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Diktaturarchive, Folter unter Lula

Brasilianische Regierung öffnet Diktaturarchive nicht - Menschenrechtler protestieren auch gegen Folter
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Zahlreiche brasilianische Menschenrechtsaktivisten haben Anfang November angeprangert, daß die Mitte-Rechts-Regierung von Staatschef Lula entgegen den Versprechen die geheimen Archive über Diktaturverbrechen weiterhin unter Verschluß hält. Die UNO-Menschenrechtskomission in Genf erklärte dazu, Brasilien müsse endlich die Diktaturvergangenheit aufklären.

Die Geheimdokumente könnten auch dazu dienen, gegen Folterer zu ermitteln. Besonders scharfe Kritik äußerte die brasilianische Kommission über Ermordete und Verschwundene, die auf Geheiß von Lulas Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso gegründet worden war. Der Leiter des beim Justizministerium angesiedelten Gremiums, Augustino Veit, erklärte, die Hinterbliebenen der Diktaturopfer seien über die Lula-Regierung tief enttäuscht. Sie unterstütze die Angehörigen keineswegs bei der Suche nach den sterblichen Überresten und enthalte der Komission zudem wichtige neue Erkenntnisse über Diktaturverbrechen vor. Zum Eklat war in dieser Woche der Austritt des wichtigsten Komissionsmitgliedes Suzana Lisboa geworden, die Staatschef Lula eine Mißachtung der Hinterbliebenen vorwarf. Zweimal habe er Treffen mit zahlreichen Angehörigen Ermordeter oder Verschwundener in letzter Minute abgesagt. "Lula hat unseren Kampf in keiner Weise unterstützt - der Komission wurde zunehmend Einfluß entzogen, ein Verbleiben hat daher keinen Sinn mehr." Die Regierung kläre die Untaten nicht auf, bestrafe nicht die Schuldigen.
Angesehene nationale Menschenrechtsorganisationen wie "Tortura nunca mais"(Nie mehr Folter) werfen Brasilia vor, schuldige Militärs schützen zu wollen und deshalb die Geheimarchive nicht zu öffnen. Staatschef Lula wolle einen Konflikt mit der mächtigen Offizierskaste vermeiden, die letztes Jahr in einer Note das Militärregime als positiv für das Land deklariert sowie die Repressionsmethoden befürwortet hatte. Kritisiert wurde zudem, daß Lula seinen Vize Josè Alencar, einen Milliardär und Anhänger der Militärdiktatur, zum Verteidigungsminister ernannt hatte.
Brasiliens Bischofskonferenz forderte ebenfalls mehrfach, die Geheimdokumente herauszugeben. Der Primas von Brasilien, Kardinal Geraldo Majella Agnelo erklärte, bis heute wüßten viele Brasilianer nicht, was mit ihren Angehörigen während des 21-jährigen Militärregimes geschehen sei. Pensions-und Entschädigungsansprüche könnten daher nicht geltend gemacht werden. Wenn alle demokratischen Regierungen und selbst die jetzige einfach nicht handeln wollten, werfe dies natürlich Fragen auf:"Hat man ein Interesse daran, bestimmte Personen für das Verschwindenlassen von Staatsbürgern nicht verantwortlich zu machen? Gibt es Druck von den Streitkräften? Wollen diese nicht zulassen, daß noch ganz andere Verantwortlichkeiten bekannt werden?"
Von der UNO-Menschenrechtskomission in Genf war in den letzten Tagen generell die Menschenrechtspolitik der Lula-Regierung hart kritisiert worden. Der Senegalese Doudou Diene, Sonderberichterstatter der UNO für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz, hatte jetzt in Sao Paulo erklärt, das Ausmaß an Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen sei schockierend.
Fortdauernde Folterungen durch staatliche Sicherheitsbeamte hatte zudem Brasiliens Rabbiner Henry Sobel, oberster Repräsentant der jüdischen Gemeinden des Landes, beklagt. Elektroschocks und andere laut Gesetz streng verbotene Foltermethoden aus der Diktaturzeit würden weiterhin routinemäßig angewendet, schrieb Sobel in einem Beitrag für die Qualitätszeitung "Folha de Sao Paulo". Üblich sei, Gefangene allen möglichen Torturen auszusetzen. Dies geschehe unter dem Vorwand, diese Häftlinge für begangene Verbrechen zu bestrafen. Außerdem würden Menschen gefoltert, um sie zu Geständnissen über Taten zu zwingen, die diese gar nicht begangen hätten. Leider fehle der brasilianischen Gesellschaft die Entschlossenheit, Folterungen zu verhindern. Es reiche nicht, wenn sich dafür nur einzelne Menschenrechtsaktivisten einsetzten. Werde heute ein mutmaßlicher Straftäter gefoltert, schweige die Gesellschaft - oder schlimmer noch - applaudiere dazu. Polizeigewalt werde heute von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung gutgeheíßen. Indifferenz fördere Menschenrechtsverletzungen. Wer davor die Augen verschließe, mache sich zum Komplizen der Täter. "Sagen wir ganz laut Nein zur Folter und zur institutionalisierten Gewalt", forderte Sobel.
Der Rabbiner erinnerte daran, daß vor dreißig Jahren unter der Militärdiktatur der oppositionelle jüdische Journalist und Universitätsprofessor Vladimir Herzog von der Geheimpolizei ermordet worden war. Offiziell hatte man damals mitgeteilt, Herzog habe in seiner Gefängniszelle Selbstmord begangen. Die Lektion aus dieser grausamen Tat, so Sobel, habe man drei Jahrzehnte später immer noch nicht gelernt.

Klaus | 07.11.05 13:12 | Permalink