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Brasiliens neue engagierte Kunst

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Schonungslos und schockierend wie nie zuvor kritisieren immer mehr Künstler die tiefe sozialökonomische Krise ihres Landes - und haben damit sogar kommerziellen Erfolg. Filme, Theaterstücke, Raps wollen politisieren, polemisieren, polarisieren. Staatschef Lulas "Neoliberalismo" wird immer schärfer attackiert.

Über ein Jahrzehnt lang galt engagierte Kunst in Lateinamerikas „größter Demokratie“ als out – jenes kleine Häuflein, das davon einfach nicht lassen wollte, wurde von den tonangebenden Medien ausgelacht, fertiggemacht, hatte nicht einmal mehr an den Universitäten ein nennenswertes Publikum. Ausnahmen bestätigten die Regel. Kulturkonsumenten aus Mittelschicht und Intelligentsia zogen es mehrheitlich vor, die sich zuspitzende sozialökonomische Krise des Riesenlandes zu verdrängen. Was sich immer bedrohlicher an den Peripherien der Millionenstädte, in den Ghettos der Bevölkerungsmehrheit zusammenbraute, wurde ausgeblendet. Das scheint bis auf weiteres vorbei – die Fronten in Brasiliens „Guerra nao-declarada“, dem nichterklärten Bürgerkrieg, rücken immer näher an die Viertel der Schicken, Reichen, Hochgebildeten heran. Die Erfolgsgeschichte des Streifens „City of God“, der 2004 als erster brasilianischer Spielfilm gleich viermal für den Oscar nominiert wurde, zeigt es beispielhaft. Das Kuriose, aber so Typische – alle vier brasilianischen Oscar-Anwärter, durchweg hellhäutige Mittelschichtler, hatten gar nicht lange vor Drehbeginn noch keine Ahnung von der Filmmaterie, nämlich den barbarischen, unmenschlichen Zuständen, der neofeudalen Herrschaft zumeist jugendlicher Banditen in brasilianischen Slums. Regisseur Fernando Meirelles gab das in Interviews offen zu. Erst der fesselnde Romanerstling „Cidade de Deus“ des Schwarzen Paulo Lins über ein real existierendes Elendsviertel von Rio öffnete ihm die Augen. „Das Buch nahm mich vollkommen gefangen: Ein Strudel der Gewalt, unauflösbar scheinende Teufelskreise. Ich war überrascht, Leute wie ich, aus dem Mittelstand, sind sich gar nicht bewußt, daß es so einen Pfuhl in unserer Nähe gibt.“
Cidade de Deus, inzwischen in über zwölf Sprachen verlegt, wurde Drehbuchvorlage für „City of God“. Doch da auch die brasilianischen Feuilleton-Kritiker meist realitätsfremde Mittelschichtler sind, verrissen sie den Film sofort als „schädlich, schlecht, reißerisch, unrealistisch“ – in drei Monaten werde sich kein Mensch mehr an „City of God“ erinnern. Nur zu typisch für Brasiliens soziale Apartheid, analysierte Paulo Lins im Interview – die oben wissen nicht, wollen nicht wissen, wie die unten, immerhin die übergroße Bevölkerungsmehrheit, leben, überleben. Auffallend, daß selbst manche progressiven bis linksstehenden, drittweltbewegten Europäer, die regelmäßig Brasilien bereisen, den Streifen als „überdreht gewalttätig, unrealistisch, sensationalistisch“, als unpolitischen Thriller einstuften. „Wichtig ist doch gerade, daß dieser Film die bisher so gerne versteckte Realität zeigt und sogar weltweit in den Kinos läuft“, so Lins, der sich seit jeher zur Linken zählt. „Daher wird sich die brasilianische Gesellschaft für diesen Film schämen – und die Regierung muß etwas unternehmen. Denn die Gewalt im Lande ist eben nicht nur ein Fall für die Polizei. Hier geht es um Menschenrechte, um eine kraß ungerechte Einkommensverteilung. Wie wollen wir die Gewalt beseitigen, wir nicht die Misere, den Hunger abschaffen? Brasilien stirbt noch mal an dieser Indifferenz. Nach diesem Film wird man Brasilianer im Ausland fragen: Wußtest du von diesen Zuständen? Und sie werden antworten müssen: Nein, ich wußte nichts davon. Wenn einer im Ausland sagt, ich bin Brasilianer, wird er hören: Ich habs gesehen, ein Scheißland.“
