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Desaströses drittes Amtsjahr der Lula-Regierung: Korruption bewiesen, sinkenden Popularität des Staatschefs

--von Klaus Hart, Sao Paulo--
In Brasilien, Lateinamerikas größter bürgerlicher Demokratie und 14. Wirtschaftsnation der Erde, hat die Regierung des rechtssozialdemokratischen Staatschefs Luis Inacio Lula da Silva ein geradezu desaströses drittes Amtsjahr hinter sich gebracht. Einerseits ökonomische Stabilität und Exportrekorde - andererseits ein weiterhin rasches Slumwachstum, deutliche Verschlechterungen im Bildungs-und Gesundheitswesen, im Umweltschutz, bei den Menschenrechten. Der einst durch teure Marketingkampagnen und korrumpierte Journalisten zum "Hoffnungsträger" aufgebaute Staatschef Lula sowie dessen Arbeiterpartei, häufig als eherne Säulen der Ethik im ansonsten zwielichtig-korrupten Politikbetrieb gelobt, stecken seit 2005 auf einmal selber tief im Korruptionssumpf. Daher ist nicht einmal sicher, ob Lula bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2006 erneut kandidiert.

Kurz vorm Jahreswechsel suchte Staatschef Lula die innenpolitischen Probleme herunterzuspielen. “Wir haben in den drei Amtsjahren getan, was getan werden mußte. Um die Inflation zu kontrollieren, waren einige Opfer notwendig. Ja, es gibt politischen Streit im Lande, viele Debatten. Doch drei Jahre der Erfahrungen sprechen für uns. Wir haben dem brasilianischen Volk gezeigt, daß sich die Regierung nicht aus der Ruhe bringen läßt, selbst wenn die Lage sehr gravierend ist.“
Entgegen seinen Worten, so analysieren Brasiliens Politikexperten, wirkt Lula nervös und angeschlagen – auch weil die Popularitätsraten stetig sinken. Kurz vorm Präsidentschaftswahlkampf will sich Lula nicht festlegen, ob er noch einmal antritt. Erst im Laufe des Jahres werde er sich entscheiden. Ob er kandidiere, hänge davon ab, ob die ihn unterstützenden politischen Kräfte daran ein Interesse hätten. Gemäß neuesten Meinungsumfragen würde Lula bereits im ersten Wahlgang unterliegen. Der Ex-Gewerkschaftsführer hatte sich bei jeder passenden Gelegenheit als ethisch-moralische Autorität bezeichnet – selbst dann noch, als zu Beginn des Jahres ein raffiniertes System von Abgeordnetenbestechung, Stimmenkauf, Mittelabzweigung und Machtmißbrauch enthüllt wurde: “In diesem Land gibt es unter den 180 Millionen Brasilianern keine Frau und keinen Mann, die die Courage hätten, mir Lektionen in Ethik, Moral und Ehrlichkeit zu erteilen. Jemand, der mit mir über Ethik diskutieren will, muß erst noch geboren werden.“
Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben inzwischen die Korruptionsvorwürfe bewiesen, zahlreiche Minister und enge Freunde Lulas, sogar dessen rechte Hand Josè Dirceu, mußten ihre Posten räumen. Beinahe täglich wird der Staatschef von linken und konservativen Oppositionspolitikern, von Intellektuellen und Künstlern öffentlich der Lüge bezichtigt. Lula habe wie kein anderer Präsident versucht, Ermittlungen über Korruption zu verhindern. In einer seriösen Demokratie, heißt es immer wieder, wäre Lula längst amtsenthoben worden. Seit der Diktaturzeit, so rechnen ferner die Experten vor, habe keine Regierung sowenig investiert. Entsprechend schlecht seien die Zustände im öffentlichen Gesundheitssektor und in den Schulen.
“Das Bildungswesen ist auf einem katastrophalen Niveau“, betont Schriftsteller Joao Ubaldo Ribeiro aus Rio de Janeiro, dessen Romane auch in Deutschland viel verlegt werden. „Wir bilden Generationen von Analphabeten heran.“
Auch unter Lula wird die Natur so rasch und ungehindert vernichtet, daß sich im November erstmals in der brasilianischen Geschichte ein bekannter Umweltschützer aus Protest selbst verbrannte. Vor dem Präsidentenpalast tat gleiches ein Arbeitsloser. Für Regierungspropaganda wurde indessen weit mehr ausgegeben als etwa für die öffentliche Sicherheit, obwohl sie zu den Hauptsorgen der Brasilianer zählt.
