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Zeitschriften im Buchformat mit Schwerpunktthema können was feines sein. Vorausgesetzt das Thema ist interessant, dann kann die ganze Sache eine Tiefe bekommen, die im Format zwischen Zeitungsartikel und Sachbuch liegt.
Die neue testcard, Untertitel: Beiträge zur Popgeschichte, mit ihrem Schwerpunktthema “linke Mythen” konnte mich schnell begeistern, noch bevor ich alle Artikel durch hatte. Auf ca. 200 Seiten kommen 33 Beiträge zum Thema, und dazu noch der mediale Besprechungsteil mit ca. 200 Tonträgern (S. 207-261) und ca. 70 Büchern (S. 262-302) dazu.
Im Schwerpunktthema geht es (natürlich auch) um Ton Steine Scherben mit einer Gesprächsrunde zwischen dem testcard-Redakteur Martin Büsser und den beiden Scherben-Drummern Funky Götzner und Wolfgang Seidel.
Befremdlich schien mir der Artikel von Frank Schuster, der sich darüber beklagte, daß die Beatles und die Stones eigentlich nicht so richtig revolutionär gewesen seien, und da frage ich mich, wie der Mensch darauf kommt das anzunehmen, daß Mainstream irgendwie revolutionär sein könnte? Aber wer darüber verwundert ist und in einer Anmerkung schreibt, das der (Gangster?)Rapper P.Diddy auf dem “United we stand”-Konzert nach dem 11.9. einen “Anarchostern”(?) auf dem T-Shirt hat und eine US-Flagge in der Hand, der muß dann schon hinsichtlich politischer Aussagen von Popstars etwas verwirrt sein. Denn, wenngleich die Linke Anfang der 70er Jahre durchaus gerne Beatles, Stones, Dylan etc. hörte, so war doch deren politische Unglaubwürdigkeit längst festgestellt (und nicht umsonst gab es Ton Steine Scherben)
Aber auch derartige kleine Schnitzer machen diese testcard-Ausgabe durchaus spannend. Daneben finden sich noch für den Musikbereich Artikel zu Black Panther und Soulmusic, Reggae in Deutschland, Popmusik in der DDR, Punk, Hardcore, Folk, Avantgarde Musik der 60er und 70er und die 80er Jahre-Revivals.
Ferner wird in einem Interview mit Irmgard Möller der RAF-Mythos gepflegt, und Andreas Baader zum Frauenversteher deklariert. Außerdem geht es um RAF und Film, RAF und Literatur. Weitere Themen sind Freie Radios, Wiener Aktionismus, Globalisierung, die “letzten Linken” in Hollywood und, und, und.
Selbst, wenn der eine oder andere Artikel nicht dem eigenen Geschmack oder der eigenen Vorstellung entspricht, bleibt das Gesamtunterfangen spannend. Dies resultiert sicher auch aus einer gewissen Unbefangenheit mit der hier die Themen zusammengetragen wurden. Und während sich im Möller-Interview noch über den Holger Meins-Film “Starbuk” von Gerd Conradt als Eso-Film lustiggemacht wird, gibt Conradt seinerseits die RAF-kontra-Staat-Version zum Besten.
Zum Schmunzeln brachte mich die dokumentierte Gesprächsrunde zum Thema “Linke Verlage” mit nunmehr drei Generationen von Bücher-MacherInnen. Wenn z.B. Jörg Sundermeier vom Berliner Verbrecher Verlag über sein erstes Buchprojekt berichtet, in dem aus Kostengründen der Satz ziemlich klein gemacht worden ist, und Jörg Schröder vom März Verlag dies für sehr wichtig hält: “Je kleiner, desto besser. Die Leute lesen dann ja intensiver...”, und das ganze dann mit Adorno noch fundamentiert wurde, warum dieser so ‚schwierig‘ schreiben würde, weil die Leute dann eben genauer lesen würden, dann weiß ich auch, warum der Satz in testcard so Seniorenunfreundlich ist.
Als Kritik könnte angeführt werden, daß die testcard-Linke vor der Anarchie halt macht, also nur Staatserobernde Linke berücksichtigt werden, und das obwohl dieses Heft sehr gut unter dem Motto einer der großen Anarchistin hätte stehen können, nämlich Emma Goldman, die da sinngemäß sagte: Eine Revolution, auf der ich nicht tanzen kann, ist nicht meine Revolution.
Und so werden wohl weiterhin die Mythen gepflegt, anstatt endlich die entsprechenden Korrekturen vorzunehmen (wofür dann allerdings nicht die testcard zur Verantwortung gezogen werden kann)
Aber ganz im Ernst: testcard # 12 lohnt sich.
Jochen Knoblauch
Testcard # 12: Linke Mythen
Ventil Verlang Mainz 2003
302 Seiten / 14,50 Euro
| 23.12.03 16:22 | Permalink