„City of God“ machte im Herkunftsland Furore, wurde heiß diskutiert, erschütterte einen Großteil des Publikums wie keine andere Produktion zuvor. Und – wie immer, wenn brasilianische Kunstproduktionen unerwartet in der Ersten Welt hervorragend bewertet werden, zog die einheimische Kritik schließlich gleich. Arnaldo Jabor, Cineast, zudem einer der wichtigsten Kolumnisten, gab den Ton an, nannte den Film ein wichtiges nationales Ereignis - „er wird für immer unser Geheimnis enthüllen: Wir sind eines der grausamsten Länder der Welt. Cidade de Deus zeigt, daß die Hölle hier ist, hinter Ipanema und Jardins. Dieser Film demaskiert uns für immer.“
Die Oscar-Nominierung nahmen engagierte Künstler, vor allem jene Regisseure als zusätzlichen Ansporn, die den brasilianischen Film aus seiner tiefen Krise holten, das skeptische Publikum seit dem letzten Jahr mit einer ganzen Reihe guter bis hervorragender - und durchweg sehr gesellschaftskritischer Streifen zurückeroberten. 2003 sahen insgesamt 22 Millionen Brasilianer einheimische Streifen, 200 Prozent mehr als 2002. Die rund 1800 Kinos des Tropenlandes müssen ab 2004 brasilianische Filme doppelt so lange auf dem Spielplan lassen als bisher, dekretierte Kulturminister Gilberto Gil. Die meisten haben eines gemeinsam:“Sie zeigen die sozioökonomische Degradierung der brasilianischen Städte, erfüllen eine soziale, didaktische Funktion“, betont Arnaldo Carillho, Präsident des wichtigen Verleihs „Rio-Filme“.
Und auch in Deutschland trennten sich Zuschauer bereits durch Filme wie „Central do Brasil“ von sozialromantischen Brasilienklischees.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst/DAAD bewies Gespür, lud den Schwarzen Paulo Lins sofort - schließlich d i e literarische Entdeckung der letzten Jahre in Brasilien - für mehrere Monate nach Berlin ein, finanzierte ihm den Aufenthalt – so wie einer ganzen Reihe anderer brasilianischer Schriftsteller vor ihm. Die waren indessen alle bereits gestandene, bekannte Autoren Brasiliens, alle weiß und aus der Mittelschicht.
„Dreißig Jahre habe ich in der Gottesstadt gelebt, ohne Zutritt zu irgendeiner anderen sozialen Klasse, zur Mittelschicht. Ich hatte richtig Angst, durch Copacabana, Ipanema zu gehen - fühlte mich ausgeschlossen, richtig unwohl, direkt schlecht – ich spürte Angst. Die Leute dort schauten mich so anders an – aha, ein Slumbewohner. Das geht mir bis heute so – ich fühle immer noch diesen Rassismus.“
Jetzt wohnt Paulo Lins, Anfang vierzig, mit der Familie in einer guten, geräumigen Wohnung – oben im grünen Bergstadtteil Santa Teresa – Kolonialhäuser, kleine Paläste, malerische, romantische Straßen und Gassen. Doch wieder mal trügt der Schein, wie so oft in Rio. Das Haus von Paulo Lins grenzt fast unmittelbar an Slums – ich höre Mpi-Salven, den kurzen, trockenen Knall von Pistolenschüssen, abgefeuert von rivalisierenden Banditenmilizen des organisierten Verbrechens. Sie terrorisieren auch die Slumbewohner, wie in der Cidade de Deus. Immer wieder werden in Santa Teresa, unweit der Residenz des deutschen Generalkonsuls, sogar Menschen lebendig verbrannt, in Stücke gehackt. Paulo Lins kennt das alles aus der Nähe - kein anderer Schriftsteller ist Insider wie er, kritisiert die Zustände schärfer, schonungsloser:
„Gewalt gibts überall auf der Welt – aber hier erfaßt sie schon die Kleinsten. Brasilien mordet seine Kinder seit vielen, vielen Jahren – und macht bereits Kinder zu Mördern. So viele tote Minderjährige, nie gezählt, nie registriert – die sterben schlimmer als die ärmsten Teufel. Erst die Sklaven, die Indianer – und heute die Schwarzen, Mischlinge. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat.“
Etwa 45000 Menschen werden jährlich umgebracht, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Und meist trifft es trifft es Kinder, Jugendliche, weit mehr als in den aktuellen Konfliktherden wie Nahost oder Afghanistan.
