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Kindheitstraumata - gestörtes Erwachsenensein

Die folgende Rezension ist meinem Freund Jochen gewidmet.
Rezension: Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher, Psychosozial-Verlag, 1997, Gießen, ISBN 3-930096-58-7, 236 S.

von Anne Allex

S. Chamberlain befasst sich mit einem weitgehend bis in die heutige Zeit hinein tabuisierten Thema: dem Beitrag der Mütter während der Zeit des Nationalsozialismus zur Erziehung von „willfähigen Vollstreckern“ (Daniel Jonah Goldhagen). Nach der Lektüre des Buches wird erschreckend deutlich: "Vollstreckt" wurde nicht erst in den Institutionen wie Kindergarten, Schule oder Hintlerjugend, sondern bereits seit der Stunde der Geburt, freiwillig, aktiv und mit verheerenden Folgen bis zum heutigen Tage. Scheinbar unbekannt in der Öffentlichkeit ist die Tatsache, dass es durchaus erziehungstheoretische Grundlagen für die frühkindliche nationalsozialistische Erziehung von Kindern ab dem Säuglingsalter gab. Diese „Erziehung“ bereitete die Aktivitäten der Kinder in der Hitlerjugend und beim Bund deutscher Mädchen vor. Das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von der Ärztin Haarer erreichte Millionenauflage. Es war für viele Familien während des Nationalsozialismus und danach die Richtschnur im Umgang mit Babys und Kleinkindern, wie Tilmann Moser von der Süddeutschen Zeitung feststellte. Die letzte Auflage dieses Buches erschien 1986.

"Jedes Kind ist eine Schlacht", sagte Hitler 1934 vor der NS-Frauenschaft. Wenig vorstellbar scheint zunächst, wie sich militaristischer Drill bereits in der Säuglingserziehung niederschlagen kann. Hierzu gehören Versagung körperlicher Zuwendung und des liebevollen, zärtlichen Miteinanders sowie das Nichtgewähren von Schutz und Trost.

Statt intensiver Zuwendung wird die Säuglingserziehung nach Haarer in den ersten Lebensstunden geprägt durch die Forderung der „Abwendung“ der Mutter vom Kind. „Folgt man Haarer, dann wird das gesunde Neugeborene, sobald es abgenabelt ist, in ein Tuch gehüllt, „zur Seite gelegt“ und später, nachdem die Mutter „versorgt“ ist, gebadet und angezogen. Danach soll es möglichst in einem Raum für sich allein sein und nach 24 Stunden der Mutter zum ersten Mal zum Stillen „gereicht“ werden.“ (S. 23)

Den barbarischen "Erziehungs"-Vorstellungen von Haarer und Hitler stellt Chamberlain in ihrem Buch immer wieder Erkenntnisse aus der Säuglingsforschung gegenüber. Daraus werden die verheerenden (und beabsichtigten) Folgen der Nazi-Erziehung deutlich: Erziehung durch Bindungs- und Beziehungslosigkeit zur Bindungs- und Beziehungsunfähigkeit. Bindung zwischen Mutter (und Vater sowieso) und Kind soll demnach vom ersten Tag des Lebens an systematisch erschwert und zerstört werden.

Das wichtigste Signal, das das Baby aussenden kann, das Weinen, wird bei Haarer ausschließlich als „Schreien“ oder „Geschrei“ bezeichnet. Sich mit dem Baby zu befassen, sei „sinnlos“, es ginge in der Regel nur um „Kraftproben“, das Baby soll etwas begreifen, „still“ sein. Das „Schreien“ des Kindes – vorausgesetzt, der Mutter sind keine „Pflegefehler“ in Form von falsch zubereiteter Nahrung, falscher Kleidung, nicht ausreichender Reinigung des Babies oder ähnlichem unterlaufen – darf „nicht bekämpft“ werden durch Herumtragen, Wiegen, Stillen usw. „Dem Baby, das so behandelt wird, wird vom Beginn seines Lebens an Körperkontaktverlustangst zugefügt. Seine Körperkontaktverlustangst aber ist Todesangst (vgl. Renggli, Angst und Geborgenheit. Soziokulturelle Folgen der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr. Reinbek, Rowohlt, 1976, S.). Dies gilt ebenso für das „verweigerte Antlitz“ (S. 36) und für die „Zerstörung des Dialogs“ (S. 41). Praktische Höhepunkte fanden/ finden Haarers Erziehungsempfehlungen in respektlosen körperlichen oder psychischen Übergriffen aller Art auf Kinder.

