückzugs-und Zufluchtsort des Individuums, gegen die Normierung, Vereinheitlichung des Lebens von heute." Schwer zu übersehen - Brasilianern ist Sinnlichkeit, Erotik, Sex auch im Alltag viel wichtiger als den anderen Südamerikanern, ganz zu schweigen von Mitteleuropäern.
Paulo Coelho von der Copacabana, Brasiliens meistgelesener Autor auch in Deutschland, haut in die gleiche Kerbe wie Llosa, hat endlich mal ein Buch nur über erotischen Sex geschrieben, natürlich wieder ein Welt-Bestseller. „Die Leute reden zwar viel drüber, aber machen wenig Sexo, gehen mit dem ganzen Thema scheinheilig um, belügen den andern, um zu gefallen; überall Ängste, Tabus – für Phantasie und Kreativität bleibt kein Raum.“ Sex werde überall abgewertet, eklig kommerzialisiert, banalisiert. Schlimm, daß die „copula humana“ gewöhnlich nur um die elf Minuten dauere, meint Coelho, nennt seinen Roman über eine brasilianische Prostituierte in Genf deshalb „Onze Minutos“. Er enthält ausführliche Lektionen über Zärtlichkeit und Erotik, Körper und Seele, die Klitoris, den G-Punkt. Männer, ob in Deutschland oder Brasilien, die Coelhos Handlungsanweisungen künftig immer noch nicht befolgen wollen, laufen Gefahr, mit diesem Buch völlig zu Recht drangsaliert zu werden. Coelho kennt sich aus, baute selber viel Mist, steht dazu. „Ich verlor viel Zeit mit dieser Besessenheit, meine Männlichkeit beweisen zu müssen, hatte sogar mehrere Frauen gleichzeitig.“ Mit Partner Raul Seixas, der längst dahingegangenen Musiker-Legende, schrieb er einst brasilianische Rockgeschichte, opponierte gegen die Militärdiktatur, gehörte zu Brasiliens Hippie-Gemeinden, einer internationalen Psycho-Sekte, machte dort reichlich „Sexo grupal“, hat homosexuelle Erfahrungen – wie die meisten Männer im bisexuellen Brasilien, ist seit über zwei Jahrzehnten mit der Künstlerin Christina Oiticica verheiratet. Und hofft, daß „Onze Minutos“ Leuten in allen Kulturkreisen zu mehr – und besseren – Orgasmen, echter sexueller Befreiung verhilft. Die Liebeskunst, läßt er seine Protagonisten sagen, erfordere Technik, Geduld, Kühnheit, intimste Kenntnisse über den Körper des anderen und vor allem viel Praxis des Paares. Die beste, genußvollste Stellung für die Frau – wenn sie ihn von oben reitet, so lange und so oft wie möglich.
Eigentlich alles gar nicht so neu – nur halten sich, wie jeder weiß, nur die wenigsten daran, fährt der große Rest die schönste Sache der Welt zielstrebig gegen die Wand. Sucht Ersatzbefriedigung ausgerechnet bei Prostituierten, die Paulo Coelhos Copacabana-Avenida scharenweise heimsuchen. Auch da läßt Coelho seine Romanheldin – und Edelnutte Maria gnadenlos mit dem eigenen Gewerbe abrechnen - daß Prostituiertensex deprimierend minderwertig ist, weiß ebenfalls längst jeder Halbgescheite. Bezeichnend, daß Pseudo-Progressive Sex als Ware, Frauen als Ware, "Sexarbeit" völlig in Ordnung finden, das miese inhumane Geschäft sogar neoliberal bejubeln, verteidigen, fördern. „Ich hasse, was ich tue“, schreibt Maria ins Tagebuch, „ich zerstöre damit meine Seele, verliere den Kontakt zu mir selbst.“ Huren verkauften etwas, das sie doch viel lieber für Genuß, Wollust und Zärtlichkeit hergeben, verschenken würden – „und das zerstört.“
