« "Die Polizei schließt ein Fremdverschulden aus" | Hauptseite | Der Manager »

Lulas archaisches Brasilien

Morde an Menschenrechtlern, Rechtsruck in Parlament und Regierung, Lynchjustiz
"Staatschef Lula für Gewalttaten politisch verantwortlich"
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
In Lateinamerikas größter bürgerlicher Demokratie geht der Terror gegen Menschenrechts-und Umweltaktivisten weiter. Nur elf Tage nach dem Mord an der nordamerikanischen Urwald-Missionarin Dorothy Stang und mehreren ihrer Mitstreiter trifft es in Rio den 61-jährigen Dionisio Ribeiro Junior, fast aus den gleichen Motiven.

Er will verhindern, daß ein von ihm mitgegründetes Naturschutzgebiet von Bauspekulanten verwüstet wird, seltenste, vom Aussterben bedrohte Arten weiterhin gefangen und für hohe Summen an internationale Tierhändler verkauft werden. Das Schutzgebiet ist sein Lebenswerk, die UNESCO hat es zum Naturdenkmal der Menschheit erklärt. Monatelang wird Ribeiro Junior angekündigt, daß seine Tage gezählt sind. Ende Februar, nach einem Treffen seiner Umweltgruppe, lauert ihm der Täter nachts auf, feuert aus dem Hinterhalt mit einem Gewehr. Am selben Tage ermordet eine Todesschwadron unweit davon eine Mutter und sechs ihrer acht Söhne und Töchter. Mehr als zehn bekannte Naturschützer Rio de Janeiros sind ebenfalls im Visier der Killer. Einer der Bedrohten suchte deshalb sogar Schutz für einige Zeit in Deutschland. Eine Frau aus Ribeiro Juniors Umweltgruppe wurde vor zehn Jahren erschossen, die Täter wurden nie gefaßt.
Der Diktaturgegner, Schriftsteller und Kongreßabgeordnete Fernando Gabeira zur Menschenrechtslage in Rio de Janeiro:"Ich habe nie ignoriert, daß es hier geheime Friedhöfe gibt - und Öfen in den Felsen, wo man Menschen lebendig verbrennt..."
Staatschef Lula wettert derzeit populistisch gegen Holzfirmen, Großgrundbesitzer und deren Pistoleiros. Jetzt werde scharf durchgegriffen, Brasilien sei schließlich kein Niemandsland. Unangenehm für die deutschen Lula-Fanclubs – die hiesige Öffentlichkeit, die Medien regagieren mit Hohn und Spott, weisen auf die jährlich über 45000 Gewalt-Toten im „unerklärten Bürgerkrieg“ des Tropenlandes. Lula spule lediglich den „Kit Massacre“ ab, für solche Fälle vorbereitete Propagandaanweisungen, die auch das Ausland beruhigen sollen.
Das „Brasil arcaico“ manifestiert sich gemäß der Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ auch in neuen Fällen von Lynchjustiz. „Salvador da Bahia ist unsere Stadt, in der am meisten gelyncht wird, gefolgt von Sao Paulo und Rio. Brasilien zählt zu den Ländern, in denen Lynchen als reguläre Form außergerichtlicher Justiz existiert...Das archaische Brasilien befiehlt im Lande, weil das moderne Brasilien nur äußerlich und schwach ist. Wir haben aufgehört, eine portugiesische Kolonie zu sein – um Kolonie des rückschrittlichen Brasilien zu werden. Dieses Land hat kein Projekt der sozialen Modernisierung... “
“Die Lula-Regierung ist für die jüngsten Morde politisch verantwortlich, hat gegenüber dem brasilianischen Volk eine schwere soziale Schuld auf sich geladen“, sagt in Sao Paulo der kirchliche Gewerkschafter Waldemar Rossi. „Vor allem in den Urwaldgebieten dienen die Regierenden den Interessen der Großgrundbesitzer, illegalen Bodenspekulanten – und sorgen dafür, daß politische Morde und sogar Massaker straffrei bleiben.“ Rossi hatte in den Diktaturjahrzehnten immerhin gemeinsam mit dem damaligen Gewerkschaftsführer Lula zahlreiche Streiks organisiert, war mit ihm eng befreundet – heute ist er von ihm tief enttäuscht, trat erst kürzlich mit vielen anderen aus Lulas Arbeiterpartei aus. Deren Führungsspitze behandelt seit Jahren Menschenrechtsfragen nur als absolutes Randthema, wie auch die jüngsten Ereignisse, die Banditendiktatur in den Slums, zeigen.
