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Big Brother im Panopticon?

Droht statt dem 'Ueberwachungsstaat' die 'Ueberwachungsgesellschaft'?
von Matthias Rothe (Auszug mit Genehmigung des Autors)

"Während Orwells Vision 1984 in der öffentlichen Kultur noch vor einer Generation nahezu einhellig als Schreckbild empfunden wurde (...) ist die technische Infrastruktur zur ubiquitär-panoptischen Ausleuchtung individuellen und kollektiven sozialen Lebens zu Beginn des 21. Jahrhunderts technisch weitgehend installiert und stößt nur noch sporadisch auf ernsthaften und/oder organisierten Widerstand", schreibt Detlef Nogala in Telepolis (Der Frosch im heißen Wasser). Dieses kurze Zitat fasst bereits den Stand der Diskussion zum Phänomen der Überwachung zusammen und dokumentiert zugleich die Art und Weise in der allerorts debattiert wird. Die Bestandsaufnahme: Wir leben in einer Überwachungsgesellschaft, zumindest bedarf es nur noch eines Knopfdrucks, um sie zu aktivieren und niemand wehrt sich dagegen. Die einschlägige Metaphorik: 1984 und das Panopticon.

Der Vergleich hat allerdings eine seltsame Schieflage. Zweifellos empfinden auch diejenigen, die heute Orwells Buch lesen oder den Film sehen, die dort geschilderte Welt als eine Schreckensvision. Die Protagonisten des Romans akzeptieren allerdings ihre Situation, und auch wir scheinen die Situation, in der wir uns befinden, hinzunehmen. Formulierte man es so, könnte man den apokalyptischen Ton kaum aufrecht erhalten und müsste unter Umständen genauer nach den sicherlich sehr unterschiedlichen Bedingungen dieser Akzeptanz fragen.

Diese Schieflage aber ist nicht nur zufällig und nicht nur Stimmungsmache. Das Zitat veranschaulicht auch ein Dilemma, das symptomatisch ist für die liberale Fassung des Phänomens Überwachung. So wie Hamlet seinen toten Vater nicht los wird, so kann sich der Liberalismus Orwells nicht entledigen.[1] Denn traditionell wird aus liberaler Perspektive Überwachung über die Konfrontation Individuum vs. Staat verstanden. Auch wenn man mittlerweile von den vielen kleinen Brüdern und Schwestern des Big Brother spricht und nicht staatliche Organisationen einschließt, am Grundmodell wird festgehalten: das Individuum, mit seinen Möglichkeiten, sich auf eine selbst gewählte Weise zu verhalten, ist herausgefordert durch eine Macht, die diese Möglichkeiten einzuschränken oder ganz außer Kraft zu setzen droht. 1984 ergibt sich daraus zwangsläufig immer wieder als Albtraum.

Nogalas Diagnose muss, eben weil sie sich diesem Verständnis verpflichtet, den Blick auf die möglichen Unterschiede zu Orwells Welt verstellen. Und Überwachung muss einmal mehr als die große monotone Bedrohung der Individuen vorgestellt werden. Die Klage und das Unverständnis, mithin die Wahrnehmung ihrer Passivität sind dann ganz dieser liberalen Konzeption geschuldet und nicht etwa angemessene Reaktion auf den 'Stand der Dinge'.

Aber es kommt eigentlich noch schlimmer. Wenn man, dem liberalen Modell folgend, unter der Voraussetzung einer solchen starken Konfrontation: Individuum vs. staatliche oder substaatliche Macht, schließlich doch Erklärungen für die Akzeptanz der Überwachung findet, beraubt man sich zugleich der Möglichkeiten, auch ihre Gefahren zu denken, d.h. man diskreditiert das eigene kritische Unternehmen. Das lässt sich auch an einem jüngst erschienen, bereits zum Manifest vieler Aktivisten avancierten Buch aufzeigen. Es entfaltet dieses liberale Selbstverständnis u.a. am Thema der Überwachung, ist von Beate Rössler und trägt den Titel: Der Wert des Privaten[2] (Deliberieren hinter geschlossener Tür).

(...)

[1] Mit 'Liberalismus' ist hier eine philosophische Richtung gemeint, die Gesellschaft als Zusammenschluss freier Individuen versteht und den Staat im Dienste dieser Freiheit sieht.

[2] Beate Rössler: Der Wert des Privaten. Frankfurt a.M. 2001

Quelle und vollständiger Artikel hier:

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/12/12842/1.html

Michal Stachura | 15.12.05 19:21 | Permalink