In der deutschen Ersatzbefriedigungsgesellschaft finden es viele schick, Erotisches, Sex unangenehm klinisch zu sezieren, zynisch herunterzumachen – Brasilien ist da nach wie vor kribbelndes, anregendes, doch auch widerspruchsvolles, ambivalentes Kontrastprogramm. Sonia de Almeida beispielsweise, schlechtbezahlte Lehrerin in Sao Paulo, 35, hat einen halbwüchsigen Sohn - setzt klare Prioritäten:“Mich mit jemandem sexuell wunderbar auszutoben, kribbelnde Wollust, Orgasmus – das zählt für mich im Leben, darauf kommts mir an.“ Ihren jetzigen Freund nennt sie einen Glücksfall:“Der bleibt mit mir tagelang im Bett, kann – natürlich mit Pausen – zehn, fünfzehn Stunden; mit dem traue ich mir alles.“ Reinemachfrau Maria Malzani, schwarz, 29, hat unter der Woche mit ihrem Mann dafür wenig Zeit. „Aber sonntags gibts nur zweierlei – die katholische Messe und Sex.“ Schon Bossa-Nova-Miterfinder Tom Jobim, Komponist des „Girl from Ipanema“, bekannte:“Würde ich die drei wichtigsten Dinge meines Lebens aufzählen, wären das Sexo, Sexo, Sexo“. Der unsterbliche Telenovela-Autor Dias Gomes:“Ich denke den ganzen Tag eigentlich nur an Sex – und das ist sehr gesund.“Ausnahmen, absolute Minderheit unter den rund 185 Millionen Brasilianern? Keineswegs – auch internationale Studien sind aufschlußreich. Keine in fester Beziehung lebende Frau der Dritten Welt tut es so oft und so lange wie die brasilianische – und von den über vierzigjährigen Frauen und Männern des Tropenlandes bekräftigt ein weit höherer Prozentsatz als in den tonangebenden Industrieländern, „daß Sex für mich sehr wichtig ist“ - Großbritannien, die USA und Japan bilden die absoluten Schlußlichter. Leicht zu erraten - zwanzig-und dreißigjährige Brasilianer liegen noch viel deutlicher vor ihren Altersgenossen Westeuropas.
Brasileiros, auch das ist belegt, und wohl weltweit einmalig, halten Brasileiras für die sinnlichsten, stimulierendsten, zärtlichsten Frauen der Erde, ziehen sie denen jeder anderen Nation mit Abstand vor. Komme ich – seit 1986 in Brasilien lebend – jeweils einmal im Jahr nach Deutschland, ist immer der erste, verunsichernde Eindruck: Verglichen mit meiner Lebensumwelt, direkt asexuell, geschlechtsneutral wirkende Menschen, ohne jegliche sinnlich-erotische Ausstrahlung - claro, von Ausnahmen abgesehen. Auf Straßen, belebten Plätzen kaum Blickkontakt, kein belebender, unverbindlicher Augenflirt in Sekunden, alle fast nur bleiern ernst. Brasilianische Bekannte beschreiben es meist viel drastischer, immerhin von Kindesbeinen an geprägt durch eine regelrechte Ideologie, Kultur des Erotischen, die feministisch, gar „politisch korrekt“ geprägte intellektuelle Europäerinnen vor Ort nicht selten schockt, graust, abstößt, verwirrt – der sich andere Frauen, und natürlich viele Männer, aber begeistert anschließen. „Sinnlichkeit wird hochbewertet als Teil der kulturellen Identität“, so der an Rios Uni lehrende und forschende nordamerikanische Anthropologe Richard Parker, „das brasilianische Volk ist wirklich viel heißer.“ Sozio-kulturelle Unterschiede zu Mitteleuropa werden womöglich nirgendwo deutlicher als im Sinnlich-Sexuellen. Das beginnt schon mit der durchsexualisierten Sprache, voller Kicks und Kitzel, gepflegt selbst in den Qualitätszeitungen, erst recht in der Musik. „So frivol, lasziv, auch provokant, wie wir uns permanent ausdrücken“, sagt die hellhäutige Bankangestellte Luisa Bernardes in Sao Paulo, “das habt ihr alles nicht im Deutschen, da klingen sexuelle Anspielungen einfach grob.“ Die hier, eigentlich unübersetzbar, nur stimmig im brasilianischen Ambiente, klingen eher amüsant, köstlich, prickelnd, und stimulieren, gehören zur erotischen Reizüberflutung. Schon Mädchen unter zehn – ob Unter-oder Oberschicht – beziehen sich explizit auf Geschlechtsorgane, sexuelle Techniken, Stellungen – was im Deutschen unerhört klingen würde. „Unsere Kultur weist der Frau die Rolle der Verführerin zu – sie tut es intuitiv, fühlt, spürt, was gefallen wird“, sagt die weiße Psychologin Ana Veronica Mautner aus Rio, „die Frauen wissen, daß Männer schon mit den Augen Genuß empfinden – und zeigen deshalb ihre Formen.