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Banditen-Okay für Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil

"In Deutschland würde deshalb die Regierung gestürzt"
--Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Die offizielle Visite von Kulturminister Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini in dem von Banditenmilizen diktatorisch beherrschten Rio-Slum "Complexo da Marè" ist bei Intellektuellen des Landes auf scharfe Kritik gestoßen. Laut Landespresse hatte man von Regierungsseite die lokalen Verbrecherbosse der Favela um eine Besuchserlaubnis gebeten und diese auch bekommen. Zum Banditen-Okay gehörte natürlich, auf Polizeischutz völlig zu verzichten. "Ein Skandal erster Ordnung", betonte im Januar Professor Paulo Sergio Pinheiro, renommierter Experte für Gewaltfragen an der Universität von Sao Paulo auf Anfrage. "Geschähe derartiges in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, würde das im Parlament heiß debattiert, würde die Regierung gestürzt. Käme - rein hypothetisch - ein deutscher Minister auf die Idee, in Berlin auf gleiche Weise ein von Drogengangstern beherrschtes Viertel zu besuchen, gäbe das natürlich enorme Aufregung in der Politik!"

Doch in Brasilien passiere gar nichts, als wären Ministervisiten mit Banditenerlaubnis das Normalste von der Welt. Für Pinheiro und zahlreiche andere Sozialwissenschaftler wurde damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über ihren Parallelstaat der Armenviertel sozusagen offiziell anerkannt.
--Territorium des Terrors“—
Beide Minister hätten sich zudem im Slum von fünfzehn Männern unterstützen lassen, die just von den Banditenmilizen ausgesucht worden seien. „Die Gangsterkommandos verbreiten in ihrem Territorium des Terrors Angst, foltern und morden, beherrschen das gesamte Leben der Slumbewohner – alles toleriert vom Staat, von den Autoritäten.“ Durch Gil und Berzoini sei bestätigt worden, daß der brasilianische Staat große Teile seines Territoriums nicht mehr kontrolliere. Im „Complexo da Marè“, unweit des internationalen Flughafens, hausen immerhin mehr als 135000 Menschen.
Vor der Ministervisite sagten Favelados:“Wir sind Geiseln der Banditen, die im Gassenlabyrinth mit ihren chromblitzenden Maschinenpistolen patrouillieren, sich fast jede Nacht Gefechte mit rivalisierenden Kommandos liefern. Es ist die Hölle!“ Viele Hütten und Katen haben Einschüsse, immer wieder werden Unbeteiligte, sogar Kinder, durch verirrte Kugeln getötet.
Laut Pinheiro ist längst überfällig, diese Gebiete aus der Herrschaft des organisierten Verbrechens zu befreien. „Nicht nur die Slumbewohner leiden unter dem Terror, sondern auch die Bewohner der angrenzenden Viertel, die dortigen Geschäftsleute – auch diese werden bedroht. Alles nur möglich, weil ein geheimes Einverständnis der Polizei existiert.“ Nicht die Slumbewohner, sondern zuallererst Leute aus der Mittel-und Oberschicht Rios seien die Hauptkonsumenten harter Drogen wie Kokain – würden jedoch nicht zur Verantwortung gezogen.
Die Ministervisite mit Banditen-Okay ist für den Experten ein schlimmes Signal für die Favelados – nun wurde ihnen überdeutlich gezeigt, daß der Staat sie tatsächlich im Parallelstaat der Slums im Stich läßt. Gil und Berzoini hätten auf keinen Fall den Complexo da Marè unter diesen Umständen betreten dürfen. „Es ist evident, daß man nicht erwarten kann, daß die Slumbevölkerung rebelliert, für Menschenrechte kämpft – angesichts der mit Mpis und Granaten bewaffneten Banditenmilizen – die Favelados sind deshalb stark eingeschüchtert, oft ohne Bewußtsein der eigenen Rechte.“ Nur wegen der Mitschuld, Toleranz des Staates, der Autoritäten konnte laut Pinheiro überhaupt eine solche Lage entstehen.
--„Ein gravierender Fall“—
