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Auf Dich kommt es an, nicht auf alle!

Der Wahlerfolg der neofaschistischen Parteien
wird das politische System dieser Bundesrepublik
nicht erschüttern. Die Theorie
der Regierungsparteien steht schon fest: die
Anti-Hartz-Proteste haben einen Populismus
befördert, der nun den Rechten den Weg bereitet
hat. Tatsächlich steht der Wahlerfolg von
NPD und DVU aber am Ende der erfolglosen
Proteste. Kaum einer glaubt mehr, Hartz IV sei
zu verhindern. Wir brauchen Strategien über
den 2. Oktober und über den 1. Januar 2005
hinaus. Für die Protestbewegung im Osten ist
es höchste Zeit zu einer Besinnung. Denn die
Wochen der großen Sprüche von Kanzlersturz
und „breiter Volksbewegung“ sind vorbei.

Warum nehmen die Teilnehmerzahlen der Demonstrationen
ab? Wie ist die Lage der Proteste
vor Ort in der 6ten, 7ten, teils 8ten Woche?
Warum gelingt es den Neonazis, sich auf Demos
zu halten? Wo sind Verbündete zu finden?
Wie sind die Chancen für eine Mobilisierung
im Westen? Was können wir mit den Gewerkschaften
erreichen, die die Kollegen selbst in
unmittelbar betroffenen Bereichen nur noch
zum geordneten Rückzug zusammenbringen?
Was machen wir mit der großen Spaltung, daß
nämlich die Arbeitslosen demonstrieren können,
bis ihnen die Beine abfallen – während die
Beschäftigten zusehen, wie sie die wöchentliche
Maloche hinter sich bringen? Es geht um
den Inhalt der Proteste, und nicht darum, wer
am lautesten oder am schnellsten ist. Solidarität
ist eben nicht selbstverständlich, schon gar
nicht unter den Betroffenen von Arbeitszwang
und Sozialkürzung.
Die richtige Richtlinie, die alle diese Fragen
korrekt beantwortet, hat keine der heute aufru-
fenden Gruppen und keiner der Demonstranten
in der Schublade oder auf den Lippen. Es
ist nicht angenehm, das zuzugeben. Die Versuchung
ist daher groß, die Widerstände einfach
zu ignorieren und die Flucht nach vorn anzutreten.
Dies ist die alte SED- Strategie (und
Strategie anderer führender Parteien), die „unseren“
Menschen die Fragen und Widersprüche
nicht zumuten will, die einfache, „klare“ Lösungen
anbietet, weil die realen Probleme für
die „einfachen“ Menschen zu kompliziert sind
und uns arme Dummköpfe nur verwirren können.
Es gibt aber auch den anderen Weg, der
die unausweichlichen politischen Konflikte, die
unterschiedlichen, auch falschen Antworten,
die gegensätzlichen, auch gefährlichen Positionen,
die auf der Straße, hier unter uns anzutreffen
sind, nicht wegredet oder ignoriert.
Nicht in einem stalinistischen Geschichtsfahrplan
irgendwelcher „Marxisten-Leninisten“
sind historisch notwendig die nächsten Schritte
vorgeschrieben, so daß wir nur noch brav
folgen müssen. Im Gegenteil: Es reicht nicht,
mehr oder weniger richtige Forderungen an
„die da oben“ zu richten. Die erste Forderung
geht an uns selbst: die Bildung handlungsfähiger
Gruppen, in denen die Einzelnen nicht eingereiht
werden, sondern zusammenarbeiten
können. Es geht um politische und soziale Organisationen,
in denen die Erfahrungen ermü-
dender Konkurrenz und alltäglichen Klassenkampfes
verarbeitet werden können. Mit denen
ist dann auch den Nazis zu begegnen.
»Wenn du sowohl den Feind als auch dich
selbst kennst, kannst du ohne Gefahr hundert
Kämpfe ausfechten. Wenn du nicht den Feind
und nur dich selbst kennst, kannst du siegen
oder geschlagen werden. Wenn du sowohl den
Feind als auch dich selbst nicht kennst, wirst
du in jedem Kampf eine Niederlage erleiden.«
(Sun Zi: Über die Kriegskunst)

Sebastian Gerhardt
Haus der Demokratie und Menschenrechte

Quelle: telegraph Sonderausgabe #2
http://www.telegraph.ostbuero.de/aktuell.htm

A.S.H. | 20.09.04 12:16 | Permalink