“ Brasilianische Mädchen, Frauen begreifen ihre Brüste ganz natürlich als erotische Symbole – und stellen sie entsprechend heraus. Rio, Sao Paulo, Salvador da Bahia – en masse tiefdekolletierte Frauen – man muß – und vor allem – soll hingucken. Würde ichs nicht tun, gälte ich wieder als der steife, kopfgesteuerte, unsinnliche Mitteleuropäer. Mit drei Amigas, einer Elfjährigen plaudere ich am Bäckerei-Kaffeetisch, als sich deren Bekannte nähert, über den Tisch beugt – der beträchtliche Busen kaum verdeckt in einem extrem tiefen Decolletè – unmöglich, nicht hinzuschauen. „Na, wie findet ihr das“, fragt sie zuerst die Frauen, bekommt „faszinierend, anziehend, erotisch, sehr weiblich“ zurück; auch die beiden Söhne neben ihr, um die dreizehn, sechzehn, finden die Mama einfach klasse so:“Total sexy“. So eine Szene in Deutschland undenkbar, geht mir durch den Kopf. Dort ebenfalls undenkbar, wie Brasilianer dann im Bett das Spiel der Verführung weiter auskosten. Lingerie - nicht die Ausnahme, sondern absolute Regel, dazu Spaß an Phantasien, Experimenten, Tabubrüchen. „Daß die Frauen sich bei euch die Schamhaare nicht abrasieren – kaum zu glauben“, höre ich immer wieder von Freundinnen, „wissen die denn nicht, daß es `ohne` viel lustvoller ist?“ Um die siebzig Prozent der Brasilianer mögen ihre Partnerinnen depilado, finden dann auch nicht nur das „chupar“ weit köstlicher, aufregender, sondern auch das „ foder, montar, cavalgar, meter“. „Vögeln ist bei uns Brasilianern so herrlich mit Musik, dem Essen, mit Spaß und Spielerei verknüpft“, schwärmt der Filmemacher und Kolumnist Arnaldo Jabor, womöglich bester, intimster Kenner seines Landes, „wir in den Tropen nehmen Sexualität als Spiel, Fest, Lachen.“ In einem Land unerklärten Bürgerkriegs, mit weit über vierzigtausend Mordtoten jährlich, Misere, sozialen Kontrasten und Widersprüchen, die auf keine Kuhhaut gehen? Nach unseren Begriffen, Wert-und Moralvorstellungen müßten eigentlich die Brasilianer, und nicht das vergleichsweise reiche, wohlgeordnete alte Europa, über Triebverlust, immer weniger Sex, Rollenverunsicherung, Enterotisierung klagen. Doch die Uhren gingen hier schon immer anders – von Anfang an färbte die Sexualität der Ureinwohner auf portugiesische Kolonialisten, die vielen Einwanderer aus Italien, Spanien, Deutschland, Österreich oder Japan ab. Denn die Indianer waren von christlicher Moral unbeeinflußt, sind bis heute sexuell freier, aktiver – Indiomädchen probieren die schönste Sache der Welt gleich nach der ersten Menstruation aus, bekommen, falls sie das wollen, mit elf, zwölf Jahren die ersten Kinder. Dabei sind gerade Indiomänner die absoluten Machisten – was zu den ebenfalls unübersehbaren Schattenseiten brasilianischer Sexualkultur führt. „Mein erster Ehemann – und nach der Scheidung wirklich alle Namorados legten sich direkt absurd hektisch, ungestüm ins Zeug, kamen deshalb natürlich immer viel zu früh, schon nach drei oder höchstens zehn Minuten, wenn ich noch längst nicht so weit war“, reklamiert die schwarze Programmierin Sandra Goldin aus Sao Paulo. Laut neueren Studien ejakuliert über die Hälfte der Männer zu rasch, was Frauen den Spaß am Sex vergällt. „Meine Freundinnen sagen genau dasselbe - alles pure Egoisten, eben Machos – nach kurzem, formalem Vorspiel wie die Preßlufthämmer, nur auf den eigenen Lustgewinn bedacht, viel zu wenig zärtlich. Die wollen einfach nicht merken, daß wir kaum Genuß empfinden, vögeln eigentlich für sich alleine.“ Rund dreißig Prozent haben keinen Orgasmus, etwa zwanzig Prozent fühlen Schmerzen beim Sex. „Weil die Männer eben zu schnell, häufig dazu auch noch grob sind“, kommentiert Rosa Limares, Sozialarbeiterin aus Belo Horizonte, ebenfalls dunkelhäutig, diese Angaben. „Die wollen zeigen, daß sie starke, potente Machos sind – und je schneller sie kommen, umso geringer ihr Risiko, später vielleicht nicht mehr ejakulieren zu können, die Erektion zu verlieren, sich vor der Frau als Versager zu fühlen.“