Josè Murilo de Carvalho, Historiker und Mitglied der nationalen Dichterakademie, verurteilt ebenfalls scharf, daß die Minister ausgerechnet mit berüchtigten Gangstern eine Abmachung trafen. „ Ein gravierender Fall – die Minister begingen einen schweren Fehler – alles unakzeptabel, durch nichts zu rechtfertigen, unvereinbar mit der Demokratie im Lande. Der Staat muß doch die Gesetze verwirklichen, solche Gangster dingfest machen. Stattdessen wurde das organisierte Verbrechen vom Staat als Parallelregierung, als Institution legitimiert – ein Eingeständnis der Schwäche, der Niederlage. Ein Eingeständnis der Schwäche, der Niederlage durch die Regierung. Leider kein Einzelfall - die lokalen und regionalen Autoritäten schließen mit den Gangsterbossen häufig solche Abkommen – das zeigt die Probleme unserer Demokratie, unsere Realität - ich bin tief pessimistisch, sehe keinerlei Lösung.“
Die bekannte Anthropologin und Slum-Expertin Regina Novaes aus Rio stellte in einem Interview klar, daß kein Nichtbewohner den Complexo da Marè alleine betreten darf, stets Abstimmungen nötig sind. „Die Lage war in Rio noch nie so gravierend wie heute.“ Was in den Slums geschehe, sei dem Rest der brasilianischen Gesellschaft so gut wie unbekannt.
Und Carlos Minc, Abgeordneter der Arbeiterpartei/PT im Teilstaat Rio erklärte:“In allen städtischen Regionen gibt es Slums, das organisierte Verbrechen und Gewalt. Aber in keiner Stadt gibt es soviele Zonen wie in Rio, die durch die wirtschaftliche und militärische Macht der Banditen kontrolliert werden – über Ausgangssperren, das Gesetz des Schweigens, die despotische Herrschaft über die Bewohnerassoziationen, die systematische Ermordung von Polizeibeamten.“ Minc, einer der angesehensten Umweltpolitiker Brasilien, wie zudem auf die verheerenden Konsequenzen der Banditendiktatur für den nationalen Umweltschutz. So werde die Einhaltung der Gesetze schlichtweg durch Gangsterkommandos verhindert. Slums entstünden auf Anweisung der Banditenbosse, die damit ihren Herrschaftsbereich erweitern, noch mehr Menschen kontrollieren.
--rätselhafter Musiker Gil—
In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist Gilberto Gil auch als Star der Weltmusik sehr bekannt. Seit seinem Amtsantritt holte er indessen zur Freude der Fans einen ganz alten, sehr sozialkritischen Song wieder hervor, singt ihn kurioserweise derzeit alle paar Tage bei Konzerten in Rio. „ Nos Barracos da Cidade“ setzt sich für die Rechte der Slumbewohner ein, beschreibt deren ausweglose Lage. “In den Hütten der Stadt“, heißt es da, „hat niemand mehr Illusionen über die Macht der Autoritäten, Maßnahmen zu ergreifen, sich den Haien entgegenzustellen, etwas für die Favelados zu tun. Die Profite sind hoch, doch niemand will davon etwas abgeben– obwohl doch nur ein kleiner Teil davon schon die Lösung bringen könnte. So viele stupide, scheinheilige Leute...“ Und immer wenn die Stelle mit dem bösen System kommt, das Nein sagt zu sozialen Verbesserungen für die Slumbewohner, hebt Gil betonend, anklagend den Zeigefinger in die Höhe. Nach seiner Slumvisite wirkt der Text auf manche wie böse Ironie, denn der begnadete Musiker gehört ja jetzt zum System, ist einer von den Autoritäten...
Des Kulturministers Tochter, die bekannte Schauspielerin und Sängerin Preta Gil, spricht indessen anders als der Vater die Zustände offen an:“Die Polizei ist korrumpiert, die Regierung ist korrumpiert, nicht nur die Slums werden von der gutorganisierten Drogenmafia beherrscht. Alle sind doch verwickelt! Das ändert sich nie mehr, ist zu tief verwurzelt. Niemand tut etwas – die Gewalt verfestigt sich immer mehr.“
Gemäß einer neuen seriösen Studie halten achtzig Prozent der Brasilianer die Politiker des Landes für unehrlich, 51 Prozent für inkompetent. Und 66 Prozent denken, daß den Politikern die öffentliche Meinung völlig egal ist.

Klaus | 20.01.05 02:34 | Permalink