Folgt man der haarerschen Aufzuchtlogik, so erscheint es, als ob dem kompetenten Säugling, der als autonom und äußerst widerstandsfähig auf die Welt gekommen ist, gerade diese Eigenschaften systematisch abgewöhnt werden sollen. Denn in den angeführten Erziehungspraktiken wird der Entwicklung des Individuums jeder Raum genommen. Politisch betrachtet, führt dies zur widerspruchslosen Anpassung, Vereinheitlichung, Formierbarkeit der Einzelnen und ihrer letztendlichen Vermassung zu.

So schreibt Chamberlain in Interpretation von Haarers Erziehungsempfehlungen: „Spontanes Leben darf sich nicht ereignen. Es wird kontrolliert und reglementiert. Alles was geschehen muss, darf nur auf bestimmte Worte oder Signale der Mutter hin erfolgen und zu Zeiten, die sie festsetzt. Zu der Tatsache, dass dem Baby der Kontakt zum eigenen Körper nicht zugestanden wird, kommt nun auch noch, dass es über diesen Körper und seine Funktionen nicht verfügen darf.“ Zur „Aufzucht“ gehört das „Töpfchentraining“, „denn es sei die Pflicht des Babies in den Topf zu machen, wenn die Mutter dies will (Haarer, J.: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, München, Berlin, 1938, S. 257).“

Haarers Forderung, die Babies zu nur zu festgelegten Zeiten zu füttern und sie zwischendrin "unerbittlich" schreien zu lassen, stellt Chamberlain wieder die Erkenntnisse der Säuglingsforschung (Hier: "Tagebuch des Babies Joey, Stern 1991) gegenüber: „Haarer präferiert, die Babies zu festgelegten Zeiten zu füttern und sie zwischendrin schreien zu lassen.“ Dazu bemerkt Chamberlain mit Verweis auf Stern 1991, S. 49f. „Das Baby, das zwischen den festgelegten Essenszeiten lange vor Hunger schreit, erfährt überwiegend Schmerz, extreme Spannung, Explodieren ins Leere hinein. Es muss sich häufig, möglicherweise sogar ständig, in einem Zustand unendlicher Verwirrung befinden, da das, was es als eigentlich Zuverlässigstes mit auf die Welt bringt, nämlich sein genetisches Programm, sich immer wieder als nicht funktionierend erweist. Deshalb kann es nicht nur kein Vertrauen zur Mutter und in die Welt entwickeln, es lernt auch, sich selber abgrundtief zu misstrauen (S. 69).“

Ein Baby, das immer wieder ein Nichteingehen auf seine Signale erlebt, „hat keine Chance, durch die Signale, die ihm zur Verfügung stehen, die Mutter „zu erschaffen“, die es hält, begrenzt und immer wieder neu herstellt, wenn es in der Weite der Welt verlorengegangen ist. Da es nie die Erfahrung macht, dass es sich „sinnvoll“ verhalten kann, bleibt es immer unfertig, in einem ganz umfassenden Sinn ein Nicht-zu-Ende-Geborenes“ (Vgl. z.B. Theweleit, K.: Männerphantasien, Bd. 2.; Basel, Frankfurt am Main (Stroemfeld/ Roter Stern), 1987, S. 288 ff.)