Bemerkenswert – gemäß medizinischen Untersuchungen haben über die Hälfte der brasilianischen Heteros leichte bis schwerere Erektionsprobleme, wegen Streß, Existenzängsten – Homosexuelle sind doppelt stark betroffen. Bei Arbeitslosen ist das Risiko „psychologischer Impotenz“ 83 Prozent höher als bei fest Beschäftigten, sagt eine Studie von 2003, und 36 Prozent der arbeitslosen Frauen hätten schlichtweg keine Lust mehr.
„Absurd – nicht die Alten, vor allem Jugendliche, junge Männer nehmen Viagra wie verrückt – um uns zu beeindrucken“, so Rosa Limares. „Manche meiner Partner ließen garnicht zu, über Sex zu reden. Anderen sagte ich, mir gefiels nicht, zu kurz, ich habe nichts gespürt. Und bekam dann zu hören: Du bist eben unersättlich; weißt nicht, was guter Sex ist – ich bin doch gekommen! Gerade Schwarze halten sich sexuell für die Größten – völlig grundlos! Nur – was sollen wir machen – andere Männer gibts eben nicht.“ Viele Single-Frauen – in Sao Paulo und Rio de Janeiro geradezu Heerscharen – gehen, wie sie lachend hinzufügt, deshalb nur dann mit jemandem ins Bett, wenn der Trieb zu stark werde – alle paar Wochen, alle paar Monate.
Die für Kinder und Jugendliche gedachte Beilage der größten Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ vermeldet 2003:“Unsere Urgroßeltern haben mehr Sex gemacht, waren glücklicher!“
Daß im Weltvergleich brasilianische Männer am häufigsten Prostituierte benutzen, erklärt Rosa Limares spontan so:“Von Huren weiß ich, daß die aus Geschäftsgründen eben nie kritisieren, wenn die Machos zu schnell, zu brutal vögeln – deshalb toben sich Männer mit denen gerne aus, auch beim Analsex.“ Danach sind die allermeisten Brasileiros geradezu verrückt – die allermeisten Brasileiras lehnen ihn heftig ab, weils wehtut – nicht wenige nehmens aber murrend hin. Seitensprünge, eine Geliebte, ein Geliebter, eine Zweitfrau, Zweitfamilie nebenher – weit, weit häufiger als etwa in Deutschland. Ebenso wie Verstümmelungen, Morde an Frauen – aus Eifersucht, zur „Rettung“ der Macho-Ehre. „Mann sein heißt, die Frauen der eigenen Familie, die eigenen Geliebten maximal zu kontrollieren – und gleichzeitig maximalen sexuellen Zugang zu den Frauen der anderen zu haben, mit der größtmöglichen Zahl zu vögeln – ob Mutter, Gattin, Tochter – und viele Kinder zu machen“, definiert Roberto Albergar, Uni-Anthropologe in Bahia, die „Logik des brasilianischen Machismus“, besonders in der Unterschicht, also der übergroßen Bevölkerungsmehrheit anzutreffen. Doppelmoral, Ambivalenz gelte auch für Frauen: „Alle sagen natürlich, nur einen guten, verläßlichen, treuen, verantwortungsvollen Mann als Lebenspartner zu wollen – tatsächlich aber bevorzugen sie bad Boys, Hengste, solche starken, ungestümen Machos, die verführen - und verlassen.“ Er könne ruhig fremdgehen, das werde verziehen – solange sie unangefochten die Hauptfrau bleibe. Homosexuelle werden nicht nur von den Bahia-Machos verachtet, sind häufig Opfer von Gewalt. „Ich bin Schwarzer und Gay“, sagt Schwulenaktivist Oseas, 30, in Salvador da Bahia, „für die schwarzen Heteros verrate ich aber damit meine eigene Rasse!“