Rossi läßt das auch in Deutschland gängige Argument nicht gelten, daß Lula zwar Verbesserungen wolle, die fehlende Mehrheit seiner Arbeiterpartei im Parlament, die Kräftekonstellation des Regierungsbündnisses ihn aber leider daran hindere. „Das gibt keinen Sinn – denn Lula hat sich seine Partner ja selber ausgesucht. Er will gar keine Veränderungen – und zog es vor, die Macht gemeinsam mit jenen auszuüben, die ihm Vorteile boten. Lula hat einen Kompromiß mit dem Kapital geschlossen, dem Volk fühlt er sich nicht verpflichtet.“
Wer sich erinnert – Deutschlands Kommerzmedien, auch sogenannte alternativ-progressive, unterschlugen 2002, daß Lula ausgerechnet mit dem zwielichtigen Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar, einem Diktaturbefürworter und berüchtigten Ausbeuter, aus der von einer Sekte dominierten konservativen „Liberalen Partei“, in den Wahlkampf zog, ihn unbedingt als seinen Vize wollte. Damit stand für jedermann schon vor der Wahl fest, welchen Kurs eine Lula-Regierung einschlagen würde. Dennoch behalten manche deutsche Medien bis heute die Sprachregelung bei, die Lula-Regierung sei links, gar sozialistisch. Inzwischen machte der Staatschef seinen Vize auch noch zum Verteidigungsminister.
--Kopfgelder auf Menschenrechtsaktivisten – Pistoleiro-Kultur--
Waldemar Rossi koordiniert in Sao Paulo die oppositionelle Arbeiterseelsorge - über dreitausend Kilometer entfernt im Urwald führt der französische Anwalt und Dominikaner Henri des Roziers in Xinguarà eine nicht weniger regierungskritische Bodenpastoral. Der katholische Menschenrechtsaktivist erhält wie sein französischer Kollege Xavier Plassat Morddrohungen – gemäß einer Todesliste beträgt das Kopfgeld für ihn umgerechnet rund dreißigtausend Euro, etwa doppelt so viel wie für Dorothy Stang. Roziers mußte deshalb rund um die Uhr zahlreiche Sicherheitsregeln beachten, bekam auf Druck der brasilianischen Menschenrechtsbewegung und des nationalen Anwaltsverbandes Ende Februar jedoch von der Regierung endlich Polizeischutz. „Wir haben hier viele Feinde, die überglücklich wären, wenn ich auch von der Bildfläche verschwände. Die Mächtigen Amazoniens hassen mich, weil ich als Anwalt viele Prozesse gegen gewalttätige Großgrundbesitzer, Pistoleiros, gerissene Bodenspekulanten begleitet, viele dieser Leute angezeigt habe. Meine Bodenpastoral kämpft vor allem gegen die verbreitete Sklavenarbeit – und das geht den archaischen Gutsherren stark auf die Nerven. Die Lage hier ist explosiv.“
Laut Roziers kann man in ganz Brasilien, besonders aber in den Nordregionen, mehrfach so groß wie Deutschland, sehr leicht einen Killer anheuern. Pistoleiro sei ein ganz normaler Beruf. „Nach zehn Jahren zähen Kampfes war es uns gelungen, daß mehrere berüchtigte Killer zu hohen Strafen verurteilt wurden, in Hochsicherheitsgefängnisse kamen. Aber alle konnten fliehen, teilweise durch die Hauptpforte, so wie viele, viele andere Pistoleiros. Und sie töten weiter!“ Auch für politische Morde gibt es in der Region von Anwalt Roziers eine feste Kopfgeld-Tabelle: Für Pfarrer, Landlosenführer, Politiker umgerechnet 5900 Euro, für einen Abgeordneten 4400 Euro, einen Gewerkschafter 2900 Euro – und 2300 Euro für den Kopf eines Pistoleiro, der als lästiger Zeuge unbedingt verschwinden muß.