An Fakten, wirklichen Ereignissen orientiert, zeigt Paulo Lins all das aufwühlend, analysierend im Buch – und auch im Film, an dem er mitarbeitete.
--Verantwortung der Eliten—
Andere brasilianische Schriftsteller hätte man als Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter beschimpft – mit Paulo Lins war man vorsichtig.
“Ich bekam nur ganz wenige negative Kritiken – weil das Buch eben hinter die Kulissen schaut, geschrieben von einem der dort lebt – das war ja das Interessante – das gab es noch nie. Die Schriftsteller heute sind doch alle aus der Mittelschicht – nur ich stamme aus dieser Misere. In Wahrheit habe ich dieses Buch geschrieben, um den Eliten zu sagen – das ist euer Werk, ihr wart das, ihr seid dafür verantwortlich. Die Geschichte dieses anderen Brasiliens wurde bisher nur mündlich weitergegeben – das ist jetzt vorbei, ab jetzt wird man darüber schreiben, öffentlich reden – ich habe schon `Nachfolger´.“
Ob das Buch von Paulo Lins auch in Deutschland herauskommt – bisher schwer zu sagen. Kritiker, Rezensenten, Feuilletonredakteure mit echter, nicht klischeehafter Sensibilität für Brasilianisches sind nach wie vor die ganz große Ausnahme, mehr denn je. Ein Verlagskritiker lehnte den Roman ab:“Das alles ist ungemein grausam und schrecklich(und oft anschaulich geschildert), und trotzdem hat es mich kalt gelassen...Das ständige Fortissimo wirkte auf mich eher ermüdend...Was dabei herauskommt, ist ein Realismus um jeden Preis, ein Realismus, der sich seines fiktiven Charakters nicht bewußt ist und deshalb immer wieder ins Klischee abgleitet. So sind die Handlung und die agierenden Personen in höchstem Maß vorhersehbar und bestätigen nur, was man vorher zu wissen meinte.“ Paulo Lins scheitere an seinem überzogenen Anspruch.
„In Deutschland erwarte ich solche Reaktionen“, sagte Paulo Lins, „widerspreche aber diesem Kritiker. Denn ich habe das alles gelebt, erlebt, zuvor in der Cidade de Deus für eine Gewalt-Studie sogar wissenschaftliche Recherchen angestellt, alles im Roman stark vertieft.“ Immer noch gibt es Verlagsprobleme – eine erste und auch eine zweite Übersetzung hätten die Slumsprache leider nicht stimmig-korrekt wiedergegeben, seien deshalb von seinem Literaturagenten abgelehnt worden.
Eine Bemerkung von Paulo Lins macht besonders nachdenklich:“Würde ich die Realität wirklich so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren.“ Auch der Film zeigt schließlich keine lebendig Verbrannten, Geköpften, Zerstückelten.
Ein Teil des Publikums reagiert wie üblich: In Sao Paulo und Rio de Janeiro wird der eigentlich tief bedrückende Streifen auch in den Kinos der Mittelschicht und Intelligentsia immer wieder von Lachsalven unterbrochen – für Feuilletonkritiker ein Hinweis auf die fortdauernde Indifferenz der Bessergestellten gegenüber dem Leben der Slumbewohner. „Die Mittelschicht lacht im Dunkel der Kinos, als ob der Film eine hyperrealistische Story über einen frei erfundenen Ort wäre, ohne jeglichen Bezug zu Brasilien“, schreibt Rio de Janeiros auflagenstärkste Qualitätszeitung „O Globo“.
Fast alle Darsteller sind Laien, stammen aus den Favelas von Rio – Paulo Lins hat sie mit ausgesucht, geschult. Jetzt alle wieder wegschicken, in den Slums ihrem Schicksal überlassen, dankeschön, tschau, das wars – nicht die Art von Paulo Lins. Er gründete die NGO „Wir vom Film“, mit zweihundert eingeschriebenen Kindern und Jugendlichen, will möglichst alle bei TV und Film unterbringen – als Schauspieler, Fotografen, Maskenbildner, Soundtechniker. „Alle sind furchtbar arm, wir fördern die in der Schule, helfen ihnen, kritisches Bewußtsein zu erwerben – der Film öffnet ihnen ein Universum!“ Das klappt bisher geradezu hervorragend – einige machen in neuen Filmen, Fernsehserien richtig Karriere.
