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Bauhaus am Zuckerhut

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

Stiftung weiht in Rio-Slum ein Medien-und Kulturzentrum ein
Eine bizarre Situation: Drinnen im vierstöckigen „Nucleus“ spricht Bauhaus-Direktor Omar Akbar zu hunderten Slumkids, die euphorisch kreischen und jubeln – direkt davor auf dem Platz vor der großen Glasfront stehen jugendliche Banditen, die Mpi lässig umgehängt und verkaufen massiv harte Drogen. Kurz vor der Einweihung Anfang Juli durch Akbar und Politiker der Präfektur wird unweit ein fünfjähriger Junge durch eine verirrte Kugel getötet, ein anderes Familienmitglied schwer verwundet.

Die Festivität wird dadurch nicht im geringsten überschattet – eine Sambaband spielt auf, lachende Gesichter allerorten. Mit welcher Begeisterung die Kinder der Favela Jacarezinho den Nucleus, und besonders dessen Internetcafè regelrecht stürmen, ist beinahe unbeschreiblich. Daß auch Jacarezinho von Banditenmilizen beherrscht wird - toleriert, hingenommen von den Autoritäten, offiziellen Menschenrechtsbeauftragten der Lula-Regierung – na und? Erschreckend für intellektuelle Schöngeister aus Europa, mit sozialromantischen Ideen über Brasilien – völlig normal für Kinder, Erwachsene in Jacarezinho, alles soziokulturell verwurzelt. „Wir verstehen uns gut mit den Banditen“, sagt ein Bewohnervertreter, „die wollen ja auch, daß es mit der Favela voran geht – die haben ja auch Kinder und wollen daher soziale Projekte.“ Omar Akbar wundern solche Äußerungen nicht. „An solchen Orten finden wir grenzenlose Widersprüchlichkeit, eine gefährliche Dramatik, mit der sich niemand beschäftigt“, so der in Afghanistan geborene, in Deutschland aufgewachsene Bauhaus-Direktor, „ein allgemeines Phänomen.“ Die Banditen, nicht wenige mit NATO-Heereswaffen selbst deutscher Marken ausgerüstet, sind Herren über Leben und Tod, halten ein neofeudales Schreckensregime aufrecht, verhängen Ausgangssperren, Staat und Eliten schauen zu: Eine junge Frau aus Jacarezinho wird verdächtigt, der Polizei Informationen zu liefern – man hackt sie zur Abschreckung in Stücke, eine andere Frau wird auf ähnliche Weise liquidiert. Die Favela-Bewohner sind Geiseln der Banditen des global vernetzten organisierten Verbrechens – die brasilianischen Bauhaus-Mitarbeiter, die Stadtverwaltung müssen mit den Gangsterbossen verhandeln, brauchen deren Okay für sämtliche Projekte. Ein ethisch-moralisch sehr heikles Problem, auch für ausländische Sozial-NGOs. Akbars Stiftung – immerhin getragen vom Bund, dem Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Dessau. „Das Bauhaus hatte mit der Drogenmafia direkt nichts zu tun – sämtliche lokalen Kontakte wurden von den Kollegen Rios, der Stadtverwaltung aufgenommen.“
Für Jacarezinho in der Zehn-Millionen-Stadt Rio hat Bauhaus auf Einladung der Präfektur seit 2000 das Modellprojekt Celula Urbana, städtische Zelle, entworfen. Die Grundidee auch der folgenden Bauhaus-Projekte – Slumbewohner aus ihrer Isolation befreien, sie in das städtische Leben integrieren, Armuts-und Elendszonen Rios aufwerten. Denn Jacarezinho mit rund hunderttausend Bewohnern liegt fern der berühmten Strandstadtteile Copacabana und Ipanema in der sogenannten Faixa de Gaza, Rios Gazastreifen, einer großen Favela-Region: Gestank, Enge, Ratten, Matsch und Müll – buntes, exotisches Menschengewimmel in Gassenlabyrinthen mit Bretterbuden, Backsteinkaten, sogar zweistöckigen Häusern, ähnlich Kalkutta oder Nairobi. Alles provisorisch und illegal, gegen jegliche Bauvorschriften errichtet. Täglich Schießereien, Feuergefechte zwischen rivalisierenden Banditenmilizen, zudem Schußwechsel mit der Polizei. In Brasilien werden jährlich über 45000 Menschen getötet – laut UNO mehr als im Irakkrieg.
Der kastenförmige Nucleus – mitten in einem nach Bauhausentwürfen bereits teilweise entkernten, sanierten Modellbereich von Jacarezinho – soll kultureller Treffpunkt von Jacarezinho werden. Gedacht ist an Kurse für Medientechniker und Fotografen, an Konzerte und sogar Ballett.
Gleich neben dem Nucleus sollen nach Bauhausideen ein neuer Favelaeingang mit Fußgängerbrücke, ein Internationales Zentrum für Projekte in Armutsgebieten entstehen – außerdem Werkstätten für Mode und Design. Laut Bauhausdirektor Akbar fehlen dafür aber noch das Okay der Stadtverwaltung und die nötigen Gelder. “Ich wäre froh, wenn dieses Projekt 2010 beendet wäre, ein relativ mühseliges Unterfangen. Was wir gemacht haben, war letztlich ein traditioneller Eingriff – Teilsanierung, Entkernung, Neubau sozialer Infrastruktur. Wir haben einen Modellbereich aus dem Favela-Kontext herausgeschält. Unsere Position ist – diese Orte nicht abreißen – denn inzwischen bestehen viele Metropolen der Welt bis zu fünfzig Prozent aus solchen Quartieren. Die muß man zu echten Stadtvierteln umgestalten. Wo immer man auf der Welt mit der Stadt, der Politik zusammenarbeitet, kann man natürlich auch mißbraucht werden.“ Denn Akbar sieht das Risiko, mit dem Bauhaus-Projekt ungewollt an Sozialkosmetik, „Schönheitsreparaturen“ teilzunehmen. Überall auf der Welt sei die Ignoranz der Politik in Bezug auf städtische Problemgebiete massiv, gebe es für derartige Slumprojekte lediglich sehr schwache, kleine Lobbygruppen – belächelt von den Eliten, den Wohlhabenden.“