„Großgrundbesitzer, die solche Verbrechen begehen wollen, fühlen sich völlig sicher, und wissen, daß sie niemals hinter Gitter kommen. Denn die Justiz funktioniert nicht, die Polizei ist untätig oder Komplize der Täter.“
Aber die mutmaßlichen Mörder von Dorothy Stang waren doch schon nach wenigen Tagen verhaftet worden? „Dieser Fall zeigt: Wenn die Lula-Regierung politischen Willen hat, solche Verbrechen aufzuklären, gelingt das auch. Bei der Missionarin handelte es sich um eine Nordamerikanerin, eine bekannte Persönlichkeit – deshalb machte Brasilia sofort mobil. Doch warten wir ab, ob es zu einem Prozeß kommt, Todesschützen und Auftraggeber tatsächlich verurteilt werden.“
--„Brasil arcaico“ im Aufwind—
Anwalt Roziers bedrückt, daß ausgerechnet jetzt Brasiliens Rechte im Kongreß und in der Regierung wichtige Positionen eroberte. Der Diktaturaktivist Severino Cavalcanti von der rechtskonservativen „Progressiven Partei“(PP) wurde in einem trickreichen Wahlverfahren zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt. Während des Militärregimes war Cavalcanti erbitterter Gegner des damals weltweit angesehenen Erzbischofs und Befreiungstheologen Helder Camara. Den aus Italien stammenden oppositionellen Priester Vito Miracapillo zeigte Cavalcanti bei den Diktaturgenerälen an und erreichte dessen Ausweisung. „Amazoniens Sklaven-Farmer“ so Roziers, „haben ihre Politiker im Parlament, der Druck gegen uns wächst. Wir wissen nicht, ob die Regierung deshalb nachgibt, unsere Arbeit weiter erschwert.“
Der Dominikaner betont, daß alle von der Bodenpastoral, und nicht nur er, bedroht sind. „Der beste Schutz für uns wäre eine funktionierende Justiz, eine echte Agrarreform zugunsten der Landlosen. Besser als Bodyguards“, sagt er mit Galgenhumor.
--„ Lulas Kabinett jetzt Mitte-Rechts-Regierung“—
Der Rechtsruck in Brasilia wirkte wie ein politisches Erdbeben. Staatschef Lula braucht die Rechte mehr denn je zum Regieren, für seinen neoliberalen Kurs, wie der renommierte Politikexperte Josè Murilo de Carvalho von der Bundesuniversität in Rio erläutert. „Sein Amt, das hohe Ansehen in der Ersten Welt haben Lula regelrecht berauscht, betört, fasziniert – doch inzwischen hat er viel von seinem Charisma verloren.“
Das nördliche Brasilien nennt auch Carvalho den „Wilden Westen“ des Tropenlandes. „Im Amazonasteilstaate Parà, wo man Dorothy Stang erschoß, wird nur in vier Prozent der Mordfälle überhaupt ermittelt, gibt es einen Prozeß. Da gilt kein Gesetz – und die Autoritäten sind alle verwickelt“.
Und aus jenem „Brasil arcaico“, dem archaischen Brasilien, stammen der neue Parlamentschef Cavalcanti, die von ihm auf Spitzenposten gehievten Gesinnungsgenossen. „Bedenklich ist, daß die Regierung jetzt ausgerechnet von den Leuten um Cavalcanti abhängig ist, ihnen mehr Macht und sogar Ministerposten geben muß. Nunmehr agiert Lulas Kabinett in der konkreten Politik als Mitte-Rechts-Regierung – denn die politische Basis ist ja jetzt rechts.“
In der politischen Hierarchie des Landes rangiert Cavalcanti nach Lula und seinem Milliardärs-Vize an dritter Stelle.
Politikexperte Carvalho erinnert daran, daß 2002 nicht die Arbeiterpartei, sondern Lula die Wahlen gewonnen habe, weil er ein Bündnis mit Figuren wie Josè Alencar einging, alle linken Positionen aus dem Wahlprogramm tilgte. Auch Lulas Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso, gar Ehrendoktor der FU Berlin, habe eine Mitte-Rechts-Regierung geführt.
Achtzig Prozent der Brasilianer, besagen seriöse Studien, halten die Politiker für unehrlich, korrupt, für Strauchdiebe. „Jetzt denken das die Leute noch mehr, sind gegenüber den demokratischen Institutionen noch mißtrauischer.“
Die PT-Führung erklärt, zur deutschen Regierungspartei SPD die engsten Beziehungen zu pflegen. Auch die Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung sei seit Jahren sehr intensiv.

Klaus | 25.02.05 17:41 | Permalink