„Es hat auch selten oder nie erfahren, dass seine eigene Verfassung und seine Botschaften in Übereinstimmung mit den Wahrnehmungen der Mutter zu bringen sind, mehr und mehr wird es selbst zu verzerrten Wahrnehmungen neigen. Und es hat gelernt, dass sein innerer Kompass nicht stimmt; in der von jeher unsicheren Welt, wird es auch als erwachsener Mensch orientierungslos sein und anfällig für „richtungsweisende“ Manipulationen, das heißt für die Ausrichtung nach vorgegebenen, fremden Zielen und Zwecken (S. 70).“

Chamberlain führt in ihrem Buch weitere Beispiele der Einschränkung von Babies und Kleinkindern an wie z. B. das „Laufställchen“, dass die Neugier auf die Welt verhindert (S. 75).“ Kleinkinder können ihre Umgebung nicht selbst studieren und sich die Umwelt durch eigenes Sammeln von Erfahrungen aneignen. Sie erinnert an Drohungen der Eltern und Geschwister wie „Wenn Du nicht dies machst, dann setzt es was“, die Kindern Angst machen und sie in ihrem Handeln begrenzen sollen. Sie kritisiert die Tabuisierung des „Petzens“, das für Kinder schmerzvolle physische, psychische mitunter sogar tödliche Folgen haben kann..

Überdies wurden durch Haarer Zärtlichkeiten, Körpernähe und Liebkosungen des Kindes als überflüssig herausgestellt. Kinder erfahren auf dieser Weise eine ständige Zurückweisung durch ihre Eltern. „Das Kind gerät so in einen Teufelkreis: Verweigerte Nähe führt zum Klammern, das Klammern provoziert Zurückweisung und weitere Verweigerung, was wiederum die ungestellte Sehnsucht des Kindes nach Nähe größer werden lässt. So wird das Kind zunehmend anfällig für unheilvolle Symbiosen (S. 133).

Die Folgen dieser Erziehung sind bis heute zu spüren. Denn so lange, wie der Diksurs über die Rolle der Mütter in der Nazizeit tabuisiert wird, können Verletzungen nicht heilen, wird Haarers Pädagogik in so mancher Familie von Generation zu Generation weitergelebt, bekommen die Opfer der traumatischen Kindheit äußerst schwer professionelle Hilfe.
All dies sind durchaus kein Spezifika der BRD. (Auch) In der DDR wurden solche Methoden angewendet. Etliche heute Erwachsene berichten, dass alle Kinder in den Kindergärten vor dem Mittagsschlaf zur Toilette gehen mussten. Ihnen wurde untersagt, bei eventuellem Bedürfnis während des Mittagsschlafs die Toilette aufzusuchen. Dies führte regelmäßig dazu, dass eines der Kinder ins Bett machte. Die Erzieherin erzählte das Missgeschick anschließend allen anderen Kindern und abends beim Abholen auch allen Eltern, um die betroffenen Kinder öffentlich zu bloßzustellen.

In der Alltagssprache begegnet gegenwärtig noch oft der von Haarer intendierte Begriff der „Aufzucht“. Ausdruck dessen sind z.B. exorbitante Säuberungsarien am Kind, dessen Bekleidung und in den Wohnungen. Viele können sich an Prügel erinnern, wenn ihre Kleidung eher als erwartet schmutzig wurde oder an dauerndes Gewaschenwerden.

Ein anderer Ausdruck von Haarers Erziehungsempfehlungen ist der Satz „Ein Junge weint nicht!“. Im Nationalsozialismus wurde zur Maxime: „Ein deutsches Kind weint nicht!“(S. 157). Nach Jäckle, R.: „Pflicht zur Gesundheit und zur „Ausmerze“. Medizin im Dienst des Regimes. Dachauer Hefte 4, 1988, S. 62 sollen nach dem in der Hitlerjugend herausgegeben Gesundheitsbuch: „Jeder Deutsche hat die Pflicht, so zu leben, dass er gesund und arbeitsfähig bleibt. Krankheit ist ein Versagen... Der Kranke ist nicht zu bemitleiden. Der Arzt ist nicht der barmherzige Samariter, sondern Mitkämpfer des Kranken...Die Gesundheit wird ihm nicht geschenkt...,sondern er muss sich das, was er durch seine schlechte Lebensführung verloren hat, selbst wieder erkämpfen.“ Zur Folge hatte dies, das in Jugendlagern und zu Hause Kinder häufig derartig krank wurden, dass sie erst kurz vor dem Tode in ärztliche Behandlung gelangten.