Doch die Branche, die ganze Szene drumherum wird nur von Weißen, meist aus der Mittelschicht, beherrscht – „die ganze Struktur ist nur für Weiße gemacht“. Deshalb gibt es jetzt krachende Kollisionen, wenn Lins mit seiner „Turma“ auftaucht. „Diese jungen Schauspieler waren einfach wundervoll, haben alle überrascht. Wir bringen jetzt hochtalentierte Schwarze auf diesen Markt, ins Filmgeschäft. Und jetzt sind die Weißen über uns erschreckt – wissen nicht, wie sie reagieren sollen, sind richtig perplex. Denn wir ändern die Realität des brasilianischen Kinos, des Fernsehens, sind sogar schon bei TV Globo, der größten Anstalt! Wir öffnen uns die Türen, nach „City of God“, in den größten Verleihen der Welt, muß man sich um die jungen Darsteller kümmern, sie einstellen – und pronto!“, sagt Paulo Lins, unverbesserlich optimistisch.
Daß er mit Regisseur Fernando Meirelles weiterhin in den Slums dreht, störte ausgerechnet die Polizei – weil von den Chefs der hochgerüsteten Banditenmilizen vorher erst das notwendige Okay eingeholt werden mußte, wurden Ermittlungen eingeleitet. „Scheinheilig“, reagierten die Medien, jedermann wisse, daß niemand ohne Einwilligung der Gangsterbosse eine Favela betreten dürfe. „Dieselbe Polizei besitzt Telefonmitschnitte, in denen Wahlmanager von Politikern die lokalen Banditen darum bitten, Kandidatenwerbung zu verteilen.“
Laut Meirelles mußte vor den Slum-Dreharbeiten von „City of God“ dem Milizenchef der betreffenden Favela sogar das Drehbuch zur Abnahme vorgelegt werden. Bizarre Brasilien-typische Probleme gab es jedoch, weil später entgegen den Absprachen Polizisten in den Slum eindrangen, zwei Banditen entführten und für deren Freilassung umgerechnet über dreitausend Euro verlangten. Die Gangsterbosse forderten daraufhin das Filmteam auf, das Lösegeld zu zahlen. Notgedrungen sammelte man unter den Mitarbeitern Geld, die Banditen kamen frei, es konnte weitergedreht werden. Und die Medien fragten: Wieso eigentlich ist die Polizei unfähig, einem Filmteam die Sicherheit zu garantieren?
Hat die neue engagierte Kunst bereits irgendwelche konkreten Auswirkungen, bewegt sie etwas in der Gesellschaft? Bisher so gut wie nichts. Auch der Film „Carandiru“ über die unhaltbaren Zustände in den total überfüllten Haftanstalten war 2003 ein Renner. Doch 2004 kommt heraus, daß sich in Lulas erstem Amtsjahr die Lage in den Knästen gravierend verschlechtert hat, als „explosiv“ eingestuft wird, doppelt soviele Haftplätze fehlen wie 2002, man dennoch weiter Zehntausende in bereits volle Zellen pfercht.
Auch Paulo Lins und Fernando Meirelles sind frustriert: Nach dem Filmstart von „City of God“ in Brasilien wurden die jugendlichen Hauptdarsteller sogar von Staatschef Lula empfangen, versprachen gleich sieben Ministerien soziale Verbesserungen in der Cidade de Deus von Rio. Inzwischen alles wieder vergessen.
