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Anwälte, Mediziner und Journalisten als Strassenkehrer

Bei Rios Stadtreinigung bewerben sich über 300000 als "Gari" - Monatslohn 140 Euro

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--

"So ein Straßenkehrerjob ist bei dieser Massenarbeitslosigkeit direkt ein Privileg", sagt Rafael Lerner, Personaldirektor der Stadtreinigung "Comlurb" in der Zuckerhutmetropole.Den Ansturm auf seine neueste Ausschreibung hat er vorausgesehen. In nur wenigen Tagen bewarben sich über dreihunderttausend auf nur 1200 Stellen als "Gari". Bis zum 27. Mai, wenn die Einschreibungsfrist endet, dürften es über vierhunderttausend sein. Laut Lerner ist die Erwerbslosigkeit in dem Tropenland "altissimo", rekordhoch - "und sie nimmt gemäß neuesten Statistiken sogar weiter zu."

Die Regierung des Staatschefs und Ex-Gewerkschaftsführers Luis Inacio Lula da Silva feiert dagegen Wirtschaftswachstum und Exportrekorde, verbreitet Optimismus. Doch selbst die Kirche betont, daß die soziale Lage weiterhin grauenhaft sei. Erwerbslosigkeit treffe die arme, gesellschaftlich ausgeschlossene Bevölkerungsmehrheit am tragischsten, führe zu Misere und Hunger. Die Slums wachsen in der dreizehnten Wirtschaftsnation der Erde so rasch wie noch nie. „Die allermeisten Bewerber kommen aus den über 800 Elendsvierteln von Rio – doch auch diesmal werden wieder etliche Akademiker dabeisein“, betont Personaldirektor Lerner. „Vor zwei Jahren waren es sogar Anwälte, Lehrer, Mediziner und Journalisten, obwohl wir nur den Abschluß der vierten Grundschulklasse fordern.“ Damals hatte die Stadtreinigung schon einmal Straßenkehrerstellen angeboten. Im Sambodrome, dem weltbekannten Schauplatz der Karnevalsparaden, standen 130000 Interessenten tagelang in kilometerlangen Schlange, um sich bei den provisorischen Büros der Präfektur registrieren zu lassen. Es kam zu Tumulten und Panik, Militärpolizei prügelte auf die Arbeitssuchenden ein, warf Tränengasgranaten. Schlecht fürs Stadtimage. Diesmal hat Lerner deshalb das Verfahren sicherheitshalber umgestellt – jeder kann sich per Internet oder telefonisch bewerben. Über sechzig Prozent der brasilianischen Beschäftigten leisten im sogenannten „Setor informal“, dem informellen Wirtschaftssektor, de facto Schwarzarbeit, werden extrem schlecht bezahlt, haben keinerlei Rechte, Ansprüche. Generell klagen auch die Brasilianer über zunehmend rauhere Umgangsformen im Arbeitsalltag, Entsolidarisierung, Mobbing, aussterbende Kollegialität. Brasilien ist beliebtes Experimentierfeld des Neoliberalismus, hier testen auch die europäischen Multis, wie weit man gehen kann. Doch Rios öffentliche Stadtreinigung gilt direkt als Oase, ist gut angesehen. „Die Bewerber wissen, daß sie bei uns anständig behandelt werden, daß wir absolut pünklich zahlen, was allgemein gar nicht üblich ist“, stellt Personalchef Lerner heraus. „Unsere Straßenkehrer kriegen Frühstück und Mittagessen gratis, wir zahlen auch die Fahrtkosten – gerade für Slumbewohner ein ganz wichtiger Vorteil.“ Im Juni sind die wochenlangen Aufnahmetests. Wer von den über dreihunderttausend zu dick oder zu dünn ist, zu schwache Muskeln hat, bei Wettlauf und Liegestützen schlecht abschneidet, wird ausgesiebt. Zum praktischen Kehrtest treten dann nur noch an die siebentausend Bewerber an. Rios „Garis“ tragen eine blitzsaubere orangerote Uniform, sind direkt Blickfang im Straßenbild Rios, werden von den Touristen viel fotografiert. „Unsere Straßenkehrer mögen ihre Arbeit, sehen sie keineswegs als minderwertig an.“ Und der Lohn? Monatlich umgerechnet gerade 140 Euro. Die Miete für eine simple Ein-bis-Zwei-Zimmer-Wohnung außerhalb der Armenviertel kostet das Zwei-bis Dreifache, aber für ein einigermaßen brauchbares Fahrrad, einen Radiorekorder würde der Lohn reichen. Doch Straßenkehrer haben gewöhnlich Familie, müssen mit dem Lohn nur zu oft vier, fünf und mehr Personen miternähren. Der Job bei der Präfektur rettet sie vor der Misere, holt sie aber nicht aus der Armut. Der Run auf die Straßenkehrerjobs von Rio – lediglich ein Einzelfall? Landauf, landab passiert alle paar Tage ähnliches. Stellen Supermärkte überraschend mehrere Dutzend Leute ein, stehen sofort bis zu zehntausend Frauen und Männer Schlange. Als die U-Bahn von Sao Paulo Stationswärter suchte, rangelten über 140000 Bewerber um gerade dreißig mies bezahlte Stellen.

Klaus | 03.05.05 04:39 | Permalink