Wie hoch Aggressivität und Gewaltbereitschaft inzwischen sind, zeigte sich auch bei den Silvesterfeiern: Um Ausschreitungen jeder Art zu vermeiden, mußten sämtliche 2, 1 Millionen Teilnehmer des Festes auf der Avenida Paulista von Sao Paulo zuvor eine gründliche Leibesvisitation durch Polizisten über sich ergehen lassen – u.a. durften keinerlei Getränke in Flaschen, etwa Champagner, mitgenommen werden.
Die Landespresse zitiert immer wieder US-Präsident George Bush, der die Zahl der in über zweieinhalb Kriegsjahren getöteten irakischen Zivilisten mit etwa 30000 beziffert. Zum Vergleich folgt dann die Opferbilanz im sogenannten nichterklärten brasilianischen Bürgerkrieg: Über fünfzigtausend Tote – jährlich. Folter, so beklagt auch die Kirche, ist weiterhin alltäglich. Im November kam George Bush zu einem Kurzbesuch nach Brasilia. Lula versteht sich mit ihm persönlich ausgezeichnet, möchte möglichst ungetrübte Beziehungen zu den USA, dem wichtigsten Wirtschaftspartner. Bush versprach, die Einfuhr brasilianischer Waren weiter zu erleichtern – einem ständigen UNO-Sicherheitsratssitz Brasiliens stehe man nicht mehr grundsätzlich ablehnend gegenüber. Der US-Präsident lobte zwar Brasiliens Truppeneinsatz in Haiti, mochte sich jedoch eine Anspielung auf Lulas innenpolitische Probleme nicht verkneifen: Lateinamerikas Regierungen, so Bush, müßten sich von der Korruption befreien.
Die Basis der Arbeiterpartei PT verübelt Lula sehr, daß er in jüngsten Erklärungen stark vereinfachend der gesamten Partei die Schuld an den gravierenden politischen Fehlern gibt. Schließlich ist nur eine zahlenmäßig kleine Führungsclique für die Skandale, die Abmachungen mit der neoliberalen Geldelite, die Pakte mit konservativen bzw. rechtsgerichteten Politikern und Parteien verantwortlich. Auffällig ist, daß selbst der PT-Generalsekretär Raul Pont Lulas Kritik nicht hinnehmen mag. Pont reagierte auf Lulas Äußerung, wonach die Partei erheblich bluten müsse, um verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Pont meinte, Lula sollte besser endlich sagen, welche Personen innerhalb der PT ihn denn verraten hätten. Er sollte zudem seinen Einfluß nutzen, damit endlich eine innerparteiliche Untersuchung zu den Korruptionsskandalen gestartet werde. Die zentralen Fragen der politischen Krise beträfen ausschließlich die Regierung und ihre Politik der Bündnisse. Ein bedeutender Teil der Partei habe die PT-Koalitionen nie akzeptiert.
Unterdessen verlassen weiterhin angesehene Persönlichkeiten die PT: Zum Jahresanfang ging Francisco Whitaker, Mitglied der katholischen Kommíssion für Gerechtigkeit und Frieden. Nach dessen Worten hat sich die PT-Führung vom Volk getrennt. Der PT-Traum sei ausgeträumt, eine zweite Lula-Regierung wohl nur noch ein kleineres Übel.
--Brasiliens Exporte – zu siebzig Prozent von multinationalen Konzernen-
-Staatschef Lula zählt gewöhnlich die Exportrekorde zu den Meriten seiner Regierung. Gemäß neuen Studien handelt es sich indessen zu rund siebzig Prozent um Ausfuhren multinationaler Konzerne, die das Tropenland vor allem wegen der Billigstlöhne zunehmend als günstigen Produktionsstandort nutzen, dafür in Ländern der Ersten Welt, darunter Deutschland, Fabriken dichtmachen und Massenentlassungen starten. Auch die Agrarexporte Brasiliens, darunter besonders die Sojaausfuhren, werden immer mehr von Multis kontrolliert. Die Zunahme des Auslandskapitals an den brasilianischen Exporten seit den neunziger Jahren, so die nationale Außenhandelsassoziation, sei direkte Folge der Privatisierungen und der wirtschaftlichen Öffnung.

Klaus | 02.01.06 14:43 | Permalink