„Lula und sein Zivilkabinettschef Jose Dirceu haben keine soziale Sensibilität“, urteilt der wegen Kritik an der neoliberalen Linie geschaßte Bildungsminister Cristovam Buarque - Lulas populistische Reden, Versprechungen sind für zunehmend mehr Brasilianer nur noch leere Rhetorik. „Im In-und Ausland sagt er immer dasselbe“, kontert Kardinal Geraldo Agnelo, Präsident der Bischofskonferenz, „doch die Wirklichkeit sieht anders aus.“ Und der ebenfalls mit fadenscheinigen Vorwänden entfernte Staatssekretär für Öffentliche Sicherheit, Luiz Eduardo Soares, wirft Brasilia vor, die gravierende Lage in den Slums hinzunehmen.“Die Regierung bleibt untätig angesichts eines wahren Genozids an jungen Schwarzen, Armen der Favelas und Problemdistrikte!“
Bezahlte Killer morden serienweise Gewerkschaftsführer, Indios und sogar mit der Sklavereibekämpfung befaßte Beamte des Arbeitsministeriums – Filme über Brasiliens nach wie vor sehr aktive Pistoleiros werden auch auf deutschen Festivals gezeigt. Doch Brasilia sitzt all diese Probleme aus, kürzt sogar die Mittel für öffentliche Sicherheit. Vielbeschäftigte neue Drehbuchschreiber wie Paulo Lins dürften sich schon bald auch der grassierenden Kinderprostitution annehmen – im Teilstaat Ceara verkaufen sich Mädchen an einheimische Männer derzeit bereits für umgerechnet einen Euro fünfzig Cents.
Auch der Präsidentenpalast taugt womöglich irgendwann als Schauplatz eines Politkrimis: Seit Juni 2003 forderte Brasiliens Bundespolizei laut Presseberichten vergeblich weitreichende Ermittlungen gegen den hochgestellten Palastbeamten Waldomiro Diniz, wegen des Verdachts der Mittelabzweigung sowie seiner Beziehungen zur einheimischen und sogar italienischen Mafia. Der schwerreiche berüchtigte Diniz – rechte Hand von Zivilkabinettschef Dirceu, dessen langjähriger Freund, Kumpel. Dirceu, der ihm den Posten verschafft hatte, wiederum rechte Hand Lulas. Im Februar 2004 flog Diniz schließlich auf, mußte über Nacht entlassen werden, nachdem die Medien enthüllten, daß er bereits im Wahlkampf von 2002 bei einem Glücksspiel-MafiosoWahlgelder für Politiker aus Lulas Arbeiterpartei eingetrieben sowie ein hohes Bestechungsgeld für sich selber ausgehandelt hatte. Und die Glücksspiel-Mafia ist in dem Tropenland traditionell mit dem organisierten Verbrechen verquickt. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse läßt Lula indessen mit allen Mitteln verhindern, auch dieser Skandal soll wie alle bisherigen unter den Teppich gekehrt werden.
Im Palast dürfte sein Berater und Zimmernachbar Frei Betto, Befreiungstheologe, Romanautor, ebenfalls Stoff für einen weiteren Polit-Thriller sammeln. Denn gegenüber der Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ beschrieb er jetzt, wie in Brasilia Politik gemacht wird: Speichelleckerei, Inkompetenz, Prinzipienverrat, Effekthascherei, gröbste Lügen, Krokodilstränen, Wiederholung alter politischer Sünden, Irritationen über eingeforderte Wahlversprechen und Kritik. Worten folgten nicht notwendigerweise Taten. Und wie zugeschnitten auf den Korruptionsskandal um Waldomiro Diniz: In die Politik steige man ein „ohne Prüfung der Kompetenz, fordert man kein Attest moralischer Integrität – in dieser Suppe der Gewählten vermischen sich Ehrliche und Gerissene, Rechtschaffene und Korrupte.“
Auch Autor und Kolumnist Gilberto Dimenstein, von dem Bücher in Deutschland verlegt wurden, macht sich indessen keine Illusionen, daß, etwa angetrieben von der veröffentlichten Meinung, engagierter Kunst, die Bevölkerung angesichts von Rekordarbeitslosigkeit, schrumpfenden Einkommen, rasch wachsenden Slums unruhig werden, rebellieren könnte. Dimenstein weist vor allem auf den niedrigen Bildungsgrad der Massen:“Unser funktioneller Analphabetismus ist das Schlimme. Brasilien ist ein Land der Analphabeten. Die Leute verstehen nicht, was sie im Radio hören, was in der Zeitung steht. Die meisten lesen ohnehin keine Zeitung. In Argentinien wird die Bevölkerung in Krisenzeiten gewöhnlich aktiv, weil das Bildungsniveau dort eben viel höher ist.“
Nur fünfundzwanzig Prozent der Brasilianer können laut neueren Studien wirklich lesen und schreiben, einen Zeitungs-oder Buchtext auch verstehen.

Klaus | 10.09.04 04:02 | Permalink