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Lulas bemerkenswerte Sozialpolitik - Sterben in der Warteschlange

Brasiliens neoliberales Zwei-Klassen-Gesundheitswesen
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Evangelista Magalhaes in der Zuckerhutmetropole hat Kreislaufprobleme, Bluthochdruck, spürt Schmerzen. Wäre die 55-Jährige aus der Mittel-und Oberschicht, hätte sie eine exzellente Privatversicherung, ginge jederzeit zu einem Spezialisten, genösse eine Behandlung wie in der Ersten Welt. Ihr Pech jedoch, wie rund achtzig Prozent der 185 Millionen Brasilianer nur zur Unterschicht zu gehören, auf öffentliche Krankenhäuser und Gesundheitsposten angewiesen zu sein. In einer Mainacht stellt sie sich, um garantiert dranzukommen, schon nachts bei Regen und Wind in die lange Schlange vorm Ambulatorium des heruntergekommenen, gefährlichen Hafenviertels. Stunden später ist Evangelista Magalhaes tot.

Ihr Kreislauf hält die Anstrengung nicht aus, sie bricht zusammen. Rettung wäre möglich gewesen, ein privater Krankenwagen nach wenigen Minuten zur Stelle. Doch der sofort herbeigerufene „öffentliche“ kommt erst nach über einer Stunde. Da weint ihr Ehemann bereits neben der Leiche. Täglich ereignet sich derartiges irgendwo in Brasilien – Sterben in der Warteschlange ist normal. Und wer nach durchwachter Nacht bis ins Krankenhaus vordringt, gar wegen eines Unfalls sofort in die Notaufnahme kommt? Weil Ärzte, Krankenschwestern, Medikamente, Apparaturen, Spritzen und Verbandsmaterial fehlen, sterben tagtäglich ungezählte Brasilianer. Nicht nur weit im Hinterland, in den rückständigsten Gebieten Amazoniens, sondern selbst im zweitwichtigsten Wirtschaftszentrum Rio de Janeiro, wo 14,3 Millionen Menschen wohnen. „Chaos, Schlamperei und Horror herrschen in den städtischen Krankenhäusern“, beklagt der Universitätsprofessor Jairo Nicolau – die Bewohner der Elends-und Armenviertel benutzen weit drastischere Begriffe, nennen Hospitäler sogar „Fleischereien“. Wegen einer simplen Diagnose muß die nicht privatversicherte Mehrheit bis zu einem Jahr warten, sich dafür viermal schon nach Mitternacht in Warteschlangen einreihen. Wenn der Befund feststeht, liegt die betreffende Person nur zu oft längst auf den Friedhof. Weil Betten fehlen, werden selbst Schwerkranke auf Stühlen deponiert, bis sie leblos umkippen. Unfallopfer mit komplizierten Verletzungen werden häufig einfach in den Krankenhaushof geschoben, bis sich Hilfe erübrigt hat. Immer wieder Verzweiflungstaten: Kranke oder deren Angehörigen erzwingen mit vorgehaltenem Revolver eine Operation. Im berüchtigten fabrikartigen Hospital „Souza Aguiar“ wurden selbst Infarktbetroffene abgewiesen. Auch einer Frau in den Wehen wird die Hilfe verweigert – also bekommt sie ihr Kind im engen Taxi vor der Tür zur Notaufnahme – Wartende helfen ihr, nicht Ärzte oder Schwestern. Jeder Unterschichtsbrasilianer war Augenzeuge solcher – und schlimmerer Szenen. Als im März das öffentliche Gesundheitswesen Rios völlig zusammenbricht, ruft die Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva gar den medizinischen Notstand aus, läßt mitten in Parks Militärlazarette aufbauen. Vor den Zelten der Militärärzte dasselbe Bild wie immer – teils kilometerlange Schlangen. Millionen drängen zudem von der sozial völlig vernachlässigten Slumperipherie in die innerstädtischen Hospitäler und Ambulanzen, überlasten diese total. Rios Gesundheitssekretär Ronaldo Coelho ist Großaktionär beim Zigarettenkonzern Souza Cruz, das paßt ins Bild. In Sao Paulo, der reichsten Wirtschaftsmetropole ganz Südamerikas, ist die Lage ähnlich, stehen den privilegierten Privatversicherten indessen noch weit bessere Kliniken als in Rio zur Verfügung. Doch in den riesigen Slums klettert wegen der elenden Lebensbedingungen auch die Krebsrate immer rascher. Weil auch öffentliche Zahnärzte fehlen, haben rund dreißig Millionen Brasilianer keinen einzigen Zahn mehr im Mund. Bei Tuberkulose liegt das Land auf dem 15. Platz weltweit.
Der katholische Bischof Demetrio Valentini nennt den Horror im Gesundheitsbereich zuallererst „Konsequenz neoliberaler Politik unsensibler Politiker“. Für Staatschef Lula sei die Rückzahlung der hohen Außenschulden, ein beträchtlicher Primärüberschuß vorrangig, nicht aber das Soziale. Deshalb würden die Mittel für Gesundheit, aber auch Bildung gekürzt, werde die Bevölkerungsmehrheit der dreizehnten Wirtschaftsnation immer schlechter medizinisch betreut. „Weltbank und Währungsfonds loben Brasilien doch nicht, weil es dem Volke gutgeht, gar das Gesundheits-und Schulwesen gut dasteht“, analysiert Valentini, Sozialexperte der Bischofskonferenz, sarkastisch.
Ein Internist zur Gesundheitslage in Rio:“Die Bewohner sind wegen der hohen Gewaltrate in ständiger Spannung, unter Dauerstreß, da sie ständig auf der Hut sein müssen, ständig mit Gewalttaten rechnen müssen. Deshalb soviel Bluthochdruck, deshalb der sehr hohe Zuckerspiegel – weit höher als in Mitteleuropa, den USA. Die hohe Diabetesrate in Brasilien hat zuallererst psychische Gründe, kommt von der psychischen Spannung. Zudem fressen die Leute wegen Streß und Spannung zuviel Fettes in sich hinein, kompensieren durch Essen, was die Probleme nur noch vergrößert. Am Wochenende stehen die Eltern unter Hochspannung, da ihre Kinder ausgehen, dabei Gewalt, den Tod erleiden könnten. Meine Generation trank in der Jugend noch relativ gemäßigt – die jungen Menschen heute trinken geradezu exzessiv, nehmen Drogen, in der Gier, möglichst viel zu erleben, bevor es zu spät ist. Jeder weiß, daß das schon heute, schon morgen sein kann – wegen der Gewalt. Wir haben hier in Rio eine Art Endzeitstimmung, ein Klima des Rette-sich-wer-kann.“

Klaus | 04.05.05 19:10 | Permalink