« Wer sind die Terroristen? | Hauptseite | NVA »

23 Euro im Monat - wie effizient ist Brasiliens Elendsbekämpfung?

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
"Vieles hat sich verbessert, vor allem unter Staatschef Lula gibt es brasilienweit sichtbare Fortschritte im Sozialbereich", konstatiert Caritas-Mitarbeiter Rodrigo Vieira, der im Teilstaat Minas Gerais ein Projekt zur Integration von sechshundert verelendeten Slum-Familien in den Arbeitsmarkt leitet. "Heute existieren staatliche Hilfsprogramme aller Art, viel mehr als früher - für die Familien, die Kinder,für Schulbildung und medizinische Betreuung wird zweifellos mehr getan." Auf den ersten Blick scheint der 32-jährige Agraringenieur Vieira mit seinem Staatspräsidenten Lula übereinzustimmenh - doch der Teufel steckt im Detail.

Das über 180 Millionen Einwohner zählende Brasilien ist laut UNO-Angaben Weltmeister bei Sozialkontrasten und ein Land erstaunlichster Paradoxe. Lula zeigt sich überzeugt, daß Brasilien bis 2015 so gut wie alle von der UNO gesteckten Milleniumsziele bequem erreicht. „Extreme Armut und Hunger um die Hälfte zu reduzieren, allen Kindern den Schulbesuch zu garantieren – das haben wir doch schon fast geschafft.“ Und auch die brasilianische UNO-Expertin Maria Oliveira betont, daß im Bezugsjahr 1990 noch 8,8 Prozent der Brasilianer täglich mit weniger als einem Dollar umgerechnet auskommen mußten, also gemäß Weltbankkriterien in echter Misere lebten. „Heute sind es nur noch etwa halb so viel Betroffene – extreme Armut in Brasilien exakt zu definieren, ist jedoch sehr schwierig.“ Selbst die Regierung gehe von zwanzig Millionen Brasilianern in absoluter Misere aus.
Caritas-Koordinator Rodrigo Vieira trifft in Minas Gerais trotz der Sozialprogramme täglich auf viele Hungernde, Verelendete. Die Slumgürtel der brasilianischen Städte schrumpfen nicht, sondern wachsen rasch weiter. „Die Hilfen der Regierung sind nur Almosen, lindern die Misere etwas, aber beseitigen sie nicht – von einer Lösung des Problems sind wir noch weit entfernt!“ Er bestätigt Regierungsangaben, wonach derzeit siebeneinhalb Millionen Familien eine monatliche Hilfe von umgerechnet mindestens fünf und maximal 31 Euro erhalten, um sich das Nötigste kaufen zu können. „Dreißig Millionen Begünstigte von über fünfzig Millionen Berechtigten – das ist sehr wenig.“ Es reiche nicht aus, die Armen und Verelendeten von solchen Almosen abhängig zu machen – man müsse diese Menschen in die Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt integrieren.
Den Betroffenen sind die Regierungs-Almosen jedenfalls sehr willkommen. Leticia Alves, Mutter von vier Kindern im nordöstlichen Guaribas, kann mit ihrer neuen Magnetkarte monatlich umgerechnet 17 Euro abheben:“Ohne die Karte wäre ich schon vor Hunger gestorben!“ Und Paulo Machado, Straßenverkäufer aus der selben Region, freut sich über die Zahlungen wegen seiner sechzehn Kinder:“Ohne das Geld müßte ich mich als Händler schier zerfetzen.“ Doch reicht es zur Flucht aus der Misere?
„Mit durchschnittlich 23 Euro pro Familie sind angesichts des brasilianischen Preisniveaus nicht einmal die Minimalbedingungen erfüllt, um extreme Armut überwinden zu können“, analysiert Eneas da Rosa, der die brasilianische Filiale der internationalen Hilfsorganisation FIAN(FoodFirst – Informations-und Aktionsnetzwerk für das Recht auf Nahrung) leitet und mit dem katholischen Hilfswerk Misereor kooperiert. Die staatlichen Sozialprogramme lösten nicht das Hungerproblem – jede bedürftige Familie brauche mindestens einhundert Euro monatlich vom Staat, also den ohnehin sehr knapp bemessenen Minimallohn Brasiliens, um sich einigermaßen ernähren zu können. „Bei politischem Willen wären die Mittel auch verfügbar.“ Schließlich ist das Drittweltland Brasilien die vierzehnte Wirtschaftsnation, dazu der weltgrößte Rindfleischexporteur, und hat die meisten europäischen Staaten, darunter auch Rußland, ökonomisch längst hinter sich gelassen. 2004 stieg die Zahl der Dollarmillionäre Brasiliens um über sieben Prozent, doch riesige Elendszonen, mit Sozialindikatoren von Haiti und Uganda, bleiben bestehen. Experten befürchten daher, daß Brasilien zwar die Milleniumsziele erreicht, ohne jedoch im Sozialsektor die erwarteten qualitativen Fortschritte zu machen.
Die bisherigen Hilfsprogramme, kritisiert auch die UNO, nützten gerade den am meisten unter Misere leidenden Brasilianern am allerwenigsten. Denn diese müsse man gewöhnlich erst einmal ausfindig machen, amtlich registrieren, ihnen dabei helfen, zustehende Gelder zu beantragen – und danach kontrollieren, ob sie die Hilfe auch tatsächlich erhalten. Über elf Prozent der Erwachsenen sind Analphabeten. Zwar gehen inzwischen die allermeisten Kinder armer Familien in öffentliche Schulen, doch die Qualität des Unterrichts ist extrem schlecht, was Chancengleichheit verhindert. Denn Mittelschichtskinder besuchen durchweg die weit besseren, teuren Privatschulen. Sozial und rassisch diskriminiert sind nach wie vor Schwarze und Mischlinge, die sechzig Prozent der Bevölkerung stellen.
Carlos Lopes, Chef der UNO-Mission in Brasilia: “Selbst wenn Brasilien insgesamt vorankommt, wird der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten nicht geringer.“

Klaus | 22.09.05 00:15 | Permalink