Brasilienweit wachsen die Slums rascher denn je, in Städten wie Rio und Sao Paulo um mehr als zehn Prozent jährlich. Wächst die arme, verelendete Bevölkerung pro Jahr um über vier Prozent.
Mit dem Jacarezinho-Projekt begann Bauhaus im Frühjahr 2000:“Der fremde Blick ist manchmal gut, und sogar, daß man die Sprache nicht versteht. Wir sind mit Künstlern, Architekten in das Gebiet gegangen – ohne Entwürfe, haben drei Wochen dort gelebt, mit einfachen Interaktionen angefangen, ein Internetcafè aufgebaut. Und wir haben eine öffentliche Diskussion angezettelt: Was machen eigentlich die Universitäten, warum befassen die sich nicht mit dem Phänomen Favela? Wir haben betont – alle künftigen Juristen, Architekten, Mediziner müßten darüber eine Art Prüfung ablegen, zeitweise in Favelas arbeiten. Wenn Millionen von Menschen in diesen Quartieren wohnen, ist es höchste Zeit, daß sich die Architekten etwas von ihrem Starallüren-Ambiente verabschieden, sich sozialen Fragen widmen. Bei den Architekturstudenten in Kairo, Teheran oder Rio findet man beste Entwürfe – alles Kopien der Stararchitekten dieser Welt. Doch mit der eigenen Stadt hat man sich kaum auseinandergesetzt!“ Auch den internationalen Geldgebern, darunter der Weltbank und der EU, wirft Akbar Ignoranz, fehlende Konsequenz vor, wird erfrischend politisch unkorrekt:“Man redet von Armutsbekämpfung, Mindeststandards – doch Projekte werden oft nur zwei, drei Jahre unterstützt, zudem aus rein politischen Gründen, geopolitischen Aspekten. Man muß mit den Partnerländern, städtischen Autoritäten streng und hart verhandeln, klar und deutlich Tacheles reden, Probleme offen ansprechen - Demokratie, echte Armutsbekämpfung, Bildung für die Unterprivilegierten einfordern. Andernfalls akzeptieren wir die Ignoranz der dortigen Autoritäten, deren Politik gegenüber dem eigenen Volk, der eigenen Stadt. Und das sind Dinge, die mich manchmal sehr, sehr nerven.“
Kurz zuvor war der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Wohnung, der indische Architekt Miloon Kothari in Brasilien, hatte der stramm neoliberalen Lula-Regierung die Leviten gelesen. Das Menschenrecht auf eine angemessene Wohnung werde deutlich verletzt, das Wohnungsproblem müsse nationale Notstandsaufgabe werden – internationale Finanzhilfe brauche Brasilien dafür nicht. Die Lage in den Slums sei erschütternd.
Bauhaus-Direktor Akbar sieht es ähnlich:“Man kann Favelas mit relativ geringen Investitionen instandsetzen, Selbsthilfe mobilisieren – muß das aber politisch wollen. Und man muß die Partnerländern auffordern: Ihr selber müßt Ideen entwickeln, euch um eure eigenen Leute kümmern - und nicht die ganze Zeit sagen, Geberländer, Geld her! Es wird ja ständig nur nach Geld gefragt, das ist das Interessante. Doch mit Geld löst man diese Probleme nicht, es geht um mehr.“ Kaum zu glauben, der Bauhaus-Chef, selber aus der Dritten Welt, wagt sich an ein auch von sogenannten Progressiven Deutschlands streng gehütetes Tabu, die fast durchweg hausgemachten Probleme in Ländern wie Brasilien. Und er schmeißt nicht, wie allgemein üblich, arme Länder und ihre stinkreichen, geldgierigen Machteliten in einen Topf, die sich gewöhnlich „Entwicklungshilfe“ skrupellos aneignen. „Ein Teil der Infrastruktur jener Elitenherrschaft“, so beobachtet Akbar auch in Brasilien, „wird durch die Armen getragen – die machen denen oben den Dreck weg, als Dienstmädchen, Müllsammler, werden entsprechend übel behandelt.“
Und Dienstmädchen, Hausdienerinnen sind die kopfstärkste Berufsgruppe des Tropenlandes – nicht zufällig kommt sie gerade jetzt in Deutschland bei Betuchten wieder in Mode. In den Favelas haust die spottbillige Arbeitskraftreserve der Eliten, sagt Rios Wirtschaftsexperte Marcelo Neri – wer in Jacarezinho einen Job ergattern konnte, verdient gemäß neuesten Studien pro Stunde umgerechnet fünfzig Cents. Und nur weil Brasiliens Unternehmer ihren Beschäftigten sehr oft bestenfalls Hungerlöhne zahlen, in Europa völlig unakzeptable, ungesunde, hochgefährliche Produktionsbedingungen beibehalten, brutalstes Sozialdumping betreiben, sind Kosten möglich, die erfolgreiches Konkurrieren auf Märkten wie in Deutschland ermöglichen. Doch Sozialdumping – siehe die Verlagerung deutscher Fertigung in Billigstlohnländer – wird inzwischen auch in Deutschland als völlig normal angesehen. Die sozialen Kosten sieht man in Slums wie Jacarezinho.

Klaus | 25.08.04 04:45 | Permalink