Klaus | 16.02.06 17:25 | Permalink

Kommentare

ich war 3 jahre in brasilien und ich muss sagen das sicher einiges stimmt was hier geschrieben wurde aber: wie sollte es doch anders sein in einem land wo 40% sehr arm sind. Doch muss man sagen wenn man mit den anderen 60% von arm bis reich (und es stimmt auch nicht das es keine mittelständler gäbe nur von europas sichtweise werden diese nicht als solche erkannt) zu tun hat dann ist dort die lebensqualität was das zwischenmenschliche (damit meine ich Kommunikation, Liebe, Freunlichkeit usw.) betrifft weit aus wirklich weit aus besser als in Deutschland österreich england usw. das können sie mir glauben. Deswegen auch diese Meinungen der gehobenen Klasse brasiliens über ihr Land.

Im Artikel gefallen mir auch diese vergleiche mit Hitler Deutschland absolut nicht: Wem dieser verdammte Blödsinn eingefallen ist sollte sich schämen.
Das mit der Musik ist doch total egal welche die beste ist: Fakt ist das der Durchnittsbrasilianer mehr musikalisch drauf hat als ein Europäer (ich spiel selber fanatisch gitarre). Ich weiß nicht warum aber es fällt schon auf, ist wahrscheinlich kulturbedingt?

ja mehr möchte ich dazu nicht sagen!

ciao


Verfasst von: Nasche | 08.06.06 13:37

Wie zu oft orientieren sich Menschen an dem, was ihnen von den Medien dargeboten wird. All das interesse, das damit geweckt wird, basiert meist auf Sensationsgeilheit (sorry, die Ausdrucksweise). Die Dinge zu differenzieren, ist man erst in der Lage, wenn man, entweder dort lebt, wie ich eine lange zeit in China verbracht habe, oder sich eben entsprechend damit auseinander setzt.
Mit Interesse verfolge ich hier in Germany all die Vorurteile und differenten Meinungen der Deutschen während der WM - wie identisch zu Ihrem Artikel.
Ich bin zwar einige Zeit auch durch Südamerika gereist, habe mich für Land und Leute so sehr begeistern können, doch erst durch meinen brasilianischen Lebenspartner habe ich die! Kenntnisse gewonnen.

Heidi Rix

Verfasst von: Rix Heidi | 02.07.06 08:43

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