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Brasiliens Jugend

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--

Wie denkt, wie fühlt die Jugend des größten lateinamerikanischen Landes? Erstmals liegt darüber jetzt eine repräsentative Studie vor, die mit vielen landläufigen Klischees und Fehlurteilen, die auch in Europa existieren, aufräumt. Brasiliens junge Menschen sind konservativer, weit weniger rebellisch und liberal, als häufig angenommen, zeigen starken Familiensinn, steigende Religiosität. Tendieren politisch zur Mitte und nach rechts, nicht anders als der Rest der Bevölkerung.

Fernsehbilder aus Brasilien zeigen häufig extrem lebenslustige, amüsierwütige, sexuell sehr freizügige, tolerante junge Leute im Sambarhythmus, karnevalsbegeistert, politisch aufgeschlossen. Die Jugendstudie rückt da einiges zurecht. In vielem unterscheiden sich nämlich die Jüngeren kurioserweise kaum von den Älteren – sogar im Musikgeschmack. Staatschef Lula, fast sechzig, hört seit jeher nicht etwa feurige Sambas, sondern am liebsten die ultraromantischen, hypersentimentalen Balladen der in Deutschland fast unbekannten Sertaneja-Musik, mag am meisten das Sertaneja-Duo Zezè di Camargo & Luciano.
Und siehe da, gemäß der neuen Studie mögen die jungen Leute zwischen fünfzehn und vierundzwanzig genau dasselbe, sind verrückt nach diesen Sertaneja-Stars – Samba war in Brasilien schließlich noch nie tonangebend. Soziologe Gustavo Venturi aus Sao Paulo hat die Untersuchung geleitet, betont den gewachsenen Familiensinn der jungen Generation – 98 Prozent vertrauen am meisten den Eltern, den Geschwistern, nehmen die eigene Familie, sehr, sehr wichtig. “Heute ist der Generationenkonflikt in den Familien viel schwächer als früher, weil die Eltern bestimmte Werte und damit ihr Verhalten änderten, den jungen Leuten entgegenkamen. Und angesichts von Rekordarbeitslosigkeit, von soviel Gewalt im Alltag ist die Familie einfach der sicherste Hafen, lebensnotwendig. Die Jugendlichen wollen keineswegs so früh wie möglich aus dem Haus, nicht nur, weil ihnen dafür das Geld fehlt. Drei von vier Brasilianern dieser Altersgruppe arbeiten bereits oder suchen Arbeit – junge Brasilianer findet man also nicht etwa hauptsächlich in der Ausbildung, in den Universitäten. Ihr gravierendstes Probleme ist Arbeitslosigkeit, gefolgt von Gewalt, der sie besonders in den Großstädten extrem ausgesetzt sind. Die UNO hat ja gerade wieder konstatiert, daß in Brasilien mehr Menschen durch Gewalt umkommen als auf den derzeitigen Kriegsschauplätzen dieser Welt.“
Mehr sogar als im Irakkrieg - letztes Jahr beispielsweise über 45000 Personen, getötet durch Feuerwaffen.
Wie die Jugendstudie weiter aussagt, sind 81 Prozent gegen die Freigabe von Drogen wie Cannabis, sogar 86 Prozent für Rauschgiftkontrollen an den Schulen. Die meisten sehen aber auch die Drogenkonsum zuerst als Problem der öffentlichen Gesundheit, nicht der Polizei. Zwei Drittel wollen die Absenkung der Strafmündigkeit auf sechzehn Jahre. Die große Mehrheit ist außerdem gegen zivilrechtliche Verbindungen gleichgeschlechtlicher Paare. Im Macholand Brasilien würden Homosexuelle deutlich abgelehnt, sagt Soziologe Venturi, doch nur eine kleine Gruppe Radikaler befürworte auch Gewalt gegen Schwule. Manche Angaben müßten jedoch relativiert werden. “Daß achtzig Prozent der jungen Leute gegen den Schwangerschaftsabbruch sind, der ja in Brasilien eine Straftat ist, liegt am starken Einfluß der Kirchen. Doch viele Frauen lassen dennoch heimlich abtreiben, und sind weiter für die Kriminalisierung. Da sieht man den hohen Grad innerer Konflikte in der Bevölkerung. Und weil unter meist sehr prekären Bedingungen abgetrieben wird, ist die Todesrate sehr hoch.“
Und der Sex? 63 Prozent schliefen zuletzt mit jemandem, zu dem sie in einer stabilen Beziehung standen, die von den allermeisten gewünscht wird.
In einer idealen Gesellschaft sollte gemäß den Befragungen Respekt vor Gott an der Spitze der Werteskala stehen, gefolgt von Rücksicht auf die Umwelt und Chancengleichheit. “Die brasilianische Gesellschaft wird wieder spiritueller, was aber nicht notwendigerweise heißt, daß sich die jungen Leute wieder mehr den Kirchen anschließen. Im größten katholischen Land nennen sich nur 65 Prozent dieser Altersgruppe katholisch, viele gehen zu Sekten. Doch schon zehn Prozent sagen, ich bin religiös, glaube an Gott, habe aber keine Religion. Und nur ein einziges Prozent nennt sich atheistisch.“ Das meistgelesene Buch – die Bibel.
Und die politische Kultur, die politischen Einstellungen? Rund die Hälfte zählen sich zur politischen Mitte, einundzwanzig Prozent zur Rechten, sechzehn Prozent zur Linken. „Wegen des geringen Bildungsgrades ist indessen vielen nicht klar, was Rechts-oder Linkssein exakt bedeutet. Bei der Frage Demokratie oder Diktatur haben sich nur 53 Prozent, also eine schwache Mehrheit, bedingungslos für die Demokratie ausgesprochen, während 16 Prozent unter bestimmten Umständen die Diktatur vorziehen. Besonders bedenklich, daß es 22 Prozent der jungen Leute schlichtweg egal ist, ob sie in einer Demokratie oder in einem autoritären Regime leben.“ Gemäß UNO-Angaben vom April wollen heute nur etwa fünfzig Prozent der Lateinamerikaner die Demokratie statt eines autoritären Regimes. Dieses wäre immerhin 54,7 Prozent lieber, falls es ihre wirtschaftlichen Probleme lösen könnte. Und immerhin 43,9 Prozent der Lateinamerikaner meinen, daß durch Demokratie die Probleme ihres Landes nicht bewältigt werden können.
Befragt nach Idolen, nannten die allermeisten jungen Leute Musiker wie das Sertaneja-Duo Leandro & Leonardo, gefolgt von Renato Russo, Sandy & Junior und Roberto Carlos. Idole sind ferner die blonde Sängerin und Schauspielerin Xuxa, der tödlich verunglückte Rennfahrer Ayrton Senna. Nur ganze zwei Prozent nannten ein politisches Idol – Lula, gefolgt von Chè Guevara und Fidel Castro, jeweils ein Prozent, dann Mario Covas und George Bush. Nur 38 Prozent befürworten die Politik der Lula-Regierung. „Das Vertrauen in Politiker und Parteien ist sehr niedrig.“

Klaus | 01.09.04 04:46 | Permalink