Den grausigen Höhepunkt erreichen S. Chamberlains Schildungen der nationalsozialistischen Erziehung kleiner Jungen zu Kameradschaft und Tapferkeit, nämlich die Erziehung zum inneren Todsein und der Todesbereitschaft durch das eigene Tötenmüssen des geliebten Tieres oder auch vom Zurücklassenmüssen dessen, dass es getötet wird. Dies geschah nach dem Leitsatz „Wer sein Volk liebt, beweist es einzig durch die Opfer, die er für dieses zu bringen bereit ist“ (Hitler, A.: Mein Kampf, München (Zentralverlag der NSDAP), 1938, S. 474). Ein Kind nahm an einem Sommerlager für künftige Hitlerjugendführer teil. Nach dem ersten Morgenappell durfte sich jeder Junge ein kleines Angorakaninchen aussuchen, dass er für die Zeit des Sommerlagers bei sich behielt, fütterte und mit ihm spielte. Beim Abschlussappell erhielten die Jungen die von ihnen heiß begehrten HJ-Dolche. Anschließend wurde den Kindern befohlen als Beweis ihrer Männlichkeit, ihren Kaninchen die Kehle durchzuschneiden. (S. 159 ff.)

Mütter unterbanden die Ansprache mit „Mama“ oder „Mutti“ durch ihre Kinder, um nicht in der Öffentlichkeit einer „falschen Erziehung“ verdächtigt zu werden. Besonders in Westdeutschland erzählen heute Erwachsene, dass ihnen noch heute nicht der Gedanke kommen würde ihrer Mütter mit „Mutti“ oder „Mama“ anzureden, da die Beziehungen weder innig noch herzlich gewesen sind.

Durch die Versperrung von körperlichen, seelischen und stimmlichen Kommuniaktionsinteraktionen sowie dem Blickkontakt der Mutter gegenüber ihrem Baby und die distanzierte und grausame Erziehung im Kindersalter entwickeln sich Menschen, die Schwierigkeiten haben ein eigenes Selbstvertrauen auszuprägen oder dies überhaupt nicht können, die in späteren Jahren zur Körper- und Lustfeindlichkeit neigen, die unfähig sind zu Bindungen, Beziehungen oder zu Nähe, oder Menschen, die nicht in der Lage sind, Respekt vor anderen Menschen zu entwickeln.

Sigrid Chamberlain hat ein ausgezeichnetes Buch geschrieben. Es wird allen Menschen helfen, die die Ursprünge ihrer Geschichte suchen, ihr Leben besser zu verstehen. Ihr Buch gibt eine Antwort auf fragwürdige Erziehungsmethoden, die vielen Menschen zwar gegen den Strich gehen, die aber zunächst im alltäglichen Leben alternativlos erscheinen, da sie durch ältere Generationen mitgetragen werden. Das Verständnis des Themas und die Aufarbeitung der Tabuisierung der deutschen Mütter als Mittäterinnen ist ein wichtiger Punkt bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Er war bisher defizitär und spielt eine wichtige Rolle bei der Ausprägung des antifaschistischen Denkens.

In der heutigen Zeit, die Eltern aller Altersgruppen eine ungeheuerlich beschleunigte und intensivierte Lebensweise abverlangt, stellt sich durch die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Erziehungsmethodik die Frage neu, wie es gelingen kann, wieder ausreichend Zeit für das liebevolle Miteinanderleben mit Säuglingen, Kleinstkindern und Kindern sowie ihre ganzheitliche Erziehung zu gewinnen.

natter | 21.04.04 21:48 | Permalink

Kommentare

Moritz Schreber ist der schwarzer Pädagogik durch Katharine Rutschky bezichtigt worden und ich habe seine Methoden zu rehabilitiert versucht(siehe mein Buch, Seelenmord und Psychiatrie Zur Rehabilitierung Schrebers). Es gibt eine fragliche Stelle bei Moritz Schreber über die Unterdrückung des Weinens bzw. Schreiens im alter von 6 Monaten. Die positiven Aspekte der Schreber'schen Kindererziehung sind verunglift worden.

Ich frage: hat Haarer Moritz Schreber gelesen?

Prof. Lothane

Verfasst von: Prof. Lothane | 10.01.09 16:04

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